„Komm schon, trau dich! Es tut gar nicht weh, kitzelt nur ein bisschen!“ Alex schaut mich skeptisch an. Dann das Wasser. Im unteren Badesee des Nitmiluk-Nationalparks schwimmen Fische, die gern die Hornhaut von den Füßen knabbern. Es ist heiß. Wie meistens im Northern Territory, wo es – im Gegensatz zum Rest des Landes – keine Jahreszeiten, sondern nur eine Regen- und eine Trockenzeit gibt. Die Temperatur beträgt im Norden Australiens fast immer um die 30 Grad.
Wir waren eben schon schwimmen. Das Wasser ist angenehm kühl und solange man sich bewegt, kommen die Fische nicht zu nah. Bleibt man dagegen kurz auf dem Holzsteg am Ufer stehen oder lässt die Füße in den See hängen, schwimmen die Fische her. Einer von ihnen hat mich gerade in die Ferse gezwickt. „Au!“ Ich hüpfe aus dem Wasser. Es tut wirklich nicht weh, wenn die Fische beißen. Aber ich halte es nicht aus, nicht zu wissen, wann der nächste mich erwischt. Mein Bauch kribbelt vor Aufregung.
Alex steigt tatsächlich nochmals auf den Holzsteg. Missmutig blickt er zu seinen Füßen. Wegen der zinnoberroten Steine auf dem Grund wirkt die Wasseroberfläche fast schwarz. Die Felsen und Büsche um den See spiegeln sich in ihr. Ich halte den Atem an: Ein Fisch kommt näher. Er ist nur noch etwa 20 Zentimeter von Alex entfernt. Da sieht er ihn auch. „Pfffff!“, ruft er und springt mit einem Satz aus dem Wasser. „Ich will ihn nicht, ich will ihn nicht, ich will ihn nicht!“ Ich krümme mich vor Lachen.
Der 1989 gegründete Nitmiluk-Nationalpark liegt 63 Kilometer nordöstlich von Katherine am Stuart Highway. Mit einer Fläche von 2921 Quadratkilometern ist er größer als das Saarland. Auf dem Leliyn-Rundweg wandern wir zu seinen Schwimmbecken, Aussichtspunkten und Wasserfällen. Edith Falls nennen die Australier diese Landschaft aus natürlichen Pools und Kaskaden. Leliyn heißt sie in der Sprache des Aborigine-Volks Jawoyn, denen der Nationalpark mittlerweile wieder gehört.
Der Rundweg ist nur 2,6 Kilometer lang. Alex und ich können uns nicht vorstellen, dass auf der Strecke jemand verloren gehen könnte. Und doch klebt am Parkeingang ein Flyer, mit dem nach einem 67-jährigen Mann gesucht wird, der ein Jahr zuvor zuletzt auf dem Leliyn Loop Walk gesehen wurde. Obwohl sie das Gelände großflächig durchkämmte, konnte die Polizei nicht einmal einen Schuh oder Rucksack von ihm finden. „Vielleicht liegt er ja komplett angezogen auf dem Grund eines der Seen“, sage ich zu Alex. „Gestolpert und ertrunken.“
Wir verlieren uns in abstrusen Theorien, während wir dem Schotterweg folgen und über die roten Felsen zum Upper Pool hinabsteigen. Es ist windstill, die Sonne brennt auf unseren Schultern. Wir können es kaum erwarten, den See zu erreichen, die Rucksäcke auszuziehen, uns abzukühlen.
Am Upper Pool sitzt Makhid auf den Steinen und sonnt sich. Der 29-jährige reist ein paar Tage durch Nordaustralien. Eigentlich lebt er in Sydney, wo er im Finanzsektor arbeitet. In seiner Freizeit legt als DJ House-Musik auf. Wir unterhalten uns schwimmend. Mich kostet es Überwindung, in das dunkle Wasser hineinzusteigen. Es sieht aus, als würde es kilometerweit in die Tiefe reichen. Ich atme noch einmal tief ein, beuge die Knie, gleite in die Kälte. Da hat Alex das andere Ufer schon längst erreicht.
Eine halbe Stunde später verabschieden wir uns von Makhid, der an diesem Nachmittag weiterreist. Wir verbringen die Nacht auf dem Campingplatz. Zusammen mit einer Familie aus Hamburg schauen wir dabei zu, wie die Felsen am Main Pool zum Sonnenuntergang tiefrot aufleuchten.
Am Morgen darauf fahren wir weiter Richtung Norden. Unser Ziel ist der Litchfield-Nationalpark, 250 Kilometer nordwestlich. Unterwegs halten wir am Adelaide River Inn, einem Gasthaus am Stuart Highway. In der Bar ist Charlie ausgestellt: der Wasserbüffel, den Paul Hogan in dem Kultfilm Crocodile Dundee nur mit einem Blick zum Sitzen bringt. Ich fotografiere natürlich erst einmal den falschen Büffel. Ein ausgestopfter Schädel hängt links neben dem Tresen an der Wand. „Äh, ich glaube, das ist er“, sagt Alex und deutet auf einen mächtigen Bullen mit ausladenden Hörnern in der Ecke gegenüber. Charlie steht auf einem Podest vor einem Crocodile-Dundee-Poster. Ups. Ich mache noch ein Foto. Die junge Frau hinter der Bar grinst.
