Der Wächter deutet in die Richtung, aus der wir gekommen sind. „Keine Besucher“, sagt er. Alex und ich schauen uns ratlos an. Unserer Offline-Karte zufolge stehen wir direkt vor dem Eingang des Wasserparks Ho Thuy Tien. Der verlassene Park ist einer dieser typischen Instagram- und Youtube-Orte: sehr fotogen, aber längst kein Geheimtipp mehr.
Wir sind so fasziniert, dass wir ihn dennoch anschauen wollen. In Hué, der ehemaligen Kaiserstadt im Zentrum Vietnams, wo wir fünf Tage verbringen, leihen wir uns Fahrräder aus. Der Verkehr ist etwas weniger chaotisch als in der Hauptstadt Hanoi, doch es kostet immer noch Nerven, sich in einem Pulk aus Autos, Rollern und Fahrrädern von Ampel zu Ampel zu bewegen.
Ich schalte mental auf Durchzug, lasse mich wie in einem Schwarm von Fischen mit der Masse treiben. Und bereue es, die Atemmaske nicht mitgenommen zu haben, die uns Alex‘ Freund Marian in Peking geschenkt hat. Der Abgasdunst verflüchtigt sich erst in den Ausläufern der Stadt.
Der Wasserpark Ho Thuy Tien liegt rund acht Kilometer außerhalb von Hué. Er wurde von 2001 bis 2004 erbaut, aber nie fertiggestellt. Umgerechnet 2,7 Millionen Euro soll die Anlage gekostet haben. Die Investition rechnete sich nicht: Die Besucher blieben aus, der Park wurde geschlossen.
Allein der Wächter am Eingang ist geblieben. „Keine Besucher!“, wiederholt er. Wir drehen um. „Es muss doch noch irgendeinen anderen Weg in diesen Park geben“, sage ich zu Alex, als wir zurück zur Hauptstraße radeln.
„Wollt ihr euch den Wasserpark ansehen?“, fragt in dem Moment ein junger Vietnamese, der links neben der Straße entspannt auf seinem Roller liegt. „Der Wächter möchte Geld von euch. Es gibt noch einen zweiten Eingang ein Stück weiter. Für 40.000 Dong lässt er euch dort rein.“
Es ist ein abgekartetes Spiel, dass der Wächter und der junge Mann auf seinem Roller spielen. Eigentlich sollten wir ihr korruptes Verhalten nicht unterstützen, doch die Neugier überwiegt.
Eine Viertelstunde später erreichen wir den zweiten Eingang. Neben uns sind dort noch zwei andere Touristen, ein junges Paar aus Spanien. Auch sie entrichten das Bestechungs-Eintrittsgeld von umgerechnet knapp zwei Euro, bevor sie mit ihrem Roller in den Park fahren. „Kein Klettern, keine Graffiti“, sagt der Wächter noch, als wir davonradeln.
Wir ketten die Fahrräder an einen Baum, um den Park zu Fuß zu erkunden. Über eine Brücke gehen wir in Richtung des Stadiums, in dem die Delfinshows hätten stattfinden sollen. Doch ein paar braune Rinder versperren uns den Weg. Wir kehren um. In Rumänien hatten wir bereits eine wenig vergnügliche Begegnung mit zwei Kühen, eine weitere brauchen wir beide nicht.
Auf einem Weg aus Pflastersteinen spazieren wir in Richtung des monströsen Drachens, der über dem Thuy-Tien-See thront. Der Himmel ist bedeckt, ein Windspiel erklingt aus der Ferne. Obwohl die Spanier und wir nicht die einzigen Schaulustigen auf dem Gelände sind, fühle ich mich wie eine Entdeckerin. Es macht mir Spaß, die verfallenen Attraktionen des Parks auszukundschaften und die verrosteten, von Pflanzen überwucherten Skulpturen von Nahem anzuschauen.
Der riesige Drache war einst der Mittelpunkt des Parks. Sein Bauch war voller Aquarien, in denen Haifische und Rochen schwammen. Aus seinem Maul konnte man über den Thuy-Tien-See sehen. Wir steigen eine schmale Wendeltreppe empor in den Kopf des Giganten. Das zerbrochene Glas der runden Fenster liegt noch immer auf den beigen Fliesen, die Wände sind mit Tags beschmiert.
„Wie schön hätte dieser Park sein können“, geht es mir durch den Kopf, als wir im Maul des Drachens stehen. Das Schicksal wollte es wohl nicht so. Das Stahlgerüst des Drachens ist verrostet, in den Aquarien liegen Steine und hagelkorngroße Glassplitter.
Wir gehen weiter, an einer ehemaligen Ferienanlage vorbei, von der im Dickicht nur zwei Häuser stehen, zu den Rutschen und dem Kinderbecken. Die Szenerie gleicht einem Horrorfilm: Ein kleiner Elefant steht vor dem moosgrünen Wasser, auf dem Grund treiben abgestorbene Palmwedel.
Zu guter Letzt nähern wir uns noch einmal dem Stadium. Die Kühe sind mittlerweile weitergezogen. Vor den Eingängen liegt Kuhdung, viele der gelben und blauen Plastiksitze im Inneren fehlen. Wir setzen uns, verweilen einige Augenblicke. Am Horizont ist ganz klein der Drachenkopf zu sehen.
