Corona ist das dominierende Thema in den Nachrichten. Und in unserer WG in Auckland. Jeden Morgen hat Jiang die neuesten Zahlen parat, aus Neuseeland, China und Europa. „Vier Fälle in Auckland“, berichtet er am 19. März. Er sitzt übers Handy gebeugt auf dem Barstuhl vor der Küchenzeile, ich stehe dahinter, schnipple Obst fürs Müsli, koche Kaffee. „Mhmm“, brumme ich. Morgens bin ich noch nicht zugänglich für die harte Realität. Ich würde mir gerne noch eine Weile einreden, der Ausbruch der Covid-19-Pandemie sei nur ein Traum gewesen, in Wirklichkeit alles wie immer.
Jiang hält nichts von Verdrängung. Der 46-Jährige aus Suzhou, nahe Shanghai, hat kurze, schwarze Haare, trägt Jogginghose und eine Brille mit dunklem Rahmen. Er scrollt über das Display, liest die Beschlüsse der neuseeländischen Regierung vor: „Die Landesgrenzen sind geschlossen. Nur noch Staatsbürger können einreisen.“ „Das Virus ausschalten“ lautet die Ansage von Premierministerin Jacinda Ardern. Bei insgesamt 28 Covid-19-PatientInnen klingt das immerhin noch einigermaßen realistisch.
In Deutschland haben sich nach Angaben des Robert-Koch-Instituts zu diesem Zeitpunkt schon mindestens 10.999 Menschen mit dem Corona-Virus angesteckt. Die Zahl der Infizierten steigt täglich. Deshalb haben Alex und ich beschlossen, vorerst in Neuseeland zu bleiben. Abzuwarten.
Nach unserer Wanderung auf den Berg Pinnacles auf der Coromandel-Halbinsel fahren wir auf dem Highway Nummer 1 nach Auckland. Im Haus von Alycia und Jhonny, bei denen wir direkt nach unserer Ankunft in Neuseeland schon einmal zwei Wochen gewohnt haben, haben wir für eine Woche ein Zimmer gemietet. Wir freuen uns sehr auf das Wiedersehen mit den beiden. Nach sechs Monaten in Neuseeland fühlt es sich an, als würden wir zu alten Freunden zurückkehren.
Wir parken Diggitwo oberhalb des Hauses an der Straße. Keiner von uns traut sich, die Auffahrt hinunterzufahren. „Sie ist einfach noch steiler, als ich sie in Erinnerung hatte“, sage ich zu Alex. Mit den großen Rucksäcken auf dem Rücken und den kleinen vor dem Bauch wanken wir den Weg hinab. Die Kiste mit Lebensmitteln tragen wir zwischen uns.
Neben dem windschiefen Holzhaus murmelt der Bach, rauschen die Blätter der Palmen und der Farnbäume. Die Holztreppe knarzt beim Hinaufgehen. „Cashew!“, ruft Alex. Alycias getigerte Katze erkennt uns gleich wieder. Sie folgt uns wie ein Hund in unser Zimmer, wo sie sich von nun an die meiste Zeit aufhält. Sie liegt auf Alex‘ Beinen, wenn er arbeitet, unter seinem Arm, wenn er nachts schläft.
Auch ich verbringe die Tage vor allem mit arbeiten. Vom Spiegel habe ich den Auftrag bekommen, Protokolle von Weltreisenden aufzunehmen, die wegen der Corona-Pandemie gestrandet sind oder ihre Pläne ändern mussten. Während ich mit Reisenden in Vietnam, der Karibik, Chile, Indonesien, der Schweiz und Deutschland skype, kocht Alex für uns beide. Beyond-Meat-Burger und Wedges, Couscous-Salat, Bandnudeln, Auberginen-Auflauf.
