Stolz und Vorurteile

Ob sie in Rumänien Internet haben? Ob es dort sauberes Trinkwasser gebe? Andrea lacht, schüttelt den Kopf. Die 23-jährige Studentin kann noch immer nicht ganz glauben, mit welchen Vorurteilen sie während ihres Erasmus-Aufenthalts in Paris konfrontiert war. Auch wir wurden vor unserem Aufbruch gen Osten gewarnt: Wir sollten lieber auf unsere Sachen aufpassen, die Rumänen seien keine guten Menschen.

Und nun, an einem lauen Abend Anfang Juni, sitzen wir mit drei Rumänen im Garten. Andrea, Razván und Paul haben uns zum Essen eingeladen. Auf dem Tisch steht eine Platte mit sauren Gurken, Zwiebeln, Schweinespeck, Sülze, Mini-Würstchen und Kuhmilchkäse, außerdem Brot, ein Gemüseaufstrich und die unvermeidbare Mămăligă: ein fester Brei aus Maisgrieß, in den wir Schafkäse rühren, solange er noch warm ist. Aber erst einmal, „Noroc!“, stoßen wir mit einem Schluck Pálinka an. Den Pflaumenschnaps, den wir schon aus Ungarn kennen, trinken auch die Rumänen gerne – obwohl sie eine ähnliche Fehde gegen ihre Nachbarn hegen wie die Deutschen gegen die Niederländer.

 

Razváns selbstgebaute Gartenlaube
Rumänisches Abendessen: Wurstplatte, Mămăligă und Pálinka

Der Einfluss Ungarns auf Rumänien macht sich für uns als Außenstehende vor allem kulinarisch bemerkbar. Lángos- und Baumstriezel-Verkaufsstände reihen sich in beiden Ländern an den Straßen. Abgesehen davon nehmen wir Rumänien ganz anders wahr. Die Landschaften und Dörfer wirken ursprünglicher auf uns als in den Ländern, die wir zuvor durchquert haben. Zum ersten Mal auf dieser Reise haben wir ein Gefühl der Fremde, wenngleich wir wissen, dass Rumänien seit 2007 der EU angehört.

Am 2. Juni überqueren wir die Grenze. Um kurz nach 22 Uhr kommen wir am Busbahnhof in Timișoara, im Westen des Landes, an. Mit einer ratternden Straßenbahn ohne Halteknöpfe fahren wir ins Zentrum. Nach einem kurzen Fußweg durch die Dunkelheit kommen wir an unserer Unterkunft an. Während der folgenden vier Tage spazieren wir am Fluss Bega entlang, gehen von der Piața Victoriei zur Piața Unirii, schauen uns die Überreste der Bastion an. Im 18. Jahrhundert war Temeswar, so der deutsche Name Timișoaras, von neun Bastionen umgeben: 1716 eroberte das habsburgische Österreich die Stadt und erweiterte sie zu einer Festung.

Heute ist Timișoara mit rund 320.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes. Eine Studentenstadt, deren Straßencafés stets gut gefüllt sind und die auch Kulturliebhabern etwas bietet: Neben einer Handvoll Museen und verschiedenen Kulturzentren hat Temeswar eine Oper und ein Deutsches Staatstheater. Das Erbe der Habsburger lässt sich darüber hinaus an der Architektur ablesen: Großbürgerliche Wohnpalais in warmen Gelbtönen und Pastellfarben säumen die Piața Victoriei und Unirii, in der historischen Altstadt liegt Kopfsteinpflaster.

 

Der Dom zu Timișoara und die Dreifaltigkeitssäule auf der Piața Unirii
Am Fluss Bega
Straßenkreuzung in Timișoara
Regenschirme über der Strada Alba Iulia
Welt-Pressefoto-Ausstellung 2018 im Kunstmuseum
Die Tauben auf der Piața Victoriei erschrecken nicht einmal mehr, wenn man auf sie zu rennt.
Die Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen am Ende der Piața Victoriei.

Mit der Kapelle Petra, jeder Menge Kuchen und der Welt-Pressefoto-Ausstellung 2018 feiern wir in Timișoara meinen 31. Geburtstag. Einen Tag später laufen wir bei 31 Grad zwei Kilometer weit mit unserem Gepäck zum Bahnhof. Wir haben die Tram knapp verpasst, wollen aber pünktlich ankommen, da wir noch nicht wissen, wo genau der Minibus abfährt, der uns nach Sibiu bringen soll. Eine halbe Stunde und ein Anruf später stellt sich heraus: Der Bus fährt an diesem Tag gar nicht. Wir waren anscheinend die Einzigen, die online reserviert haben. Das Busunternehmen hielt es nur nicht für nötig, uns darüber zu informieren, dass die Fahrt gestrichen wurde. Wir haben Glück: Nur eine halbe Stunde später fährt der Bus eines anderen Unternehmens und hat noch freie Plätze.

