Kunst und Kommunismus

Nach dem zweiten Klingeln ertönt ein Kratzen in der Freisprechanlage. Jemand spricht. Nur was, verstehen wir nicht. „We are here to see the flat gallery“, sage ich möglichst laut und deutlich: Wir sind hier, um die Wohnzimmergalerie zu sehen. Der Türknopf summt, die Tür geht auf.

Ein Stockwerk höher führt uns Albert durch sein Heim, eine Altbauwohnung im Zentrum Bratislavas. Seinen grauen Bademantel trägt er falsch herum, die dunklen Haare sind zerzaust. „Sorry, it got a little late yesterday“, sagt er und blinzelt uns aus geröteten Augen an. Albert Vlk, 42 Jahre alt und Filmemacher, feiert gerne. Und er mag Kunst. Zusammen mit seinem Partner, dem Kunsthistoriker Andrej Jaroš, betreibt er seit 2012 die Flatgallery: eine Ausstellungsreihe, die es jungen Künstlern ermöglichen soll, ihre Werke zu zeigen – abseits der großen, kommerziellen Galerien. Zwischen Holzdielen und Designermöbeln hängen derzeit die Arbeiten von Eduard Klena. Der slowakische Künstler zeichnet Fantasiewelten mit schwarzer Tusche, mit roter Acrylfarbe setzt er Akzente.

 

Bitte klingeln: Hier geht es zur Flatgallery.
Albert Vlk vor einem Kunstwerk von Eduard Klena

Alle zwei Monate tauschen Albert und Andrej die Bilder an den Wänden ihres Wohnzimmers aus und veranstalten eine Vernissage, zu der sie Freunde, Bekannte und die Bekannten ihrer Bekannten einladen. Die Flatgallery soll auch ein sozialer Treffpunkt sein, ein Ort der Begegnungen. Wer die Schau sehen möchte, klingelt einfach. „An manchen Sommertagen kommen 20, 30 Leute“, sagt Albert. Die meisten Besucher sind, wie wir, Touristen.

Es ist unser zweiter Tag in Bratislava. Die kleine, hübsche Hauptstadt der Slowakei zählt nicht einmal eine halbe Million Einwohner. Nach unserem viertägigen Aufenthalt in Wien, nach Alleen und weißen Prachtbauten, kommt sie uns noch kleiner vor. In Wien dürfen wir in der WG von Natalia, einer Freundin meiner Schwester Petra, übernachten. Dort waschen wir zuerst unsere nicht nur dezent nach Schafstall riechende Kleidung, dann schauen wir uns die Stadt an: das Museumsquartier, das Volkstheater und das Rathaus, das Burgtheater, die Votivkirche und die Domkirche St. Stephan, die Hofburg, den Burggarten, die Oper.

 

Straßenflucht nahe unserer Unterkunft in Wien
Votivkirche
Stephansdom
Österreichische Nationalbibliothek

Am folgenden Tag gehen wir ins Kunsthistorische Museum, abends treffen Natalia und ihren Freund TJ zum Essen. In der Dunkelheit spazieren wir nach Hause. Zu Hause: das ist für uns nun immer da, wo unsere Rucksäcke stehen. „Daheim“ sagen wir von Anfang an zu unserer aktuellen Unterkunft, das passiert ganz automatisch. Aber dass wir Stuttgart tatsächlich dauerhaft verlassen haben, dass wir unsere Freunde und Familien nun erst einmal nicht treffen können, Hochzeiten, Geburten und Geburtstage nicht miterleben werden, haben wir noch nicht realisiert. Die Reise fühlt sich noch immer an wie ein sehr langer Urlaub.

 

Kunsthistorisches Museum
Die Kunstkammer Wien im Kunsthistorischen Museum
Maria am Gestade
Nur die Liebe zählt.

Das bleibt auch in Bratislava so. Im Stadtviertel Nové Mesto finden wir ein vorübergehendes Zuhause. Fünf Tage wohnen wir im siebten Stock eines Plattenbaus an der Tramlinie, mit Aussicht auf die umliegenden Weinberge. Am rund eineinhalb Kilometer entfernten Kuchajda-See, einem Naherholungsgebiet mit Sportplätzen und Kiosken, gehen wir einmal sogar joggen. Am Tag darauf haben wir beide Muskelkater.

 

Am Kuchajda-See
Straßen in Nové Mesto
Blick aus unserer Wohnung

Die Altstadt von Bratislava erkunden wir an nur einem Nachmittag. Mit der Tram fahren wir zur knapp vier Kilometer entfernten Blauen Kirche. Anschließend schauen wir uns das alte Rathaus an, den Martinsdom und das Michaelertor. Wir spazieren den Burghügel hinauf, fotografieren die braungrüne Donau, die Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes und ihre UFO-förmige Aussichtsplattform. Wir essen Eis auf dem Hviezdoslav-Platz vor dem alten Gebäude des Slowakischen Nationaltheaters.

 

Martinsdom
Seit 1997 schaut Čumil in der Altstadt von Bratislava aus dem Gully.
Anlegestelle an der Donau
Burg Bratislava

In den wenigen Altstadtgassen treffende Touristen, grölende Junggesellenabschiedsgruppen und Einheimische aufeinander, sitzen Hipster vor den Cafés an ihren Laptops. Nichts erinnert mehr an Bratislavas sozialistische Vergangenheit. Wer diese Seite des alten Pressburgs erleben möchte, muss die Donau überqueren: Das Viertel Petržalka auf der südlichen Flussseite ist das einst größte Plattenbauprojekt des Ostblocks. Auch das staatliche Rundfunkgebäude, das wie eine umgedrehte Pyramide aussieht, und das Kriegerdenkmal Slavín, von dem aus man einen schönen Blick auf Burg und Donau hat, sind Überbleibsel des Sozialismus.

An diese Periode ihrer Landesgeschichte denken die Slowaken allerdings nur ungerne. „Während des Kommunismus gab es eine strenge Zensur. Viele Künstler konnten ihre Arbeiten nicht zeigen“, sagt Albert Vlk. „Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen fanden oft im Privaten statt.“ Die Flatgallery spielt mit diesem schweren Erbe, gleichzeitig soll sie den Besuchern zeigen, wie Kunst im Wohnraum funktioniert. Fast alle Bilder, die Albert und Andrej in ihrer Altbauwohnung ausstellen, stehen zum Verkauf. Nach einer halben Stunde verabschieden wir uns, die Galerie wird wieder zu einer normalen Wohnung.

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