Dass ich kein Fleisch esse, kann Thao nicht ganz nachvollziehen. „Ich liebe Schweinefleisch! Und Hühnerfleisch! Das schmeckt so lecker!“, ruft die 26-Jährige erstaunt. Sie selbst frühstücke so gut wie immer Pho, Nudelsuppe mit Fleisch, Lauch und Koriander, sagt unsere Gastgeberin. Sie scheint ernsthaft verwundert, dass ich schon seit zweieinhalb Jahren Pescetarierin bin. „Du musst wirklich sehr gesund sein“, sagt Thao und mustert mich mit großen Augen. Dann zeigt sie uns unser Zimmer.
Sechs Monate nach unserem Aufbruch aus Bad Wildbad sind Alex und ich in Hoi An, im Zentrum Vietnams, angekommen. Wir haben mehr als 17.500 Kilometer zurückgelegt, zehn Länder bereist und unglaublich viel erlebt. Allein, dass wir mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren sind, in der Mongolei waren und auf der Großen Mauer, ist für mich die Erfüllung eines Lebenstraums.
Fleischlose Speisen zu finden war unterwegs ab und zu eine Herausforderung – doch bei Weitem keine so große, wie ich erwartet hatte. Auch an diesem Abend werden Alex und ich uns beim Bestellen sehr schnell einig. Wir feiern unser Halbjähriges mit einem Abendessen in der Altstadt.
Im ersten Stock des Restaurants „The Morning Glory“ essen wir gedämpften Reis, gebratene Aubergine und Fisch in Karamellsauce. Die Lautstärke ist für unseren Geschmack etwas zu hoch, das Licht etwas zu grell, aber das Essen schmeckt, wie auch an den Marktständen der Stadt und überhaupt fast überall in Vietnam, hervorragend.
„Kannst du dich noch an unser Abendessen in Rumänien erinnern? Mit Razván, Paul und Andrea?“ „Weißt du noch, wie krass der Smog war an unserem ersten Tag in Peking?“ Während des Essens schwelgen wir in Erinnerungen. Und malen uns aus, was die kommenden Monate für uns bereithalten werden: Wir haben vor, durch Kambodscha nach Thailand zu reisen, nach Malaysia und nach Singapur. Im Containerschiff wollen wir von Kuala Lumpur nach Australien übersetzen.
Was anschließend kommt, wissen wir noch nicht. Die Routen der Frachtschiffe, die Passagiere mitnehmen, ändern sich ständig. Zu diesem Zeitpunkt gibt es weder eine Überfahrt von Australien nach Neuseeland noch von Neuseeland nach Lateinamerika oder in die USA. Mir macht diese Ungewissheit oft zu schaffen. Der Gedanke, dass wir aus Mangel an Alternativen doch fliegen müssen, belastet mich. Abgesehen davon plane ich einfach gern. Am liebsten hätte ich alle Überfahrten längst gebucht.
Durch die ungewohnt stille Fußgängerzone spazieren wir am Fluss Thu Bon entlang zurück zu unserer Unterkunft. In der Altstadt Hoi Ans sind Autos verboten, Roller dürfen nur zu bestimmten Zeiten fahren. Statt des ansonsten allgegenwärtigen Verkehrslärms klingt klassische Musik aus Lautsprechern, schaukeln mit Stoff bezogene, bunte Laternen an den Hauswänden. Wir genießen die relative Ruhe inmitten der 150.000-Einwohner-Stadt, den Anblick ihrer hübschen Gassen.
Hoi An wird von vielen Reisenden als die schönste Stadt Vietnams bezeichnet. Ihre Altstadt gilt landesweit als die einzige, die den Vietnamkrieg unversehrt überstanden hat. In den ehemaligen Lagerhäusern aus dem frühen 19. Jahrhundert befinden sich heute Schneidereien, Schuhgeschäfte und Souvenirläden mit weitgehend identischen Mitbringseln, Mustern und Schnitten.