Sechseinhalb Stunden dauert die Fahrt durch Rumäniens Wälder und Dörfer, einen guten Teil davon legen wir auf einer Serpentinenstraße zurück. Wir fahren an endlosen Mais- und Getreidefeldern vorbei, an Schafherden und freilaufenden Hühnern, Kirchen mit silbern glänzenden Turmspitzen, niedrigen Häusern mit verschnörkelten Metalltoren. In fast jedem Dorf brüten Störche auf den Strommasten, im Radio läuft „Papa Don’t Preach“, dann „Jenny from the Block“.

In Sibiu holt Razván uns am Busbahnhof ab. Der 20-Jährige ist unser Gastgeber für die kommenden Tage. Wir mögen seine kleine Wohnung kaum verlassen, da wir uns darin so wohlfühlen. Jeden Morgen pflücke ich Himbeeren aus dem Garten für das Frühstück. In der Gartenlaube, die Razván selbst gebaut hat, arbeiten wir nachmittags an unseren Laptops.

Selbstverständlich schauen wir uns auch das kleine Städtchen an. Sibiu ist unsere erste Station in Transsilvanien, dem geografischen Zentrum Rumäniens. In dem Gebiet, das auch unter dem Namen Siebenbürgen bekannt ist, haben sich im 12. Jahrhundert die Siebenbürger Sachsen angesiedelt. Die deutschsprachige Minderheit gehörte einst dem Königreich Ungarn an. Viele rumänische Städte tragen deshalb bis heute deutsche Beinamen: Kronstadt zum Beispiel heißt in der Landessprache Brașov, Hermannstadt Sibiu. Nach Auswanderungswellen in den 1970er und 1990er Jahren leben allerdings nur noch ungefähr 15.000 Siebenbürger Sachsen in Transsilvanien. 1930 waren es 300.000.

 

Blick von der Lügenbrücke auf Hermannstadt
Am Markttag kann man in Sibiu selbstgebrannte Pálinka kaufen.
Das ist Transsilvanien: Erstes Anzeichen auf eine Begegnung mit Graf Dracula.
Viele Tauben auch in Sibiu
Der Weg aus der Stadt zu unserer Unterkunft. Diese liegt in einem Wohnviertel etwas außerhalb des Zentrums.

„Vielleicht bin ich voreingenommen, aber für mich ist Transsilvanien der schönste Teil Rumäniens“, sagt Razván während unseres gemeinsamen Abendessens im Garten. In den vergangenen Jahren, führt er aus, seien viele Investoren aus dem Ausland gekommen, die Infrastruktur wurde stark erneuert. Das hänge vor allem mit Klaus Johannis zusammen, sagt er. Der heutige Präsident Rumäniens – der übrigens auch ein Siebenbürger Sachse ist – war von 2000 bis 2014 Bürgermeister von Hermannstadt. „Er hat es geschafft, dass sich große deutsche Firmen wie Siemens oder Continental hier niederlassen. In Sibiu hat sich viel durch ihn verändert.“

Nichtsdestotrotz kann man in der 150.000-Einwohner-Stadt noch immer Menschen sehen, die im Fluss ihre Wäsche waschen und alte Frauen, die am Straßenrand Lavendel oder Gemüse verkaufen. Das Geld, das die EU in Rumänien investiere, komme nicht bei den Bürgern an, sagt Paul. Der 24-Jährige arbeitet als Ingenieur bei einem Autoteilehersteller. „Statt in Schulen oder Krankenhäuser zu investieren, versickern die Gelder. Wenn mir etwas passiert, muss ich für ein privates Krankenhaus bezahlen. Die öffentliche Versorgung ist zu schlecht.“

Trotz allen Problemen – trotz der Korruption, der mangelhaften Infrastruktur und ihrer Politikverdrossenheit – können sich Razván, Paul und Andrea nicht vorstellen, ihr Land zu verlassen. „Hier ist es immerhin sicher“, sagt Andrea. „Ich war in Paris während der Charlie-Hebdo-Anschläge. Das war kein gutes Gefühl.“ Paul erinnert an den Terroranschlag in Barcelona und den Amoklauf in München. Dann sagt er: „Ein Freund von mir wurde vor zwei Wochen in einem Park in London umgebracht. Einfach so, ohne Grund. Das würde in Rumänien nicht passieren.“ Er zieht sein Smartphone aus der Tasche, zeigt ein Video vom Bauernhof seiner Großeltern: Weinreben, Blumen, rote Dächer. Eine heile Welt mit selbstgebrannter Pálinka und frischem Schafskäse. „Rumänien hat viele Nachteile“, sagt Andrea. „Aber es ist sicher hier und die Landschaft ist ein riesengroßes Plus. Es ist schade, dass manche Leute die Schönheit unseres Landes nicht zu schätzen wissen.“

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