Der lange Weg nach Peking

30 Stunden dauert unsere Fahrt von Ulan Bator nach Peking, von der Hauptstadt der Mongolei bis in die Hauptstadt Chinas. Im Nachtzug durchqueren wir die mongolische Steppe und die Wüste Gobi. Aus dem Radio unseres Vier-Personen-Abteils plärrt laut mongolische Folklore, bis wir herausfinden, dass der Drehschalter am Kopfende unserer Liegen nicht die Raumtemperatur, sondern die Lautstärke des Radios regelt.

Ansonsten verläuft die Nacht ruhig. Unsere beiden Bettnachbarn beschäftigen sich hauptsächlich mit ihren Handys und legen sich früh schlafen. Um halb acht Uhr morgens öffnet eine Zugbegleiterin die Abteiltür, überreicht uns die Ausreiseformulare. Der Zug fährt noch immer durch die mongolische Leere, passiert vereinzelt Jurten, Pferde- und Rinderherden. Um 8.25 Uhr erreichen wir Zamiin-Üüd, den letzten mongolischen Bahnhof vor der Grenze. Die mongolischen Zollbeamten kontrollieren unser Gepäck und die Reisepässe, um 10 Uhr fährt der Zug weiter. Wir sind in China.

Die Einreise ist damit aber noch nicht gemeistert. In der Bahnhofshalle von Eren Hot müssen wir unsere Einreiseformulare ausfüllen. Das anschließende Prozedere gleicht der einer Flughafenkontrolle: Die chinesischen Zollbeamten überprüfen die Reisepässe, scannen die Fingerabdrücke, anschließend wird das Gepäck durchleuchtet.

Bei uns dauert die Kontrolle etwas länger als üblich. Aus der Menge der Wartenden werden wir als Einzige zur Seite gebeten. In einem kleinen Raum neben der Ankunftshalle blättern zwei Beamte durch unsere Reisepässe, zwei weitere geben Suchbegriffe in einen Computer ein. Wonach sie suchen, sagen sie uns nicht.

Nach zehn Minuten wird mir mulmig zumute. In meinem Visum habe ich vermerkt, als Touristin einzureisen, nicht als Journalistin. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich tatsächlich ein Problem hätte, wenn die Beamten meinen Beruf erfahren würden, möchte es aber auch nicht herausfinden. Die Beamten erkundigen sich nach jedem einzelnen Land, das wir besucht haben. Obwohl sie in unseren Reisepässen stehen, fragen sie auch nach unseren Geburtsorten.

Zwanzig Minuten später endet die Kontrolle. Wir dürfen unsere Fingerabdrücke abgeben und bekommen dafür einen Einreisestempel. Als wir unsere Rucksäcke auf das Fließband legen, um sie durchleuchten zu lassen, ist außer uns und den Zollbeamten niemand mehr in der Bahnhofshalle.

 

Der Bahnhof in Eren Hot. Hier erreichen wir China.

Zu Fuß gehen wir zum Busbahnhof, der etwa einen Kilometer entfernt ist. Die chinesischen Schriftzeichen auf den Schildern und Werbeplakaten sind ungewohnt. Wir kaufen Fahrkarten für den Sleeper-Bus nach Peking, einen Bus, in dem Liegen statt Sitze sind. Jeweils drei Stockbetten befinden sich in einer Reihe. Eineinhalb Stunden müssen wir warten, um 14.45 Uhr fährt der Bus los.

Die Landschaft, die wir durchfahren, unterscheidet sich nicht sehr von der, die wir von der Mongolei gewohnt sind: flache Steppen, hin und wieder Ziegenherden. Am späten Nachmittag fängt es an zu regnen. Die meisten unserer Mitfahrer schlafen, wir schauen lieber aus dem Fenster.

Um 18 Uhr hält der Bus eine halbe Stunde vor einer Raststätte. Für zwei, drei Euro gibt es dort ein ganzes Abendessen. Alex traut sich an eine trockene Dampfnudel. Ich bleibe bei unseren mitgebrachten Keksen. Ein paar Tage später werden wir den Satz „Ist das ohne Fleisch?“ in vereinfachtem Chinesisch auf unseren Smartphones speichern, was mir als Vegetarierin die Suche nach Essen in China sehr erleichtert. Doch noch haben wir weder den Satz noch eine chinesische SIM-Karte, mit der wir ihn im Internet nachschlagen könnten. Daher verzichte ich auf ein warmes Abendessen.

