Eine Familie auf Zeit

Und plötzlich stehen wir mit den drei Kindern alleine im Garten. Nikoletta und Gyuri, unsere Couchsurfing-Gastgeber, sind nach oben in die Wohnung gegangen, um Brot, Käse, Wurst und Gemüse fürs Abendessen zu holen. Alex und ich schauen uns unsicher an. Wir sind in Szeged, einer Stadt im Süden Ungarns. Das einzige ungarische Wort, das wir kennen, ist „köszönöm“: danke.

Auch der neunjährige Donny und der vierjährige Barnabás sind unsicher. Was sollen sie mit den fremden Erwachsenen anfangen? Nur die kleine Panna, eineinhalb Jahre alt und strohblond, spielt ungerührt weiter im Sandkasten. Sie quietscht und lacht, während sie die Gießkanne über den bunten Förmchen ausleert. Der Zwang zum Smalltalk, zur Interaktion, ist ihr noch völlig unbekannt.

Nach zwei Minuten Stille nimmt Donny, der dunkelhaarige Nachbarsjunge, seinen ganzen Mut zusammen und stellt Alex eine Frage. Der lächelt freundlich und zuckt die Schultern: „Sorry, I don’t understand.“ Aber Englisch bringt uns an diesem Abend, in diesem Garten, auch nicht weiter. Also nehme ich einen der beiden rosaroten Hula-Hoop-Reifen in die Hand. Bei dem Versuch, ihn um meine Hüften zu drehen, sehe ich aus wie ein Storch beim Seniorenfitness. Zumindest fühle ich mich genauso. Donny lacht, ich lache. Alex ist als Nächster dran. Er hat den Dreh schnell raus, lässt den Reifen elegant von seinem Bauch zu den Knien rotieren. Donny nickt anerkennend, dann kickt er Alex einen Fußball zu. Sport und Spiele: Wir haben einen Weg gefunden, ohne Worte miteinander zu kommunizieren. Trotzdem sind wir erleichtert, als Niki und Gyuri zurückkommen. „Können wir beim Tischdecken helfen?“

Vier Tage und drei Nächte verbringen wir bei der Familie. Für Alex ist es das erste Mal Couchsurfing. Wer sich auf der Webseite des Netzwerks anmeldet, kann bei Mitgliedern übernachten – oder andere bei sich aufnehmen. Im Vordergrund steht dabei der gegenseitige Austausch: Die Reisenden lernen Land und Leute besser kennen, die Einheimischen holen die Welt zu sich nach Hause. Völkerverständigung via Internet, könnte man sagen.

Niki (34) und Gyuri (34) haben uns ihr Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt. Dort schlafen wir auf einem ausgeklappten Sofa. Tagsüber verbringen wir die meiste Zeit zu sechst im Garten. Niki nimmt momentan Elternzeit, Gyuri ist Informatiker und arbeitet von zu Hause aus. Im Laufe der Tage erfahren wir viel übereinander und schon nach kurzer Zeit fühlen wir uns als Teil der Familie. Wir gehen zusammen in die Stadt, essen Kuchen und unterhalten uns auf dem Klauzál tér, dem zentralen Platz, während Donny, Barnabás und Panna um uns herumtoben. Bei über 30 Grad schauen wir uns ein Theaterstück in Barnabás‘ Kindergarten an. Die Mädchen und Jungen führen „Piroschka“, Rotkäppchen, auf. Barnabás spielt eine Spinne. Am nächsten Morgen gehen wir zum Markt, trinken Kaffee und essen Langos. Dass die fettigen Krapfen mit saurer Sahne, Käse und Knoblauchsoße zum Frühstück gegessen werden, hätten wir nicht gedacht.

 

Co-Working im Garten (Foto: Nikoletta Kiszely)
Gyuri, Panna, Barnabás, Niki und Mella beim Langos-Frühstück

Ungarn überrascht uns immer wieder. In Szeged zum Beispiel sind an einem Tag wahrscheinlich mehr Radfahrer unterwegs als in Stuttgart in einer ganzen Woche. Auch wir erkunden die Stadt auf den Fahrrädern von Niki und Gyuri, radeln an der Theiß entlang zur Kathedrale, zur Neuen Synagoge und zum Rathaus. Wir überqueren die Belvárosi-Brücke, auf der östlichen Flussseite fahren wir neben einem Bächlein unter Trauerweiden.

 

Sightseeing: Wir fahren an der Kathedrale vorbei …
… zur Neuen Synagoge …
… und auf die östliche Seite der Theiß.

Nach sieben Tagen in Budapest genießen wir es, wieder in der Natur zu sein. Und das, obwohl auch Ungarns Hauptstadt uns überrascht hat. Wir erleben Budapest als einen Ort der Gegensätze, sehen altehrwürdige Villen neben verfallenen Fassaden, Jahrmarkt-Rummel neben Denkmälern, ratternde Baustellen neben ruhigen Parkanlagen. Auf der Margareteninsel, wo Dutzende Jogger morgens und abends ihre Runden drehen, verbringen wir einen Nachmittag lesend. Später fliehen wir vor einem heranziehenden Gewitter. An zwei Abenden schauen wir zu, wie die Sonne hinter den Hügeln von Buda verschwindet, wie um kurz vor 21 Uhr beidseits der Donau die Lichter angehen.

Mehr als 500 Bilder knipsen wir von der Stadt: vom Königspalast, der Matthiaskirche und der Fischerbastei im hügeligen Buda, vom Parlamentsgebäude, der Sankt-Stephans-Basilika und dem Westbahnhof im flachen Pest. Wir probieren Langos und Baumstriezel (Kürtőskalács, wörtlich übersetzt: Schornsteinkuchen), schauen „Solo: A Star War’s Story“ im Kino und planen die Weiterreise.

 

Das Parlamentsgebäude gehört seit 1987 zum Unesco-Weltkulturerbe.
Das Gassengewirr von Pest. Fast 1,7 Millionen Menschen leben in der Hauptstadt Ungarns.
Legostadt? Blick vom Gellértberg auf die Donau
Kleine Blechdosen mit scharfem oder süßem Paprikapulver sind ein beliebtes Mitbringsel für Touristen.
Auf dem Heldenplatz
Vor dem Milleniumsdenkmal auf dem Heldenplatz
Auf der Margaretenbrücke
Faulenzer-Nachmittag auf der Margareteninsel
Kurz vor dem Gewitter
Foto Nr. 236
Abendstimmung an der Donau
Die Fischerbastei
Der Königspalast
Pracht auf 268 Metern Länge

An einem Mittwoch kommen wir in Szeged an. Nach ihrem täglichen Mittagsschlaf begrüßen uns Niki, Barnabás und Panna im Garten. Gyuri lernen wir kurze Zeit später kennen, er war noch einkaufen, hat Brot fürs Abendessen besorgt. Gemeinsam decken wir den Tisch. Mit Pálinka, einem selbstgebrannten Pflaumenschnaps, stoßen wir auf die kommenden Tage an. Bevor wir ins Bett gehen, krabbelt die kleine Panna auf meinen Schoß, drückt mir ein Bilderbuch in die Hand. „Cica!“, ruft sie fröhlich und deutet auf eine Katze. Jetzt können wir immerhin schon zwei ungarische Wörter.

  1. Cica!…das ist definitiv ein wichtiges Wort. Immerhin bedeutet es Katze. Miau 🙂

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