In einem Staat, der keiner ist

Alles läuft nach Vorschrift. Wir sitzen in der Bahnhofshalle von Tiraspol und füllen die Einreiseformulare aus, die auf unseren Knien liegen. Doch während ich meinen Namen, meine Reisepassnummer und die Adresse unserer Unterkunft auf den Zettel schreibe, komme ich mir vor wie in einem absurden Theaterstück, in dem nicht nur Alex und ich, sondern auch alle Menschen um uns herum brav die ihnen zugewiesene Rolle spielen.

Tiraspol ist die Hauptstadt von Transnistrien, einem De-facto-Staat mit eigener Regierung, Verwaltung und Militär, der offiziell allerdings zur Republik Moldau gehört. Die Einreiseformulare müssen wir theoretisch gar nicht ausfüllen. Immerhin befinden wir uns noch in Moldawien. Aber das interessiert die beiden streng schauenden Grenzbeamten am Schalter der auf Hochglanz polierten Bahnhofshalle nicht. Wir haben keine andere Wahl als so zu tun, als würden wir tatsächlich in einen anderen Staat einreisen.

„Melanie, wo schleppst du mich da hin? Transnistrien? Davon habe ich noch nie gehört!“, scherzt Alex, als ich ihm einige Tage zuvor vorschlage, auf dem Weg nach Odessa einen Stopp in Tiraspol einzulegen. In Rumänien überlegen wir lange, auf welcher Route wir in die Ukraine einreisen sollen. Wir möchten das Donaudelta im Südosten Rumäniens besuchen und von dort aus weiter nach Odessa reisen. Immer wieder suchen wir nach einer passenden Bus-, Zug- oder Fährverbindung, trotz der geringen Distanz finden wir keine. Uns bleibt nichts anderes übrig: Wir verzichten auf das Donaudelta, fahren mit dem Minibus von Braşov nach Iași und von dort aus mit dem Nachtzug in die Republik Moldau. Von Chişinău fahren regelmäßig Züge nach Odessa.

Um Viertel vor drei Uhr nachts stehen wir am Bahnhof von Iași. Es ist dunkel und kühl, am Gleis befinden sich um diese Uhrzeit nur wenige Menschen. Unser Zug fährt frühzeitig ein. Die Zugbegleiterin kontrolliert unsere Fahrkarten und Reisepässe, dann dürfen wir einsteigen. Wir haben Glück, wir haben das Vierer-Abteil für uns alleine. Nachdem wir unser Gepäck verstaut haben, strecken wir uns auf unseren Liegeplätzen aus. Um 3.10 Uhr setzt sich der Zug ruckelnd in Bewegung. Schlafen können wir beide nicht. Wir sind aufgeregt wegen der Grenzüberquerung: In dieser Nacht verlassen wir die EU auf unbestimmte Zeit.

Gegen 4 Uhr öffnen zwei rumänische Grenzbeamte die Türe: „Haben Sie etwas zu verzollen?“ Unsere Reisepässe bekommen wir nach einer kurzen Kontrolle wieder. Wenige Kilometer darauf wiederholen moldauische Beamte die Prozedur, lassen sich außerdem unser Gepäck zeigen. In Ungheni wird der Zug sodann umgegleist: Zwei Stunden lang fährt er vor und zurück, stößt krachend und rumpelnd mit neuen Waggons zusammen. Es ist Tag geworden, als wir die Fahrt Richtung Osten wiederaufnehmen.

Nach einer schlaflosen Nacht kommen wir um kurz vor halb zehn in Chişinău an. In der Hauptstadt der Republik Moldau dürfen wir bei Simon übernachten. Der 31-Jährige kommt aus Bonndorf, einem Ort in der Nähe von Titisee im Schwarzwald. Er arbeitet für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). In seinem Heim fühlen wir uns fast, als wären wir zurück in Deutschland. Ein ehemaliger GIZ-Kollege und Landsmann hat die Wohnung komplett renoviert und eingerichtet, mit Terrakotta-Fliesen in der Küche und Holzdielen im Wohnzimmer.

Wir genießen es, abends mit Simon auf dem Balkon zu sitzen, Radler zu trinken und Musik zu hören, uns lang zu unterhalten. In der Muttersprache ist für uns eben doch ein ganz anderer Austausch möglich als auf Englisch. Wir reden über die politische Situation in Moldawien, über den Riss, der die Bevölkerung spaltet: Während die eine Hälfte eine Annäherung an Europa fordert, wünscht sich die andere zurück in Sowjet-Zeiten. Wir sprechen auch über Musik, unsere Zukunftspläne und das Reisen. Unser Couchsurfing-Gastgeber war schon viel unterwegs: Nach dem Abitur ist er innerhalb von acht Monaten von Mexiko-Stadt nach Buenos Aires gereist, zwischen dem Bachelor- und Masterstudium ist er mit einem Freund von Deutschland nach Indien geradelt. Als wir die Kerzen auspusten und die Musik ausschalten, ist es schon halb zwei.

