Wie er zum Kriegsreporter wurde, weiß Igor selbst nicht. In den Wirren des Revolutionsjahres 2014 fügte sich das einfach. Woran er sich dagegen gut erinnert, ist die Zeit danach. Die Monate, in denen er schon wieder in Sicherheit war, weit weg von der Frontlinie im Osten seines Heimatlandes, wo prorussische Separatisten gegen ukrainische Truppen kämpfen. Diese Monate haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Wenn er damals bei offenem Fenster in seiner Redaktion in Kiew arbeitete und eine Tram vorbei fuhr, brach ihm der Schweiß aus. Er fing an zu zittern, hatte Panik. „Für mich hat sich das angehört wie Sprengkörper, die aus der Luft fallen“, sagt unser Couchsurfing-Gastgeber, als wir bei einem Glas Cider vor einer Bar in Kiew stehen. Heute geht es ihm besser, doch in den Donbass zurückzukehren, wo trotz eines Waffenstillstandsvertrags noch immer fast täglich Soldaten und Zivilisten sterben, kann er sich nicht vorstellen.
Von dem anhaltenden Konflikt mit Russland bekommen wir während unseres Ukraine-Aufenthalts zum Glück kaum etwas mit. Mit dem Zug fahren wir Ende Juni von der Republik Moldau nach Odessa. Fünf Tage verbringen wir in der Hafenstadt. Aus den Fenstern unserer Unterkunft können wir das Schwarze Meer sehen. Am Küchentisch sitzend schauen wir morgens und abends zu, wie sich die Farbe des Wassers im Licht verändert, wie sich die Wellen aufbäumen und wieder glätten. Ein meditativer Anblick.
Wir wohnen sechs Kilometer außerhalb der Stadt, in einer Gegend, in der ukrainische Familien wochenlang Urlaub machen. Unten am Strand, zu dem man durch ein schwarzes Eisentor und einen düsteren Durchgang nur dann gelangt, wenn man den Code kennt, sind wir die einzigen Ausländer. Auf den warmen Steinen liegen wir Handtuch an Handtuch neben den braungebrannten Strandbewohnern, atmen die salzige Luft ein und hören mit geschlossenen Augen dem Meeresrauschen zu. Ins Wasser gehen wir nur kurz mit den Füßen – wir trauen uns nicht, durch den dichten Algenteppich zu schwimmen, der unter der Oberfläche wogt.
Einige der Strandwohnungen sind nach vorn hin offen, geben den Blick frei auf kochende Frauen, Karten spielende Kinder und nasse Badehosen, die über Plastikstühlen hängen. Vor den Wohnräumen, die nicht selten Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem sind, grillen beleibte Männer oben ohne Würstchen und Schaschlik-Spieße. Die sozialen Geschlechterrollen scheinen in der Ukraine noch sehr konservativ verteilt zu sein. Abends schauen wir das WM-Spiel Deutschland gegen Schweden auf dem Laptop an. Nach dem schier unfassbaren 2:1-Sieg, dem Tor von Toni Kroos in der 95. Minute, können wir erst einmal nicht einschlafen. Wir haben zu viel Adrenalin im Körper, obwohl wir beide eigentlich keine großen Fußball-Fans sind.
Tags darauf fahren wir mit dem Minibus ins Zentrum. Die 45-minütige Fahrt kostet nicht einmal 20 Cents. Wir steigen am Bahnhof aus, spazieren durch Alleen, die mich an Barcelona denken lassen, Richtung Hafen. Wir steigen die 192 Stufen lange Potemkinsche Treppe hinauf, die durch Sergei Eisensteins sowjetischen Propagandafilm „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) bekannt wurde, fotografieren die Oper und essen im stylishen City Food Market vegane Burger mit Ingwer. Die Hipster-Trends aus London, Warschau, Berlin-Kreuzberg sind längst in Odessa angekommen.
Mit dem Bus fahren wir weiter nach Kiew. Die erste Nacht in der Hauptstadt verbringen wir in einem Hostel im Industriegebiet. Im ukrainischen Fernsehen schauen wir abends dabei zu, wie Deutschland gegen Südkorea verliert und aus der WM ausscheidet. Von nun an drücken wir den Russen die Daumen, immerhin werden wir noch in derselben Woche in das diesjährige WM-Gastgeberland einreisen.