Maßgeschneiderte Schuhe oder Kleidung bekommen Touristen wohl nirgends so schnell und günstig wie in Hoi An – was selbstredend auch daran liegt, dass der Lohn der Schuster und Schneiderinnen nicht dem entspricht, den sie in Deutschland für ihre Arbeit bekommen würden.
Trotz der fortgeschrittenen Stunde drängen sich zwischen den bunten Häusern die Besucher aus China, Deutschland und Australien mit ihren Kameras und Selfie-Sticks, parken die Reisebusse am Flussufer in einer langen Reihe. „You want a boat ride?“, hören wir immer wieder.
Hoi An ist zu einem Touristenmagneten geworden: Zum nostalgisch-romantisierenden Bild einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Zu einem Ort, der der Seele aber auch ein bisschen guttut, weil er die hässlichen Seiten dieses Landes, in dem noch immer mehr als zehn Prozent der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze leben, ausblendet.
Diese Seiten erleben wir zwei Wochen später in Ho-Chi-Minh-Stadt. Sieben Tage verbringen wir in der ehemaligen Hauptstadt Südvietnams am Fluss Saigon. Im sehr guten Kriegsopfermuseum (War Remnants Museum) lesen wir von den Gräueln des Vietnamkriegs und seinen Folgen.
Millionen von Vietnamesen verloren während der amerikanischen Offensive Familienmitglieder, Freunde, ihre Gliedmaßen. Hunderttausende bekamen nach dem Einsatz von Napalm oder dem Entlaubungsmittel Agent Orange Krebs, wurden mit Missbildungen geboren. Mit den physischen und psychischen Konsequenzen des Krieges hat das Land bis heute zu kämpfen.
Aber nicht nur das Kriegsopfermuseum geht uns in Ho-Chi-Minh-Stadt, kurz HCMC, nahe. Die kleine Wohnung, die wir uns gemietet haben, um ein paar Tage in Ruhe zu arbeiten, liegt im Distrikt 17, einem Wohnbezirk mit engen Gassen am Nhieu-Loc-Thi-Nghe-Kanal. Das Viertel könnte malerisch sein, ja sogar bezaubernd, mit Straßen, die so schmal sind, dass nur Fußgänger und Roller hindurchpassen, mit Wohnungen auf Holzstelzen direkt am Wasser.
Doch die meisten Menschen im Distrikt 17 leben in extremer Armut. In ihren oft nur ein-zimmer-großen Verschlägen hängt meistens zwar ein großer Fernseher, an allem anderen mangelt es jedoch. Ratten und Kakerlaken huschen nachts über die Straßen, im schwarzen Wasser der Kanäle türmt sich der Plastikmüll vom Grund bis an die Oberfläche. Ihre Abfälle werfen die Bewohner der Baracken einfach aus dem Fenster.
An der nicht weit entfernten achtspurigen Hauptstraße wird der Verkehr erst spätnachts weniger, in der Innenstadt fahren die Roller während des Feierabendverkehrs sogar auf den Gehwegen. Ich bilde mir ein zu spüren, wie sich die schädlichen Abgase beim Einatmen in meinen Lungen sammeln.
Als ich zwei Männer sehe, die auf einem kleinen Boot durch den Kanal fahren und angeln, muss ich meinen Blick abwenden. Ich kann mir nicht vorstellen, die Fische, die in diesem Wasser schwimmen, zu essen. Dass die Männer wahrscheinlich keine andere Wahl haben, trifft mich.