 

Im Sleeper-Bus sind Liegen statt Sitze.
Die meisten unserer Mitfahrer verbringen schon den späten Nachmittag schlafend.

Kurz bevor wir weiterfahren, fängt es an zu gewittern. Der Regen, der auf das Busdach trommelt, macht mich schläfrig. Um kurz vor 21 Uhr schalte ich den Podcast aus, den ich gerade höre, und versinke in unruhige Träume. Erst, als wir durch die Ausläufer Pekings fahren, wache ich wieder auf. Das kleine Mädchen, das rechts neben mir auf dem oberen Stockbett liegt, weint. Es hält sich die Ohren zu und wimmert. Seine Mutter, die einige Betten weiter hinten liegt, schläft offenbar, bekommt nicht mit, dass ihre Tochter Panik hat. Ich ziehe die Decke unter dem Kopf des Mädchens hervor, breite sie über ihrem Körper aus. Es ist dunkel und kalt im Bus, die Klimaanlage läuft. Ich streichle den Oberarm des Mädchens, doch es hört nicht auf zu weinen. Endlich kommt die Mutter und nimmt die Kleine in die Arme.

Um kurz nach halb zwei Uhr nachts hält der Bus in einer Seitenstraße. Wir haben schon im Internet gelesen, dass die Fahrer der Sleeper-Busse aus Eren Hot häufig bis zum Morgengrauen abwarten, um ihre Fahrgäste vor einem Metro-Eingang abzuliefern. Doch wir wollen wir nicht länger in dem stickigen Bus ausharren.

Wir steigen aus, bitten den Fahrer, die Gepäckklappe zu öffnen und gehen mit unseren Rucksäcken zur Hauptstraße. Dank unserer Offline-Karte wissen wir, wohin wir gehen müssen, um ein Taxi zu erwischen, das in unsere Richtung fährt. Trotz der späten Stunde müssen wir nicht allzu lange warten, bis ein Taxi anhält. Der Fahrer spricht kein Englisch, aber auch in diesem Fall hilft unsere Offline-Karte weiter.

Rund 20 Kilometer sind es noch bis zur Wohnung von Alex‘ Freund Marian, bei dem wir die kommende Woche übernachten dürfen. Die Dimensionen Pekings sind für uns noch nicht begreifbar. Mit einer Fläche von 1369,9 Quadratkilometern ist allein die Kernstadt größer als Rügen und Bremen zusammen.

Marian wohnt seit 2014 in China, seit Sommer 2017 in Peking. Bei unserer Ankunft ist er allerdings geschäftlich in den USA, deshalb holt uns sein Arbeitskollege Kelvin, der im selben Gebäude wohnt, um 3 Uhr früh bei den Pförtnern am Eingang ab.

Statt sich über unsere späte Ankunft zu ärgern, überreicht uns Kelvin nicht nur einen Umschlag von Marian mit den Zugangsdaten zu seiner Wohnung, sondern auch selbstgemachte Süßigkeiten von seiner Ehefrau. Wir sind überrascht von der warmherzigen Geste einer Person, die wir nicht einmal persönlich kennen. Im Aufzug verabschieden wir uns herzlich von Kelvin und bitten ihn, seine Frau lieb von uns zu grüßen. Die beiden wohnen zwei Etagen höher.

Vor Marians Wohnungstür öffnet Alex den Umschlag. Doch statt eines Schlüssels hält er ein Blatt Papier in den Händen. Marian hat eine Geschichte aufgeschrieben. Die darin enthaltenen Zahlen ergeben einen Code, den wir in das Türschloss eingeben müssen. Gar nicht so leicht um 3.15 Uhr morgens.

Wir brauchen einen zweiten Anlauf, dann summt die Tür, wir stehen in der Wohnung. Mehr als 30 Stunden, nachdem wir aus Ulan Bator aufgebrochen sind. 1300 Kilometer liegen hinter uns. Erschöpft vom Nachtzug, der Einreiseprozedur, dem Sleeper-Bus und der Taxifahrt, legen wir uns nach einer kurzen Dusche in Marians weiches Doppelbett. Wir sind im Reich der Mitte.

 

Mithilfe der Zahlen aus Marians Geschichte gelangen wir in seine Wohnung.
Peking-Survival-Kit: ein Not-Mao, eine Eingangskarte und eine Smog-Maske.

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