Eine harte Tour

Dafür, dass die Wanderung zu The Pinnacles als eine der spektakulärsten der neuseeländischen Nordinsel gilt, sind ihre ersten zwei Stunden sehr unspektakulär. Durch Farnwald geht es steil nach oben. Wir folgen einem historischen Packpferde-Pfad, der in den 1920er-Jahren für Waldarbeiter angelegt wurde, zur Pinnacles-Hütte. Dort werden wir die Nacht verbringen.

Ich gehe vorweg, steige über Felsbrocken, Baumwurzeln und Treppenstufen, während Alex hinter mir immer wieder stehen bleibt. Er fühlt sich nicht fit, ist nur mir zuliebe mitgekommen auf die Zwei-Tages-Wanderung. Wahrscheinlich sehnt er sich zurück in das Café, in dem wir zu Mittag gegessen haben. Frittierte Camembert-Ecken mit Preiselbeeren, Crêpes mit Ahornsirup. „Was Richtiges“, wie Alex warme Speisen nennt. Wir nehmen keinen Gaskocher mit auf die Hütte, nur Brot, Humus und Gemüse.

Der Berg The Pinnacles befindet sich auf der Coromandel-Halbinsel. Er ist 759 Meter hoch.
Der Blick vom Gipfel lässt meinen, die Welt bestehe nur aus Bergen.

Neben uns in dem Café in Thames, dem Ausgangsort der Tour, sitzt Inge, eine Mitte-Fünfzigjährige aus Süddeutschland mit kurzem Haar und Outdoor-Kleidung. Inge ist in Neuseeland gestrandet und sehr aufgebracht. Wegen der Corona-Pandemie sei ihr Rückflug gecancelt worden, sagt sie. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich war die letzten drei Tage nur wandern, da gab’s nirgends Netz.“ Ihr Flug hätte in Singapur zwischenlanden sollen, erklärt sie, doch die Regierung lasse keine Ausländer mehr einreisen. Sie seufzt. „Das ist jetzt schon der zweite Flug, den ich gebucht habe.“

Ich hole meinen Laptop aus dem Rucksack, suche nach Flugverbindungen für Inge. Ein paar Fluggesellschaften bieten auch Mitte April noch Flüge von Neuseeland nach Deutschland an. „Zumindest ist das der Stand jetzt“, sage ich. „Wie sich die Lage in den kommenden vier Wochen entwickelt, weiß man halt nicht.“ Alex und ich verabschieden uns, wünschen Inge viel Glück mit der Rückreise. „Viel Spaß auf der Wanderung“, antwortet sie, „da oben ist es traumhaft schön!“

Auf der Hälfte des Kauaeranga-Kauri-Trails würde Alex ihr sicher gerne widersprechen. Der Aufstieg ist anstrengender als erwartet. Unter unseren Rucksäcken haben sich identisch große Schweißflecken gebildet, obwohl der Himmel bewölkt ist, die Luft angenehm kühl.

Der Aufstieg ist anstrengender als gedacht.

Den ersten Blick auf den 759 Meter hohen Gipfel erhaschen wir erst kurz vor Ende der Wanderung: nach knapp dreieinhalb Stunden unterwegs, auf dem Plateau, auf dem sich auch die Hütte befindet. Der Berg The Pinnacles ist Teil des 85 Kilometer langen Gebirgszugs Coromandel Range, der sich über fast die gesamte Länger der Coromandel-Peninsula erstreckt.

Die Halbinsel auf der neuseeländischen Nordinsel, rund 115 Kilometer südlich von Auckland, wurde nach dem Handelsschiff HMS Coromandel benannt, das 1820 anlegte, um Holz zu laden. In der Sprache der Māori heißt sie Te Tara-o-te-ika-o-Māui, „der gezackte Widerhaken von Māuis Fisch“.

Nach knapp vier Stunden erreichen wir endlich unser Ziel. Vor der Hütte begrüßt uns Rob. Der Hüttenwart ist im Wechsel mit KollegInnen dafür zuständig, dass die Ausstattung in Schuss bleibt, alle BesucherInnen sich an die Regeln halten. Er erklärt uns, wo die Küche ist, dass wir unsere Schlafplätze im Matratzenlager frei wählen können. Platz ist genug: Mit 80 Matratzen ist die Pinnacles-Hütte eine der größten Neuseelands.

Die Pinnacles-Hütte bietet Platz für 80 Übernachtungsgäste.
Von der Hütte sind es noch rund 50 Minuten bis zum Gipfel.

„Reicht die Zeit, um auf den Gipfel zu wandern?“, erkundige ich mich bei Rob. Es ist schon Viertel nach sechs Uhr abends, kurz vor Sonnenuntergang. Rob schaut auf die Uhr: „Klar, kein Problem.“ „Darf ich meinen Rucksack bei dir lassen?“, frage ich Alex. „Aber sicher.“ Schon bin ich wieder auf dem Weg, dieses Mal in Richtung Gipfel.

Nach wenigen Minuten holen mich Nancy und Duncan ein. Die 64-jährige Landschaftsgärtnerin und ihr Sohn sind Kanadier und machen Urlaub in Neuseeland. Wir unterhalten uns über das Reisen, das Leben in Kanada und über Corona. Duncan fasst die Metallsteige nicht an, die an den Felsen befestigt sind, um den Wandernden den Aufstieg zu erleichtern. Er möchte Kontaktflächen vermeiden. Ich greife nach jeder einzelnen Metallsteige. Ohne sie würde ich es nicht nach oben schaffen.

