Es krabbelt auf dem Katzenbauch. Vorsichtig teile ich das Fell mit den Fingern. Und entdecke zwei winzige Insekten, ungefähr so groß wie Fruchtfliegen. Das kann nichts Gutes heißen. Ich seufze, lasse Indie auf dem Sofa liegen und steige die Treppe nach oben. Das Holz knarzt unter meinen Füßen. Asha, die zweite Katze, liegt auf einem der Kinderbetten. Ich muss ihr Fell nicht durchwühlen, um zu sehen, dass auch auf ihrem Bauch fruchtfliegengroße Insekten krabbeln. Das weiße Laken, auf dem Asha bis eben geschlafen hat, ist voll kleiner, schwarzer Flocken. Insektenexkremente, ganz bestimmt.
Ich hebe die Katze vom Bett, ziehe das Laken ab, schließe die Tür hinter mir. Knarz, knarz, knarz gehe ich die Treppe nach unten und stecke das Laken in die Waschmaschine. Dann ziehe ich unsere Bettwäsche ab, stelle die Waschmaschine auf 90 Grad, starte den Waschgang. Ich setze mich aufs Sofa, aber mit Abstand zu Indie, die wie eine Schnecke zusammengerollt daliegt. Ob sie Flöhe hat? Ich habe keine Ahnung, wie Flöhe aussehen. „Wir haben Insekten auf den Katzen entdeckt, sollen wir mit ihnen zum Tierarzt?“, schreibe ich unserer Housesitting-Gastgeberin bei WhatsApp. Sie ist mit ihrem Mann und den drei Kindern für eine Woche auf der Südinsel Neuseelands, Skifahren. Alex und ich passen solange auf ihre Katzen und ihr Haus in Mission Bay, einem wohlhabenden Vorort im Osten Aucklands, auf.
Zweieinhalb Wochen vorher sind wir in Neuseeland angekommen. Nach vier Tagen auf dem Meer, auf dem Frachtschiff CMA CGM Amber, schwanken wir mit noch wackligen Puddingbeinen aus dem Containerhafen Aucklands. Unsere großen Rucksäcken tragen wir auf dem Rücken, die kleinen vor dem Bauch. Wir gehen nach rechts, die Einkaufsstraße Queen Street ist nur ein paar hundert Meter weiter. Auckland ist sehr überschaubar. Die größte Metropole Neuseelands hat zwar mehr als 1,6 Millionen Einwohner, aber die verteilen sich auf einer Fläche, in die Moskau fast zweimal passen würde. Und die Hauptstadt Russlands hat immerhin rund 12,5 Millionen Einwohner.
Innerhalb einer Stunde erledigen wir das Wichtigste: Wir heben neuseeländische Dollar ab, kaufen eine SIM-Karte und eine wiederaufladbare Buskarte für Auckland. Davor essen wir in einem Café zu Mittag. Alex bestellt einen Burger mit Pommes, ich einen asiatischen Kohlsalat mit Tofu. Beides ist nicht überragend, aber das Beste, was wir seit einer Woche gegessen haben. Das Essen auf dem Containerschiff war einseitig und fettig.
Mit dem Bus fahren wir nach Glenfield. In dem Vorort nördlich des Zentrums haben wir für die kommenden zwei Wochen ein Zimmer im Haus von Alycia und Jhonny gemietet. Im Bus schreibe ich Alycia. Wir müssen nicht lange an der Bushaltestelle warten, bis sie uns abholt. Alycia, 39, hat lange, rotbraune Haare, braune Augen und ein breites Lächeln. Wie die meisten Kiwis (so nennen sich die Neuseeländer oft selbst) spricht sie das E als I aus und hängt an jeden zweiten Satz ein „ey“. „Wie war die Fahrt? Ihr seid bestimmt müde, ey?“ Es ist unmöglich, sie nicht zu mögen.
