Die Hiobsbotschaft erreicht uns ausgerechnet an einem Freitag, den 13.: Das Kreuzfahrtunternehmen, bei dem wir die Überfahrt von Auckland nach Los Angeles gebucht haben, stellt seine Fahrten aufgrund der Corona-Pandemie vorübergehend ein. Unsere fluglose Weltumrundung ist beendet, da sind wir noch in Neuseeland. Mein Bauch fühlt sich auf einmal sehr flau an. Ich lese die Nachricht auf meinem Laptop in Tauranga, einer Hafenstadt auf der Nordinsel, rund 150 Kilometer südlich von Auckland.
Dort übernachten Alex und ich zwei Nächte im Haus von Richard. Er empfängt uns an der Haustür mit einem knappen Nicken. Die Hand möchte er uns nicht geben. Eine Schutzmaßnahme vor dem Corona-Virus, die sich noch sehr ungewohnt anfühlt im März 2020, fast übertrieben. Denn während sich die Lage in Deutschland mit 3062 bestätigten Covid-19-Fällen bereits zuspitzt, sind in Neuseeland erst fünf Fälle gemeldet. In Italien singen sie an diesem Abend an Fenstern und auf Balkonen die Nationalhymne.
Am Vortag bin ich noch optimistisch, dass es klappt mit unserer Weiterreise – obwohl ich schon morgens lese, dass US-Präsident Trump einen 30-tägigen Einreisestopp für Menschen aus Europa verhängt hat. „Meinst du, das gilt auch für uns?“, frage ich Alex beim Frühstück. „Wir waren die letzten sechs Monate ja nur in Neuseeland.“ „Ich glaube nicht“, antwortet er, „oder?“
Wir packen unsere Sachen, fahren die 115 Kilometer von Hamilton nach Tauranga. Eine Sekunde lang sehen wir das Haus der Familie Schweizer, bei der wir eine Woche lang gewwooft haben, an den Fenstern vorbeiziehen: ein zweistöckiges Gebäude vor grünen Hügeln. Dann ist es verschwunden.
In Tauranga fahren wir nicht direkt zu Richards Haus, sondern zum Strand. Auf dem Sand sitzend essen wir belegte Brote. Anschließend spazieren wir auf die Moturiki-Insel, die durch eine menschengemachte Landzunge mit dem Festland verbunden ist. Nur wenige hundert Meter entfernt ragt der Mount Maunganui auf, ein erloschener, rund 4,3 Millionen Jahre alter Vulkankegel, den die Einheimischen schlicht „The Mount“ nennen. Der 231 Meter hohe Berg spiegelt sich auf dem nassen Sand.
Am Tag darauf schwitzen wir auf dem Weg zum Gipfel. Dafür, dass der „Mount“ so niedrig ist, ist der Pfad hinauf sehr steil. Eine Stunde brauchen wir vom Strand hinauf. Oben weht der Wind, ist der Blick auf die halbmondförmige Bucht des Vororts Mount Maunganui und die Stadt Tauranga dahinter atemberaubend schön. Die bewaldete Moturiki-Insel sieht aus der Vogelperspektive aus wie der Rücken eines grünen Walfischs.
Abends telefoniere ich mit Miri, die uns mit ihrem Mann Yuval in China besucht hat. Ich liege in der Hängematte im Garten und werde von Mücken gestochen, um mich herum wird es dunkel. Miri berichtet, wie ihre Heimat Israel mit der Pandemie umgeht. In ein paar Tagen wollte sie eigentlich nach Deutschland fliegen, den Geburtstag ihres Vaters feiern. Doch der Flug wurde gecancelt. Auch bei dem Telefonat mit meiner Mutter später geht es um Corona. Sie musste ihre Reisen nach Neapel und nach Sizilien stornieren.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus anstecken werden, lese ich später im Internet. „Ich habe keine Ahnung, wie sich das alles noch entwickeln wird“, schreibe ich in mein Tagebuch. „Ich habe die Situation so richtig unterschätzt.“
Am Morgen darauf reisen wir weiter. Nach Tairua, auf die Coromandel-Halbinsel, etwa 130 Kilometer nördlich. Die Fahrt ist extrem kurvig, der letzte Teil der Strecke erinnert auf unserer Offline-Karte an einen Dickdarm.
