Von Lenin zu Lenin

Er sieht nicht aus wie tot. Eher so, als würde er schlafen. „Sein Gesicht glüht ja richtig“, sagt Alex, als wir das Lenin-Mausoleum verlassen. Russlands ehemaliger Revolutionsführer liegt aufgebahrt in einem kleinen, pyramidenförmigen Bau aus rotem Granit auf dem Roten Platz in Moskau. Mit gerade einmal 53 Jahren verstarb Wladimir Iljitsch Uljanow, so Lenins bürgerlicher Name, im Januar 1924. Seither ruht sein einbalsamierter Leichnam bei konstanten sieben Grad Celsius in einem Sarg aus Panzerglas. Bis heute wird Lenin in Russland verehrt. Der Gründer der Sowjetunion ist im Land allgegenwärtig, obwohl er selbst den Kult um seine Person ablehnte. Es gibt so gut wie keine Stadt, die ohne eine Lenin-Straße und eine Lenin-Statue auskommt.

Seit vier Tagen sind wir in Russland. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli überqueren wir die Grenze. Unser Bus soll um 19.20 Uhr am zentralen Busbahnhof in Kiew abfahren. Tatsächlich sitzen wir erst um 20.40 Uhr auf unseren Plätzen. 80 Minuten lang wissen wir nicht, ob der Bus überhaupt kommt, ob wir die Ukraine in dieser Nacht verlassen können. Es ist die reinste Qual für mich. Obwohl ich mittlerweile einigermaßen weit gereist bin, strapazieren Abreisetage noch immer meine Nerven. Ich bin so lange unruhig, bis ich mir sicher bin, im richtigen Zug oder Bus zu sitzen.

Auch an diesem Abend beäuge ich angespannt jeden Bus, der durch das Tor in den Busbahnhof hinein fährt, und dränge Alex dazu, die Busfahrer zu fragen, ob wir bei ihnen richtig sind – selbst wenn das offensichtlich nicht der Fall ist. Alex dagegen ist die Ruhe selbst. „Entspann‘ dich, der kommt schon noch“, sagt er nicht nur einmal zu mir. Und er kommt noch.

Vollbesetzt fährt der Doppeldecker ab. Kaum haben wir Kiew hinter uns gelassen, öffnen die ersten Mitfahrer ihre Brotbüchsen. Es gibt Frikadellen und Hühnerschlegel. Der Fleischgeruch setzt sich in den Stoffsesseln fest, während der Regen gegen die Fensterscheiben trommelt. Der Bus holpert über löchrige Landstraßen, selbst um Mitternacht ist die Grenze noch weit weg. Stunde um Stunde wackeln wir an Getreidefeldern vorbei, durch Birken- und durch Nadelwälder. Die Lichter der Scheinwerfer lassen es so aussehen, als würden wir durch einen endlosen Blättertunnel fahren. Hätten wir nicht in unsere Offline-Karte auf dem Smartphone, würde ich es so langsam mit der Angst zu tun bekommen. Der Weg vermittelt nicht unbedingt den Eindruck, zu einem offiziellen Grenzübergang zu führen.

Ab und zu fährt der Busfahrer mit Wucht in eine tiefe Pfütze. Dann rattert die Tür der Bustoilette, die in dieser Nacht außer Betrieb ist. „Nje rabotajet“: Das sagt auch der Tankwart bei unserem einzigen Halt vor der Grenze über seine Toilette, woraufhin alle Frauen aus dem Bus geschlossen hinter die Tankstelle marschieren, ihre Hosen und Röcke herunterziehen und sich auf der Wiese erleichtern. Ihr spontaner Pragmatismus gefällt mir. Dieses Hinnehmen des Unvermeidlichen und das sofortige Zur-Tat-Schreiten zeugen für mich, in diesem Moment, von einer tiefen Akzeptanz des Lebens mit all seinen widrigen Umständen.

Um halb vier erreichen wir die ukrainische Seite der Grenze. Wir müssen unsere Reisepässe abgeben und aussteigen, um unser Gepäck entgegen zu nehmen, das die drei Busfahrer aus dem Stauraum hieven. Nach einer kurzen Kontrolle räumen sie die Koffer und Taschen wieder ein. Auch auf der russischen Seite der Grenze müssen wir aussteigen und mit unserem Gepäck durch eine Kontrollstation, die der eines Flughafens ähnelt. Nachdem unsere Rucksäcke durchleuchtet und unsere Reisepässe noch einmal kontrolliert sind, geht die Fahrt um 8 Uhr weiter. Eigentlich hätten wir schon um 6.15 Uhr in Brjansk ankommen sollen.