Am folgenden Morgen ziehen wir um, zu unseren Couchsurfing-Gastgebern Yuliia und Igor. Die Anwältin und der TV-Redakteur wohnen nur wenige Hundert Meter vom zentralen Majdan-Platz entfernt, auf dem von November 2013 bis Februar 2014 tausende Ukrainer gegen die Politik ihrer Regierung protestierten. Auch Yuliia und Igor, beide 25 Jahre alt, waren damals unter den Demonstranten. Sie aus privaten Gründen, er aus beruflichen: Er berichtete live für einen lokalen Fernsehsender.
„Ich weiß nicht, wie die Ukraine aussehen würde, wenn wir die Revolution verloren hätten“, sagt Yuliia, während sie mir in ihrer kleinen, mit Geschirr und Krimskrams vollgestellten Küche eine große Tasse Kaffee einschenkt. „Vielleicht würden wir heute zu Russland gehören.“ Ihre Katze Lea springt auf Alex‘ Schoß, rammt ihm schnurrend die Krallen in die Oberschenkel. Yuliia trägt verschiedene Sehenswürdigkeit in unsere Offline-Karte ein und empfiehlt uns eine günstige ukrainische Restaurantkette. Um 14 Uhr verabschieden wir uns voneinander. Wir wollen uns die Stadt ansehen, Yuliia muss Koffer packen. Sie wird an diesem Abend mit dem Zug zu ihrer Familie aufs Land fahren und erst nach unserer Weiterreise zurückkehren.
Wir spazieren zum Majdan, wo Straßenhändler Pelzmützen, Matrjoschka-Puppen und Toilettenpapier verkaufen, auf dem Putins Gesicht abgebildet ist. Seit der Annexion der Krim-Halbinsel im Süden des Landes sind die Ukrainer nicht mehr gut auf Russlands Präsidenten zu sprechen. Am Unabhängigkeitsdenkmal schauen wir die Infotafeln und Fotografien an, die im Gedenken an die Opfer der Revolution aufgestellt worden sind. Mehr als 100 Frauen und Männer kamen bei den Zusammenstößen zwischen Polizei und Regierungsgegnern ums Leben. Es fühlt sich surreal an, auf dem Platz zu stehen, den wir aus der Zeitung und dem Fernsehen kennen, auf dem vor gerade einmal vier Jahren die Barrikaden brannten.
Über den Europäischen Platz gehen wir weiter zum Bogen der Völkerfreundschaft, einem 1982 eröffneten Denkmal, das der Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland gewidmet ist. Auf der Parkovy-Brücke schauen wir Mutigen beim Bungeejumping zu, am Sandstrand des Flusses Dnepr essen wir russisches Plombir-Eis. Außerdem besichtigen wir das Kiewer Höhlenkloster, einen Komplex orthodoxer Kirchen und Klöster, und die Mutter-Heimat-Statue, einen 62 Meter hohen Koloss aus Stahl, vor dem Panzer in den Landesfarben der Ukraine stehen. In einem Park schauen wir abends Paaren beim Salsatanzen zu.
Drei Tage sind wir insgesamt in Kiew. Wir verbringen viel Zeit mit Igor. Einen Nachmittag lang arbeiten wir in seiner TV-Redaktion, während nur wenige Meter von uns entfernt ein Interview live im Fernsehen übertragen wird. Wir können es in diesem Moment selbst kaum glauben, welche Orte wir auf dieser Reise bereits gesehen haben und wie viele außergewöhnliche Menschen wir kennenlernen durften – in nicht einmal zwei Monaten.
Vor unserem Abschied lässt Igor es sich nicht nehmen, uns die St.-Andreas-Kirche und den Andreassteig zu zeigen. Vollbeladen, mit je einem Rucksack vorne und hinten, folgen wir ihm die steile Straße hinauf. Der Andreassteig ist eine der ältesten Straßen Kiews und wird auch als „Ukrainischer Montmartre“ bezeichnet, da viele Künstler dort ihre Gemälde und Schnitzereien verkaufen. An einem der Stände entdecken wir kleine Panzer aus Holz, die gleichzeitig als Spielzeug und als Buntstiftehalter dienen. „Die habe ich alle selbst gemacht“, sagt der Verkäufer, ein Mann um die 60, stolz, als ich einen davon in die Hand nehme. Ich lobe seine Arbeit, gleichzeitig empfinde ich die Vorstellung von Miniatur-Kriegsgerät, mit dem 2-jährige Kinder spielen, als verstörend. Krieg und Frieden liegen in der Ukraine doch näher beieinander als in Deutschland.