Tagelang muss ich immer wieder an sie denken. Tagelang fühle ich mich schlecht, weil es Alex und mir so gut geht. Wir können uns eine Wohnung mit Klimaanlage leisten, uns sämtliche Lebensmittel kaufen, auf die wir Lust haben. Dass wir nichts an der Situation der Menschen im Distrikt 17 ändern können, dass es auf der Welt immer Menschen geben wird, die in so großer Armut leben, quält mich.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, wenn man hier geboren wurde, wenn man nur diese Stadt kennt und nichts anderes“, notiere ich in meinem Reisetagebuch. „Saigon ist ein Moloch.“
Selbstverständlich haben wir diese Ungleichheit schon zuvor erlebt, nur nicht in diesem Ausmaß. In Bai Xep verbringen wir im Anschluss an Hoi An einige Tage am Meer. Weil es Nebensaison ist und die Besucher ausbleiben, haben wir für wenig Geld ein Zimmer in einem großen Hotel bekommen. Inklusive Frühstücksbuffet, Swimmingpool und Fitnessraum.
Es ist das erste Mal innerhalb von sechs Monaten, dass wir uns diesen Luxus gönnen. Komplett genießen kann ich ihn allerdings nicht. Während wir am halbmondförmigen Strand liegen und den Wellen lauschen, fahren auf der gegenüberliegenden Seite des winzigen Fischerdorfs die Bewohner Bai Xeps in runden Korbbooten aufs Meer und fangen Fische.
Mit dem Taxi, dem Zug, dem Bus und noch einem Taxi fahren wir nach unserer viertägigen Auszeit in Bai Xep nach Da Lat. Die 400.000-Einwohner-Stadt liegt auf 1500 Metern Höhe, es ist rund zehn Grad kühler als an der Küste. Pinien wachsen auf den Hügeln um die „Stadt des ewigen Frühlings“, Kohl, Erdbeeren und Blumen in den Gewächshäusern.
Wir übernachten in einem sechseckigen Raum eines Hostels etwas außerhalb der Stadt am Waldrand und bereuen die Entscheidung nicht. Auf der Einbahnstraße vor dem Hostel fahren nur wenige Roller und Autos, die Terrasse ist gesäumt von Pinien.
Bevor wir weiter nach HCMC reisen, erledigen wir das übliche Sightseeing-Programm: Wir fahren zum Datanla-Wasserfall, sieben Kilometer südlich von Da Lat, der schön, aber auch sehr touristisch ist. Wir spazieren am Xuan-Huong-See entlang, wo wir ein Hochzeits-Fotoshooting und Urlauber beobachten, die in schwanförmigen Tretbooten übers Wasser gleiten, während eine Frau am Ufer schief und in der wahrscheinlich höchstmöglichen Lautstärke ihrer Lautsprecherboxen Karaoke singt.
Außerdem besuchen wir das Hang Nga Crazy House, ein Hotel, das mit seinen amorphen Formen, seinen psychedelischen Farben und den verschlungenen Gängen an ein Gemälde von Salvador Dalí erinnert. Seine Architektin Dang Viet Nga entwarf das Verrückte Haus als einen überdimensionalen Banyanbaum, mit Spinnwebenfenstern und Pilzhockern im Inneren.
An einem Dienstagmorgen verlassen wir HCMC. Mit zwei Banh Mis (mit Ei, Gurkenstreifen und Koriander belegte Baguette-Brote) als Wegzehrung, fahren wir mit dem Bus erst aus dem Distrikt 17 in die Innenstadt, danach in einem Fernbus aus der Stadt und über die Grenze nach Kambodscha.
Ich bin ein bisschen wehmütig, während ich dabei zusehe, wie der Bus an den grünen Reisfeldern vor den Fenstern vorbeizieht. Für mich fühlt es sich jedes Mal komisch an, ein Land auf unbestimmte Zeit hinter mir zu lassen. Nicht zu wissen, ob ich jemals wiederkomme. Wir hatten sieben sehr schöne Wochen im lauten, chaotischen, zauberhaften Vietnam.
Wir freuen uns immer wieder wenn einen Reisebericht von Euch erscheint.Sind
gepannt wie es weiter geht in Kambodscha.
Wir wünschen eine gute Zeit bei bester Gesundheit.
Mit freunlichen Grüßen H.Mooser
Vielen Dank, lieber Herbert. Wir freuen uns sehr über Euer Interesse!
Herzliche Grüße, Melanie und Alex