Korallen haben die merkwürdigsten Formen: Manche sehen aus wie überdimensionale Kohlköpfe, andere wie Blumen, einige sogar wie Gehirne. „Es ist nicht schwer, Korallenarten zu erraten. So wie sie aussehen, heißen sie meistens auch“, sagt Carrie und zeigt durch den verglasten Boden des Boots auf ein filigran verästeltes, lilafarbenes Gewächs. „Das zum Beispiel ist eine Lavendel-Koralle.“
Ich staune. Dass die Unterwasserwelt mich so sehr faszinieren würde, hätte ich nicht gedacht. Aber ich hatte auch nicht erwartet, dass der Meeresboden nur hundert Meter vom Strand entfernt so bunt und voller Leben sein würde. Mehr als 200 Korallenarten und 500 Fischarten sind im Ningaloo-Riff vor der Westküste Australiens zuhause. Das 250 Kilometer lange Riff rund 1200 Kilometer nördlich von Perth gehört zum UNESCO-Welterbe.
Drei Nächte verbringen Alex und ich auf einem Campingplatz in dem Touristenort Coral Bay am Ningaloo-Riff. Das 200-Einwohner-Dorf ist bekannt dafür, dass Walhaie von März bis Anfang Juli in der Bucht schwimmen. Eine Bootstour zu den größten Fischen der Erde – Walhaie können bis zu 18 Meter lang und 30 Tonnen schwer werden – übersteigt unser Budget aber leider bei Weitem.
Unser einjähriges Reisejubiläum feiern wir mit einer Fahrt auf dem Glasbodenboot. Die Sonne glitzert, das Boot schaukelt sanft auf den Wellen. In Schrittgeschwindigkeit steuert Donnell, Carries Kollege, über den Korallenwald. Eine Gruppe Fische schwimmt unter dem Glas hindurch: silberne Großkopfschnapper, die auf Futter hoffen. Carrie holt einen Eimer voll Fischfutter aus der Kabine neben dem Steuer und lässt jeden Passagier einmal hineingreifen. Wir werfen die braunen Pellets ins Meer, die Schnapper schnappen sofort nach den sinkenden Pressteilchen.
Auch der Feuerfisch lebt im Ningaloo-Riff, weiß Donnell. „Sein Gift bringt einen zwar nicht um“, sagt er. „Aber es tut so weh, dass man am liebsten sterben würde.“ Beim Schnorcheln und Schwimmen sollen wir deshalb vorsichtig sein, rät er, bevor er uns nahe dem Ufer absetzt. Das sind wir sowieso, denn in dem warmen Wasser am Strand graben sich gerne Rochen in den Sand ein.
Zusammen mit den anderen Ausflugsteilnehmern waten Alex und ich die letzten Meter zurück zum Ufer. Der Strand ist voller Familien, aber auch ältere Leute und junge Backpacker liegen auf ihren Handtüchern in der Sonne. Auch wir bleiben noch eine Weile auf dem weißen Sand sitzen, gehen aber in den Schatten. Unter einem der offenen Holzpavillons, die in regelmäßigen Abständen am Strand stehen, treffen wir Lisa und Dennis. Die zwei Deutschen haben sich vor ein paar Wochen einen Van gekauft und reisen als Working-Holiday-Touristen durch Australien.
Die beiden haben ebenfalls ihre Jobs gekündigt, um miteinander um die Welt zu reisen. Dennis war bis vor Kurzem Polizist, Lisa in der Luftfahrtbranche tätig. Wir erzählen ihnen von den vergangenen Monaten, sie uns von ihren Reiseplänen: Nach Australien soll es weiter nach Neuseeland gehen, anschließend nach Südamerika, nach Patagonien.
Abends lassen wir die vergangenen zwölf Monate nochmals zu zweit Revue passieren. Wir gönnen uns ein Abendessen im Café-Restaurant des Campingplatzes. Seit wir Südostasien verlassen haben, gehen wir nur noch selten essen. Australien ist vergleichsweise teuer. Um Geld zu sparen, kochen wir meist selbst. Doch heute, ein Jahr nach unserem Aufbruch aus Bad Wildbad, haben wir Grund zu feiern.
Rund 28.000 Kilometer haben wir hinter uns gelegt, und das ohne zu fliegen. In 15 Ländern haben wir neue Freunde gewonnen, interessante Städte erkundet, atemberaubende Landschaften gesehen. Wir haben eine Ziegengeburt und einen Tropensturm der höchsten Stufe miterlebt, sind mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren, haben Alex‘ Familie in Sibirien besucht, waren auf der Großen Mauer und im Schloss von Graf Dracula. Mit einem Containerschiff sind wir von Malaysia nach Australien gefahren, mit dem nächsten wollen wir nach Neuseeland übersetzen.
Eine Kellnerin bringt unser Essen: Falafel und griechischen Salat, zum Nachtisch Sticky-Date-Pudding mit Vanilleeis und Sahne. Um uns herum ist jeder Platz belegt. Es gibt nur wenige Tische, und alle sind im Freien. Die Abendluft ist lau und salzig, es riecht nach Fish’n’Chips. Wir müssen laut reden, um uns nicht in den Gesprächen unserer Sitznachbarn zu verlieren. „Weißt du noch, als wir mit Nikoletta und Gyuri im Garten Pálinka getrunken haben?“ Unsere Zeit in Ungarn kommt uns vor, als wäre sie nicht elf Monate, sondern drei Jahre her.
Wir erinnern uns an die verschiedenen Unterkünfte, in denen wir schon übernachtet haben, an lustige und an traurige Momente. In Ho-Chi-Minh-Stadt, im Süden Vietnams, war es für mich besonders schwer, die Armut der Bewohner und die Umweltverschmutzung zu ertragen. Der Fluss, an dem wir gewohnt haben, war schwarz, der Plastikmüll stapelte sich bis an die Wasseroberfläche.
Alles in allem hatten wir aber viel Glück auf dieser Reise – sowohl mit den Menschen, die wir getroffen haben, als auch mit der Gesundheit. Ernsthaft krank geworden sind wir nie, und auch sonst hatten wir so gut wie keine negativen Erfahrungen. Ein einziges Mal ist in Rumänien ein Bus nicht gekommen, für den wir Plätze reserviert hatten. Auf Märkten oder für eine Taxifahrt haben wir ab und zu einen zu hohen Preis bezahlt. Wir sind beide nicht gut im Handeln.
Manchmal hatten wir unterwegs auch mit uns selbst zu hadern. Reisen ist oft anstrengend. Wenn man stundenlang in einem Bus sitzt, in dem die Luft schlecht ist und die Musik laut, zehrt das an den Nerven. Auch die persönlichen Probleme, die wir in Deutschland hatten, sind nicht plötzlich verschwunden. Im Gegenteil: Jetzt, wo wir mehr Zeit haben, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen, drängen sie sich viel öfter in den Vordergrund.
Das hat aber auch Vorteile. In den vergangenen zwölf Monate haben wir beide viel dazu gelernt, uns selbst und einander besser kennengelernt. „Ich bin so froh, dass wir noch mindestens ein Jahr unterwegs sind“, sage ich zu Alex. „Wir sind echt ein gutes Team geworden!“ „Auf ein schönes zweites Jahr!“, sagt Alex und stößt sein Glas an meins. „Auf ein schönes zweites Jahr!“, sage ich. Wir grinsen.