Pauline, bei der wir übernachten, ist nicht zuhause, als wir ihr Heim erreichen. Sie kommt erst am folgenden Tag zurück aus Auckland. Wir entnehmen den Haustürschlüssel dem Schließfach unter dem Geländer der Veranda und tragen unsere Rucksäcke in den Flur.
„Oh, hallo!“, sagt Alex. „Wer bist du denn?“ Eine schwarze Katze streicht um seine Beine. „Suzie“, sage ich. „Und das hier müsste Taffy sein.“ Pauline hat mir von ihren Katzen geschrieben. Taffy, der getigerte Kater, ist ihr zufolge schon 16 Jahre alt und der zutraulichere der beiden. Während Suzie nach ein paar Minuten im Garten verschwindet, folgt Taffy uns durch die Wohnung. Am Esstisch hofft er auf ein Stück von Alex‘ Lachsbrot, auf dem Bett im Schlafzimmer rinnen lange Speichelfäden aus seinem Maul, wenn wir ihn streicheln. Ich wische sie ihm mit einem Papiertaschentuch aus den Mundwinkeln, als wäre er ein Kita-Kind mit Rotznase.
Zum Dank weckt er mich am folgenden Morgen. Um 8.30 Uhr steht Taffy vor der Tür, miaut. Ich stehe auf und füttere ihn. Am späten Nachmittag fahren Alex und ich ins 25 Kilometer entfernte Hahei, dem Ausgangsort der 45-minütigen Wanderung zur Cathedral Cove. Die schöne Bucht mit ihren sonderbar geformten Höhlen und Felsen ist einer der touristischen Hotspots auf der Coromandel-Halbinsel. Den zweiten, den Hot Water Beach, besuchen wir im Anschluss. Er liegt wenige Kilometer südlich von Hahei.
Der Hot Water Beach („Heißwasserstrand“) ist für seine Thermalquellen unter dem Sand bekannt. In rund zwei Kilometern Tiefe befinden sich circa 170 Grad Celsius heiße Gesteinsschichten: fünf bis neun Millionen Jahre alte Überreste vulkanischer Aktivität. Das darüber liegende Wasser erhitzt sich, an der Erdoberfläche beträgt seine Temperatur bis zu 64 Grad Celsius.
„Au!“ Ich verbrenne mir die Füße, als ich inmitten der vielen Touristen und Einheimischen, die sich eine Badewanne aus Sand gebaut haben, anfange zu buddeln. Pauline hat uns extra eine Schaufel vor die Tür gestellt. Mit der grabe ich mal ein bisschen weiter links, mal rechts. Es ist gar nicht so einfach, eine Stelle mit einer angenehmen Wassertemperatur zu finden. Alex behält die Schuhe an. Er hat keine Lust, sich zwischen die biertrinkenden Badenden zu legen, kränkelt außerdem ein bisschen. Am Strand entlang spazieren wir zurück zum Auto. Die untergehende Sonne färbt den Himmel puderrosa.
Durch die Dunkelheit fahren wir zurück nach Tairua. In den Nachrichten erfahren wir vom Beschluss der neuseeländischen Regierung, bis zum 30. Juni keine Kreuzfahrtschiffe mehr an- oder ablegen lassen. Damit ist unser Traum von einer fluglosen Weltumrundung endgültig zerplatzt. Denn auch die Containerschiffe nehmen bis auf Weiteres keine Passagiere mehr an Bord. Davon abgesehen hätten wir auf ihnen nur zurück nach Hongkong beziehungsweise nach Savanna, an die Ostküste der USA, reisen können.
Es fällt mir schwer, mich mit dem Gedanken anzufreunden, nach Deutschland zurückzufliegen. „Vielleicht tut sich ja noch was in den kommenden Monaten“, sage ich zu Alex. Wir überlegen hin und her, wie die Reise weitergehen soll. Ist es überhaupt eine Option, nach Los Angeles oder nach Kanada zu fliegen und die Reise von dort aus weiterzuführen? Sollten wir lieber so schnell wie möglich nach Deutschland zurückreisen – oder ist es klüger, erst einmal in Neuseeland zu bleiben, wo die Lage überschaubarer wirkt, wir niemanden unnötig gefährden? Wir vertagen die Entscheidung.