Um 14 Uhr erreichen wir den Litchfield-Nationalpark. Wir fahren zuerst zu den Termitenhügeln nahe dem Parkeingang. Auf dem Parkplatz der Florence Falls stellen wir Diggity ab und ziehen Badesachen an. Der Weg zu den Wasserfällen führt durch dichten Regenwald. Begleitet von anderen Besuchern steigen wir die Treppe zu den Florence Falls hinunter. Noch bevor wir sie sehen, hören wir die beiden Wasserfälle. In dem Becken, in das die Wassermassen rauschen, lassen sich Touristen auf Schwimmnudeln treiben. Obwohl sie in den 80ern in Kanada erfunden wurden, werden die Schaumstoff-Röhren in Australien meist „Aussie Noodles“ genannt.
Nach einer kurzen Runde im wunderbar kühlen Wasser fahren wir weiter zu den Tolmer Falls. Mehr als 100 Meter fällt der Wasserfall kerzengerade in die Tiefe. Unser letzter Stopp an diesem Tag sind die Wangi Falls, die bekannteste Attraktion des Litchfield-Nationalparks. Obwohl der See unterhalb der zwei Wasserfälle am späten Nachmittag zum größten Teil bereits im Schatten liegt, gehen wir noch eine Runde schwimmen. Der Schweiß ist im Northern Territory unser ständiger Begleiter.
Auf dem Campingplatz der Wangi Falls verbringen wir die Nacht. Wir parken Diggity in einer der vielen Einbuchtungen zwischen den Büschen. Auf der roten Erde neben dem Auto stellen wir unseren Campingkocher auf. Während Alex eine Gasflasche in den Kocher klemmt, sprühe ich mich großzügig mit Insektenschutzmittel ein. Die „Mozzies“, australisch für Moskitos, sind im Litchfield-Nationalpark früh aktiv. Und vor allem an mir interessiert. Alex stechen sie fast nie.
Wieder einmal kochen wir Nudeln mit Pesto. Nach dem Abendessen legen wir uns früh ins Auto und lesen noch eine Weile. Alex hat mir „Fliegen ohne Flügel“ von Tiziano Terzani auf den E-Reader heruntergeladen. Der ehemalige Spiegel-Korrespondent hat 26 Jahre vor uns eine ganz ähnliche Reise unternommen: Mit dem Zug ist er 1993 von Südostasien nach Italien gereist, mit dem Schiff zurück nach Singapur. Ein chinesischer Wahrsager hatte ihn davor gewarnt zu fliegen.
Ich mag es, die Parallelen und Unterschiede zwischen Terzanis Reise und der unseren nachzuvollziehen. Mich daran zu erinnern, wie ich die Länder und Städte wahrgenommen habe, in denen der Autor ein Vierteljahrhundert vor uns war. Weniger gefällt mir, dass Terzani die Zerstörung der Natur durch die Menschen durchaus wahrnimmt, aber keine Konsequenzen daraus zieht. Auf das Fliegen zum Beispiel verzichtet er nur wegen der Prophezeiung, nicht, um die Umwelt zu schützen.
Als wir am nächsten Morgen aufwachen, sind die Netze vor den Fenstern voll Moskitos. Schon zu Beginn unseres Roadtrips, in Geraldton, haben wir ein großes Stück Insektennetz gekauft und zurechtgeschnitten. Jetzt, im heißen Norden, können wir es gut gebrauchen. Dank ihm können wir die Fenster nachts trotz der Mozzies offen lassen.
Auch in Berry Springs, wo wir die folgende Nacht verbringen, können wir uns kaum vor den Insekten retten. Von den 85 Kilometern dorthin sind 12,5 ungepflastert. Einmal müssen wir ein Wasserloch kreuzen. Ich steige aus. Mit einem Stock teste ich, wie tief es ist. „Sollte gehen“, denke ich. Ich setze mich zurück ins Auto. Vorsichtig manövriert Alex Diggity durch die matschbraune Pfütze. Gut, dass unser Fahrer Ogi uns in der Mongolei gezeigt hat, dass man nicht nur mit einem Jeep, sondern auch mit einem normalen Auto Bäche durchqueren kann. Und dass wir unser Auto gekauft, nicht gemietet haben. Sonst hätten wir diese Strecke gar nicht fahren dürfen.
Am frühen Nachmittag kommen wir an unserem Campingplatz in Berry Springs an. Er liegt direkt neben einem See, in dem man leider nur angeln, nicht baden kann. Die kühlen Schwimmbecken am Berry Creek, nach dem der Ort benannt ist, sind aber zum Glück nur ein paar Kilometer weiter. Im Wasser treiben Badende auf Aussie-Nudeln, unter ihnen schwimmen Knabberfische. Wir schauen uns skeptisch an: Rein oder nicht rein? Alex traut sich als Erster. Ich seufze. Was soll’s. Es tut ja wirklich nicht weh, wenn die Fische beißen.