Die Einfahrt ist extrem steil. Das Haus liegt in einer Senke, am Rand eines Naturschutzgebiets, zwischen Farnbäumen und Palmen. Gegenüber ist das einzige Nachbarhaus, rechts fließt ein kleiner Bach. Die Vögel zwitschern, es riecht nach Erde. Ich staune. Sind wir wirklich noch in Auckland?
Wir tragen unsere Rucksäcke ins Haus. Der Holzboden wankt und ächzt bei jedem Schritt. Alycia zeigt uns das Wohnzimmer und unser Zimmer, dann fährt sie wieder. Es ist Samstag, sie und Jhonny sind bei Freunden eingeladen. Wir duschen, legen uns aufs Bett, daddeln auf dem Smartphone. Eine Woche waren wir offline. Wir haben das Internet nicht sehr vermisst, trotzdem ist es schön, von Freunden und der Familie zu hören, zu erfahren, was in der Zwischenzeit auf der Welt passiert ist.
Nachmittags fahren mit dem Bus ins Einkaufszentrum. Wir decken uns mit so viel Essen ein, dass wir eine Woche daheim bleiben könnten. Beim Abendessen lernen wir Rinske kennen, die dritte Mitbewohnerin auf Zeit. Die 29-jährige Niederländerin will in Neuseeland ein neues Leben starten. Zumindest für eine Weile. Rinske – langes, blondes Haar und blaue Augen – ist sehr sportlich. Sie mag Surfen und Thaiboxen. Ihre neue Stelle als Sozialpädagogin fängt nur wenige Tage später an.
Jhonny, Alycias Freund, lernen wir am folgenden Morgen kennen. Der 40-Jährige hat schwarze Haare, braune Augen und einen akkurat geschnittenen Bart. Er kommt aus Kolumbien, lebt aber schon seit ein paar Jahren in Neuseeland. Wie Alycia arbeitet er an der Uni und ist unglaublich nett.
Jhonny gibt uns Tipps für die Autosuche. Alex und ich treten der Gruppe Backpacker Cars auf Facebook bei, durchforsten die Seite Trade Me, das neuseeländische Ebay. Vor dem Schlafengehen freunden wir uns mit Alycias Katze Cashew an. Ihre zweite Katze, Liger, ist schüchtern. „Cashew glaubt, dass ihr das Haus gehört, weil sie einen Tag vor Liger da war“, erklärt Alycia.
Wir freuen uns, dass Cashew uns oft in unserem Zimmer besuchen kommt, wo wir auf dem Bett sitzend arbeiten und im Internet nach Autos suchen. Es ist noch recht kühl, es ist Frühling in Neuseeland. Nachmittags gehe ich ab und zu im Naturschutzgebiet joggen oder spazieren. Die Wege sind nach den heftigen Regen, die alle paar Tage auf das Dach prasseln, matschig. In den Bäumen singen die Vögel, vor allem Tuis, Neuseelands bekannteste Singvögel. Schwarzes Gefieder, weiße Brustlocke.
Die Autosuche läuft besser als erwartet. Unsere erste Probefahrt haben wir schon am Tag nach unserer Ankunft in Auckland. Ross aus Schottland ist extra nach Glenfield gefahren, um uns seinen Honda Odyssey zu zeigen. Wir kaufen sein Auto trotzdem nicht. Die Bremsen quietschen, die Airbag-Leuchte leuchtet, im Motorraum wurden ein paar Drähte mit Duct Tape zusammengeklebt.
Zwei Tage später werden wir fündig. In Manukau, im Süden Aucklands, schauen wir uns einen Kombi an. Einen silbernen Nissan Expert Jahrgang 2002, mit rund 246.000 Kilometer auf dem Tacho, für 1500 Euro mit Matratze und Campingkocher. Die Anfahrt (Bus – Zug – Bus) dauert länger als zwei Stunden, zurück brauchen wir nur eine halbe. Diggitwo, so nennen wir unser neues Gefährt in Gedenken an unseren blauen australischen Holden Commodore Diggity, fährt sich gut.