Während Simon arbeitet, erkunden wir die Stadt. Das Erste, was uns auffällt, ist eine pro-europäische Demonstration, nur wenige Hundert Meter von unserer Unterkunft entfernt. Das Polizeiaufgebot ist riesig, die Beamten tragen schwarze Uniformen, durchsichtige Schutzschilde und Schlagstöcke, sie sehen furchterregend aus. Und das, obwohl die Gruppe der Protestierenden sehr heterogen ist: Neben Studierenden nehmen auch viele ältere Menschen und Familien mit kleinen Kindern an der Kundgebung teil. Da wir in dieselbe Richtung wollen, begleiten wir den Protestzug auf dem breiten Stefan-Mare-Boulevard bis zum Triumphbogen vor dem Regierungsgebäude. Dort trennen sich unsere Wege.

Chişinău ist grüner als wir es erwartet hatten, mit vielen Parks und großen, schattenspendenden Bäumen, die die Straßen säumen. Dass die Republik Moldau einst zur Sowjetunion gehörte, ist vor allem an der Bauweise der Wohnhäuser ersichtlich. Wir schlendern durch die Innenstadt, kaufen Karotten-, Blumenkohl- und Pilzsalat auf dem Markt, der so groß ist, dass wir zwischen Jagdmessern, Schlüpfern und frischen Johannisbeeren kurz die Orientierung verlieren. Am Bahnhof kaufen wir Fahrkarten nach Tiraspol.

 

Denkmal für die Soldaten, die Chişinău von der Besetzung befreit haben.
Pro-europäische Demonstranten auf dem Stefan-Mare-Boulevard
Das Moldtelecom-Gebäude …
… und das Cosmos-Hochhaus erinnern an Sowjet-Zeiten.
Umgerechnet 1,28 Euro kostet ein Kilo Tomaten auf dem Markt.
Bahnhof in Chişinău

Dort kommen wir am folgenden Morgen an. Nachdem wir die Einreiseformalitäten erledigt haben, geben wir unser Gepäck auf. Unsere Unterkunft können wir erst nachmittags beziehen. Vor dem Bahnhofsgebäude tauschen wir noch etwas Geld um. In Tiraspol kann man nur mit dem Transnistrischen Rubel bezahlen. Der Moldauische Leu ist hier nichts wert.

Gespannt folgen wir der Lenin-Straße in die Innenstadt. In Tiraspol, so haben wir gehört, soll es noch immer aussehen wie zu Zeiten der UdSSR. Doch bis auf den Umstand, dass die Menschen hier Russisch statt Rumänisch sprechen (im Rest Moldawiens ist das die am häufigsten gebrauchte Sprache), dass die Schilder in kyrillischer Schrift geschrieben sind und ein paar in die Jahre gekommene Lada Zhiguli auf den Straßen fahren, können wir keinen großen Unterschied zu Chişinău erkennnen.

Die Regale in den Supermärkten sind gut gefüllt, die Straßen sauber. Eine Mangelwirtschaft wie in Kuba gibt es nicht. Transnistrien ist zwar bei weitem nicht reich, zudem ist die Unterstützung Russlands seit der Krim-Krise und den darauffolgenden Wirtschaftssanktionen der EU zurückgegangen. Doch noch sind die Schattenseiten des Lebens in Tiraspol nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Erst wenn man sich ein bisschen einliest, erfährt man zum Beispiel, dass Bewohner, die nur einen transnistrischen Pass haben, die abtrünnige Region nicht verlassen dürfen. Dass die Meinungs- und Pressefreiheit quasi inexistent ist.

Auf dem Boulevard des 25. Oktobers bauen Arbeiter eine Bühne auf. Am folgenden Abend soll es ein Konzert und Feuerwerk geben. Wir gehen an der Bühne vorbei, fotografieren den Panzer vor der Gedenkstätte für die Gefallenen der Revolutionsjahre 1990 bis 92 und die 20 Meter hohe Lenin-Statue vor dem Parlamentsgebäude. Dann gehen wir einen schmalen Pfad zum Fluss Dnister hinunter, setzen uns auf eine Bank im Schatten und schauen zu, wie sich die Bewohner Tiraspols am Ufer sonnen. Schwimmen ist nur im Freibad nebenan erlaubt.

 

Eingang zum Kirov Park in Tiraspol
In Tiraspol fahren viele Autos russischer Hersteller.
Ein Panzer als dauerhaftes Ausstellungsstück am Boulevard 25. Oktober
Der russische Brottrunk Kwas ist auch in Transnistrien beliebt.
Lenin-Statue vor dem Parlamentsgebäude

Nachmittags holen wir unser Gepäck am Bahnhof ab. Die Nacht verbringen wir in einem der vielen Plattenbauten der Karl-Marx-Straße. Als wir am folgenden Morgen in den Zug nach Odessa steigen, kontrolliert keiner unsere Reisepässe, will niemand ein Ausreiseformular haben. So genau nehmen es die Grenzbeamten Transnistriens dann doch nicht.

  1. Paul Funk

    Stattt ein Buch in die Hand zu nehmen lese ich nun Mellas spannende Blogs

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