In der westrussischen Stadt verbringen wir eine Nacht, bevor wir mit dem Zug in die 380 Kilometer entfernte Hauptstadt reisen. Wir verschlafen den Tag in unserer Unterkunft, wachen erst wieder auf, als die Russen draußen, auf den Straßen, den Sieg gegen die Spanier im Elfmeterschießen feiern.

 

An einer Haltestelle 15 Kilometer außerhalb von Brjansk endet unsere Busfahrt von Kiew nach Russland.
Russische Fußballfans feiern den Sieg über die spanische Mannschaft – Autokorso inklusive.

Noch greifbarer wird die Fußball-Weltmeisterschaft für uns in Moskau. Auf dem Roten Platz, vor dem Lenin-Mausoleum und der berühmten Basilius-Kathedrale, drängen sich die Fans aus Kolumbien, Schweden und England. Auf der Großen Moskwa-Brücke wehen rote und blaue Fahnen, auf denen das WM-Maskottchen Zabivaka abgebildet ist. Alex, der die ersten fünf Jahre seines Lebens in Russland verbracht hat, kann es kaum fassen, selbst auf dem Roten Platz zu stehen, die bunten Zuckerwerk-Türme der Basilius-Kathedrale aus der Nähe zu betrachten. Wir besuchen auch den Kreml, schauen uns das Bolschoi-Theater und das Parlamentsgebäude an.

 

„Yeah, Fußball!“ Alex und WM-Maskottchen Zabivaka
Vier Tage verbringen wir in Moskau. Die Tauben bleiben länger.
Das Staatliche Historische Museum befindet sich an der Nordwestseite des Roten Platzes.
Zuckerwerk-Türme: die berühmte Basilius-Kathedrale
Geschafft! Anfang Juli stehen wir vor der Kathedrale des seligen Basilius auf dem Roten Platz.
Der Weltuhr-Brunnen vor der Duma (links des Reiterstandbilds) ist die Kuppel eines unterirdischen Einkaufszentrums.
Mit 81 Metern ist der Glockenturm Iwan der Große das höchste Gebäude des Kremls.
In den Kreml-Kathedralen sind viele Wandbilder und Fresken gut erhalten.
Ich fotografiere das Bolschoi-Theater. Direkt neben dem „großen“ liegt übrigens das „kleine“ Maly-Theater (nicht im Bild).
Die Christ-Erlöser-Kathedrale thront über dem linken Ufer der Moskwa.

Außerdem holen wir die Fahrkarten für die Transsibirische Eisenbahn ab, die wir vor Monaten gebucht haben, und lassen uns mithilfe der Agentur, über die wir unsere Visa beantragt haben, in Moskau registrieren. In Russland ist es Vorschrift, dass sich jeder Tourist, der länger als sieben Tage im Land bleibt, bei den Behörden meldet. Normalerweise übernehmen die Hotels diese lästige Pflicht. Wir wohnen in Moskau allerdings in einem WG-Zimmer, das wir bei der Mietplattform Airbnb gefunden haben und müssen uns selbst um die Registrierung kümmern.

Dazu fahren wir mit der Metro in einen der äußeren Stadtbezirke. In einem unscheinbaren Bürogebäude überreichen wir unsere Reisepässe einem Mann, den wir zuvor noch nie gesehen haben. Er verschwindet mit den Dokumenten, um sie zu kopieren. Wir bleiben pass- und bargeldlos zurück. Die 4000 Rubel (rund 55 Euro), die uns die Anmeldung kostet, haben wir ihm mitgegeben. Unser Verhalten mag naiv erscheinen, aber dieses blinde Vertrauen darauf, dass andere in unserem Sinne handeln, werden wir auf unserer Reise noch oft gebrauchen. Bisher wurde es nicht enttäuscht.

Nach ungefähr zehn Minuten kommt der Mann zurück: Er werde uns gleich am folgenden Tag registrieren, die Unterlagen anschließend per E-Mail schicken. Für eine persönliche Übergabe bleibt keine Zeit. Mit dem Zug fahren wir tags darauf nach Jekaterinburg, zur ersten Station unserer einmonatigen Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland. Unserer Reise von Lenin zu Lenin.