Am Tag darauf gönne ich mir ein Kontrastprogramm: Ich besichtige die Zitadelle Hués auf der gegenüberliegenden Seite des Parfüm-Flusses, der die 340.000-Einwohner-Stadt mit seinen 200 bis 300 Metern Breite in eine Alt- und eine Neustadt teilt. Wir übernachten in der Neustadt bei Binh und Tinh, die sich bei der Arbeit in einer Nichtregierungsorganisation (NGO) kennengelernt haben.
Während Tinh noch immer bei derselben NGO arbeitet, dort Mädchen zum Fußball animiert, um deren Selbstbewusstsein zu stärken, ist Binh inzwischen bei einer anderen NGO tätig. In einem Team von sechs bis acht Leuten säubert er die Wälder hinter Hué von Bomben und von Landminen. Kein ungefährlicher Job: Bis heute liegen in der Erde Vietnams Millionen nicht explodierter Minen. 10 bis 15 davon stöbern Binh und seine Kollegen mit ihren Metalldetektoren täglich auf. „Manchmal auch eine riesige Bombe“, sagt Binh im lichtdurchfluteten Essbereich seines Guesthouses, wo wir beieinander sitzen und reden.
Mehr als gerne hätte ich ihn bei seiner Arbeit begleitet, um darüber zu schreiben, doch meine Anfrage kommt zu kurzfristig. Er brauche mindestens zwei Wochen Vorlauf, um eine Journalistin auf einen der Suchgänge mitzuschicken, lässt mich der Pressereferent der NGO wissen. Vielleicht ist es zu meinem Besten: Alex und ich sind nur mit einem Touristenvisum im Land, genau genommen darf ich in Vietnam gar nicht arbeiten. Ich muss mich mit Binhs Schilderungen begnügen.
Wohl kaum ein Vietnam-Besucher kommt umhin, sich mit der Geschichte seines Urlaubslands auseinanderzusetzen. Mit der Besetzung durch die Franzosen im 19. Jahrhundert, mit dem Einfallen der Amerikaner Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit dem Agent Orange und den Napalmbomben.
Einen kurzen Blick in Vietnams Vergangenheit haben wir bereits ein paar Tage zuvor auf dem Weg nach Hué erhalten. Von Dong Hoi fahren wir in einem Touristenbus zu den Vinh-Moc-Tunneln in der DMZ. Die Entmilitarisierte Zone (Demilitarized Zone) war von den Franzosen während des Indochinakriegs (1946 bis 1954) als Trennlinie zwischen Nord- und Südvietnam eingerichtet worden.
Während des Vietnamkriegs (1955 bis 1973) war sie, obwohl nur etwa hundert Kilometer lang und wenige Kilometer breit, der meistumkämpfte Landstrich Vietnams: die Front zwischen dem kommunistischen Norden und dem vom Westen unterstützten antikommunistischen Süden.
Das Dorf Vinh Moc, rund 600 Kilometer südlich von Hanoi, wurde 1965 von amerikanischen Napalmbomben zerstört. Rund 60 Menschen starben in den Flammen. Noch im selben Jahr begannen die Dorfbewohner mit dem Bau eines Tunnelsystems. 18 Monate lang gruben sie Tag und Nacht an den Schutzräumen, während die Amerikaner Bombe um Bombe abwarfen. Bis zum Ende des Kriegs landeten etwa 9000 Tonnen Bombenmaterial in dem Gebiet – pro Einwohner rund sieben Tonnen.
1967 waren die Tunnel bezugsbereit. Sechs Jahre lang lebten mehr als 600 Menschen in den engen, dunklen Erdschächten, die eigentlich nur für 300 Personen ausgelegt waren.
Die schmalen Eingänge wurden so gebaut, dass sie aus der Luft nicht zu erkennen sind, erklärt die junge Frau, die uns in und durch die Tunnel führt. Schon nach den ersten Schritten wird es finster um uns – ohne unsere Handytaschenlampen würden wir überhaupt nichts mehr erkennen.
Die Lehmschächte sind unverputzt, eng und extrem niedrig. Für Klaustrophobiker muss es eine Qual gewesen sein, jahrelang fast ohne Licht im Inneren der Erde auszuharren. Kerzen und andere Lichtquellen waren wertvoll und wurden nur sehr selten angezündet.
Doch die Bewohner Vinh Mocs überlebten. Im Lauf der Jahre, die sie unter der Erde verbrachten, wurden sogar 17 Babys geboren. „Von ihnen sind 16 noch am Leben“, weiß unsere Führerin. Immer tiefer folgen wir ihr in die Erde. Das unterste der drei Tunnelsysteme liegt 23 Meter unter der Oberfläche. Trotz mehrerer Luftschächte ist es stickig.
Wir stolpern durch die unebenen Gänge, müssen ab und zu den Kopf einziehen, um nirgends anzustoßen. Und fühlen uns erleichtert, als wir durch den Ausgang treten, auf einmal direkt am Meer stehen, das eine Betonmauer vom Dschungel trennt. „Hier haben die Dorfbewohner unter Lebensbedrohung Fisch gefangen“, erzählt die Vietnamesin. „Oft konnten sie aber auch einfach die toten Fische einsammeln, die von den Bombenexplosionen an den Strand gespült worden waren.“
Sechs Jahre lang. Ein solches Leben. Wir können es uns kaum vorstellen.