Nach ein paar Tagen geht allerdings die Motorleuchte an. Auf dem Rückweg von unserem ersten Ausflug in Auckland blinkt sie gelb auf und will nicht mehr ausgehen. Wir fahren zum Pupuke-See und zum halbmondförmigen Takapuna-Strand, wo wir am Meer entlanggehen und die Häuser der reichen Anwohner anschauen. In Devonport spazieren wir nachmittags auf den Mount Victoria. Auf dem Gipfel setzen wir uns ins Gras, betrachten eine Weile die Vulkaninsel Rangitoto und Aucklands Skyline.
Abends gucken wir beim Abendessen eine Folge Fresh Off the Boat mit Alycia an. Sie hat sich erkältet, hustet viel und trinkt einen Ingwertee nach dem anderen. Drei Tage später ist auch mein Kopf komplett zu. Meine Nase läuft ununterbrochen, ich muss oft niesen, bin geschwächt.
Bis wir nach Mission Bay umziehen, um auf Indie und Asha aufzupassen, vergehen zwar noch ein paar Tage, aber die Erkältung nehme ich mit. An einem Samstag ziehen wir um. Jhonny fährt uns die steile Einfahrt hoch zur Straße, an der wir Diggitwo geparkt haben. Er hält kurz am Briefkasten, dann verschwindet das Auto wieder zwischen Farnbäumen und Palmblättern.
Über die achtspurige Auckland Harbour Bridge fahren wir in die Innenstadt, dann am Wasser entlang nach Mission Bay. Pünktlich um 14 Uhr klingeln wir an der Tür unserer Housesitting-Gastgeber. Die sind im Packfieber. Wir sind froh, dass unser Schlafzimmer im unteren Teil des Hauses ist, dass wir den Kindern und den Koffern aus dem Weg gehen können.
Eine Stunde später sind wir allein mit den zwei Katzen. Indie und Asha sind sehr scheu. Sie verbringen die meiste Zeit draußen, bleiben nur länger, wenn es Futter gibt. Beide sind recht füllig. „Die Kinder geben ihnen jedes Mal etwas, wenn sie miauen“, das wissen wir von unserer Gastgeberin. Ich vermute, dass die Kinder, wie kleine Menschen das nun mal so machen, beim Spielen mit den Katzen ab und zu etwas ruppig sind, denn streicheln lassen sich Indie und Asha anfangs nicht. Es dauert, bis sie sich zu uns aufs Sofa oder aufs Bett trauen. Deshalb bemerken wir die fruchtfliegenartigen Insekten erst am Dienstag.
Nur vier Minuten nach meiner Nachricht antwortet unsere Gastgeberin: „Oh, das hört sich nicht gut an. Wenn es euch nichts ausmacht, sie zum Tierarzt zu bringen, wäre das super.“ Ich sage Alex Bescheid, rufe die Tierärztin an. Wir bekommen einen Termin um 16 Uhr.
Ich packe Indie in den Katzenkorb, Asha hat sich rechtzeitig versteckt. Alex nimmt den Korb im Auto auf den Schoß, ich fahre zur Tierarztpraxis, die zum Glück nur ein paar Straßen weiter ist. Im Wartezimmer ist Indie, die bis eben kläglich miaut hat, still. Außer uns sind da nur Hundebesitzer.
Schon nach zehn Minuten ruft die Tierarzthelferin Indies Namen auf. Wir folgen ihr in den Behandlungsraum. Die Tierärztin braucht nicht lange, um das Problem zu erkennen: „Flöhe.“ Einer springt vom Untersuchungstisch. Die Tierärztin weicht zurück. Nachdem sie Indie gewogen und ihre Temperatur gemessen hat, streicht sie ihr ein Anti-Floh-Mittel in den Nacken. Wir nehmen eine zweite Ampulle für Asha mit. Und ein paar Flöhe in den Norden Neuseelands, als wir das Haus vier Tage später verlassen. Aber das stellen wir erst einige hundert Kilometer weiter nördlich fest.