Nachmittags mache ich Yoga. Für den Rücken. Der Esstisch im Wohnzimmer ist als Arbeitsplatz nicht optimal. Cashew ist irritiert von meinen Verrenkungen. Kaum lege ich mich auf den Boden, setzt sie sich auf meinen Po. Im Naturreservat um die Ecke gehe ich fast täglich spazieren. Die Blätter der Farnbäume sind braun geworden, einige liegen auf dem Boden. Der Wald sieht nicht aus wie der unseres ersten Aufenthalts in Auckland. Als wir in Neuseeland ankamen, war es Frühling.
Abends telefonieren wir, schauen Serien oder unterhalten uns mit unseren MitbewohnerInnen. Ein Thema kommt in so gut wie allen Gesprächen vor: Corona. Ihren 60. Geburtstag, erzählt meine Mutter mir am Telefon, können sie und ihr Mann nicht wie geplant in großer Runde feiern. Meine Schwester berichtet vom „Lockdown-Light-Leben“: vom Skypen mit ihren Bachelor-Mädels, vom Datensortieren und Fensterputzen. Gleich drei Freundinnen sitzen im Urlaub fest.
Alex erfährt von seinen Eltern, dass in dem Krankenhaus, in dem seine Schwägerin als Intensiv-Krankenschwester arbeitet, die ersten Covid-19-Patienten behandelt werden. Das Virus ist in unserer Heimat angekommen.
Und es hat Auswirkungen auf unser WG-Leben. Alycia und Jhonny arbeiten von nun an beide im Homeoffice. „Es ist echt heftig, wie die ganze Welt davon beeinflusst ist“, schreibe ich in mein Tagebuch. „Wie dieses Virus alle betrifft. Und wie plötzlich Maßnahmen möglich sind, die aus Klimaschutzgründen keiner ergreifen würde.“ Ein bisschen frustriert mich das, muss ich zugeben.
Doch dann schaue ich wieder Nachrichten. Die steigenden Zahlen der Infizierten und der Todesfälle schockieren mich. Dazu die Neuigkeiten aus dem Umfeld. Ein Freund von Alycia und Jhonny ist in Frankreich an Covid-19 erkrankt. Der Vater einer Freundin kann nicht am Herzen operiert werden, da wegen der vielen Covid-19-Fälle im Krankenhaus keine Plätze mehr auf der Intensivstation frei sind.
In dem Supermarkt, in dem wir unsere Lebensmittel einkaufen, sind viele Regale leer geräumt. Während die ItalienierInnen Nudeln, die Deutschen Klopapier horten, hamstern die NeuseeländerInnen vor allem Weet-Bix, Vollkorn-Weizen-Kekse, ein typisches Kiwi-Frühstück. Nur von denen mit Beeren und Aprikose stehen noch ein paar Packungen im Fach.
Meine Schwester schreibt, dass sie unserem Vater tatsächlich Toilettenpapier per Post schicken musste. In seinem Dorf auf der Schwäbischen Alb hat er keins mehr bekommen.
Ein bisschen schlechtes Gewissen habe ich, als Alex und ich am 21. März zusammen Alycia, Jhonny, ihrem Freund Kart und seinem Cousin aus Indien zu Abend essen. Dabei leben wir seit unserer Ankunft in Auckland quasi in Isolation. Kontakt haben wir nur zu unseren MitbewohnerInnen. Im Zentrum waren wir wegen Corona und der Arbeit nicht ein einziges Mal.
Kart kocht Pferdebohnen-Curry mit Paneer-Käse und Reis, ich backe Blaubeer-Cupcakes zum Nachtisch. Es ist ein Festmahl. Und das letzte große Zusammentreffen vor dem Lockdown, aber das wissen wir an diesem Abend noch nicht. Am Tag darauf ruft Premierministerin Jacinda Ardern die Warnstufe 3 von 4 aus. Drei Tage später soll im ganzen Land die höchste Stufe gelten. Das bedeutet: Ausgangssperre. Für Alex und mich außerdem den Umzug in den Norden. In Port Albert, einem Dorf 80 Kilometer nördlich von Auckland, werden wir während des Lockdowns wwoofen.