Ich habe Glück, dass Nancy so gerne fotografiert, sonst könnte ich mit dem Tempo der zwei nicht mithalten. Nancy und Duncan sind beide sehr gut in Form und haben, im Gegensatz zu mir, keine Höhenangst. Ich bin froh, die Kletterpartie zum Gipfel nicht alleine bewältigen zu müssen.

Der Aufstieg ist die Mühe wert. Von der Spitze des Pinnacles haben wir einen 360-Grad-Blick über die bewaldeten Bergketten zum Meer. Beim Abstieg bricht die Sonne durch die Wolken, färbt den Himmel himbeerrot.

Metallsteigen und -leitern führen zum Gipfel.
Für den Aufstieg sollte man keine Höhenangst haben. Oder nette WanderbegleiterInnen.
Der Gipfel selbst bietet nur wenig Fläche, um sich hinzusetzen.
Dafür reicht der Blick bis zum Meer.
Von oben sieht die Pinnacles-Hütte sehr klein aus. Sie ist das einzige Gebäude weit zu breit.
Beim Abstieg färbt die untergehende Sonne die Wolkendecke erst orange …
… dann himbeerrot.

Vor der Hütte treffen wir erneut auf Rob. Der Hüttenwart berichtet von seinem Arbeitsalltag. Je eine Woche bleibt er auf dem Berg, dann kommt die Ablösung. Statt knapp vier Stunden braucht er gerade einmal eineinhalb für den anstrengenden Aufstieg. Das sei aber nicht immer so gewesen, beruhigt er uns: „Anfangs habe ich länger gebraucht. Mein Arbeitgeber hat mich quasi dafür bezahlt, fit zu werden.“ Rob ist beim Department of Conservation (DOC) angestellt, der Umweltschutzbehörde Neuseelands.

Er erzählt von der Possum-Plage in seiner Heimat. Die aus Australien stammenden Beuteltiere richten unheimlichen Schaden an, indem sie junge Baumtriebe sowie die Eier von Vögeln essen, sagt er. In Neuseeland haben Possums keine natürlichen Fressfeinde, deshalb konnten sie sich lange Zeit unkontrolliert ausbreiten. „Man tut dem Planeten etwas Gutes, wenn man Possums tötet“, findet Rob.

Seine größte Angst sind jedoch nicht Possums, sondern dass es die Kauri Dieback Disease, eine Krankheit, die nur den Kauri-Baum betrifft, auf den Berg schafft. Sie wird vom Pilz Phytophthora agathidicida ausgelöst. Befällt er die Wurzeln, fangen sie an zu faulen. Das Absterben des Baums beginnt.

Die Kauri Dieback Disease, erklärt Rob, sei wie AIDS für Bäume. „Wir wissen nicht, was genau die Krankheit verursacht und wie sie behandelt werden kann“, sagt er. Deshalb habe das DOC unter vielen Wegabschnitten Gummi verlegen lassen – das sei „wie ein Kondom für Baumwurzeln.“

„Noch macht uns die Krankheit in dieser Gegend keine Probleme“, sagt Rob. Aber sie könne jederzeit eingeschleppt werden, etwa von Wildschweinen. Oder von Menschen, die vorher in Kauri-Dieback-Gebieten waren und sich nicht die Schuhe geputzt haben. Um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, sind am Einstieg vieler Wanderwege in Neuseeland Desinfektionsstationen aufgestellt, an denen man sich die Schuhe abbürsten und mit Desinfektionsmittel einsprühen kann.

„Da bist du ja“, sagt Alex plötzlich neben mir. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“ Robs Stirnlampe, sagt er, habe seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Um uns ist es längst stockdunkel. „Hast du Hunger? Ich hab was zu Essen vorbereitet.“ Ich folge Alex in die Küche, in der schon einige der anderen Hüttengäste kochen oder essen. 17 Matratzen sind in dieser Nacht belegt, das wissen wir von Rob.

Angst, dass eine oder einer der Anwesenden Covid-19 hat, haben wir nicht. Am 16. März 2020 haben sich erst acht Menschen in Neuseeland infiziert, sind die Landesgrenzen noch offen.

Nach dem Essen spielen wir Karten, danach putzen wir vor den Toiletten im Freien die Zähne und legen uns auf unsere Matratzen. Ich höre Podcasts, bis ich einschlafe. Was dauert. Es ist kalt im Matratzenlager der Pinnacles-Hütte. Sogar in Alex‘ Schlafsack, der wärmer ist als meiner, friere ich.

Um 8 Uhr morgens wendet Rob die Matratzen. Zeit zum Aufstehen, soll das wohl heißen. Alex dreht sich im Halbschlaf zur Seite. Ich fange an zu packen. Ich bin schon lange wach. Die FrühaufsteherInnen, die die Hütte um 6 Uhr verlassen haben, haben mich geweckt.

Der Rückweg ist nicht leichter als der Aufstieg, zumindest nicht für Alex. Seine Erkältung hat sich über Nacht verschlimmert. Immer wieder muss er stehen bleiben, weil ihm schwindelt. „Es tut mir leid, dass ich dich überredet habe mitzukommen!“, entschuldige ich mich. Mehrmals. Und hoffe dabei, dass es wirklich nur eine Erkältung, keine Infektion mit dem Corona-Virus ist. Drei Stunden brauchen wir für den Weg nach unten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert