Es windet so stark, dass wir unseren Campingkocher direkt neben dem Hinterrad unseres Autos aufstellen müssen, damit die Gasflamme nicht ausgeht. Mit dem Deckel unserer Essenskiste als Windschutz kocht das Wasser endlich. Alex schüttet die Nudeln in den Topf, der Wind reißt an seiner Jacke. Wir kochen Nudeln mit Pesto, das schnellste, unkomplizierteste Camping-Essen.
Auf dem Ngumban-Cliff-Rastplatz gibt es weder eine Campingküche noch einen windgeschützten Pavillon, in dem wir etwas Aufwändigeres zubereiten könnten. Dafür müssen wir für den Stellplatz nichts bezahlen. Seit wir die Küste verlassen haben, folgen wir der App Campermate von einem kostenlosen Campingplatz zum nächsten. Fast nie sind wir alleine dort. Spätestens, wenn die Sonne untergeht, füllen sich die Rastplätze mit Wohnmobilen, Campervans und Jeeps, die Wohnwägen ziehen.
Während die Sonne hinter den Klippen verschwindet, die Wolken knallpink-rosa-lila anpinselt, essen wir Nudeln im offenen Kofferraum von Diggity. In der Dämmerung spülen wir Geschirr, im Auto kuscheln wir uns in unsere Schlafsäcke. Wir schauen erst eine seichte Liebeskomödie auf dem Laptop, dann Sterne aus der Heckscheibe. Draußen zirpen die Grillen, rauscht der Wind durch die Büsche. „Das muss Glück sein“, schreibe ich später in mein Tagebuch. „Ich bin echt dankbar, dass wir das alles erleben dürfen. Unbeschwert und frei. Was für eine wertvolle Phase unserer Leben.“
So unbeschwert fühle ich mich nicht immer. Seit wir den dünnbesiedelten Norden Westaustraliens bereisen, fällt uns das Ungleichgewicht in der australischen Gesellschaft immer öfter auf. In den kargen Dörfern des Nordens, die meist nur aus einer Tankstelle, einem Supermarkt und ein paar Wohnhäusern bestehen, sehen wir australische Ureinwohner ohne Schuhe, mit zerschlissener Kleidung, die vor Supermärkten oder in Parks herumsitzen und die Zeit totschlagen. Viele trinken.
Es belastet uns, die Armut der Menschen zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass die meisten Australier sich nicht für das Schicksal ihrer Mitbürger interessieren. Schon in Perth, unserer ersten Station auf dem roten Kontinent, wurden wir mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert. Aborigines würden vom Staat dafür bezahlt, ihre Kinder zur Schule zu schicken, war eines davon – ein verbreiteter Irrglaube.
Die Realität sieht anders aus. Von den 25,3 Millionen Einwohnern Australiens identifizieren sich gerade einmal 3,3 Prozent als Ureinwohner. Trotzdem sind ein Viertel aller Gefängnisinsassen Aborigines oder Torres-Strait-Insulaner. Die Arbeitslosenquote indigener Bevölkerungsgruppen ist mit 18 Prozent viermal so hoch wie die der Durchschnittsbevölkerung. Damit einher gehen Armut, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Die Lebenserwartung australischer Ureinwohner liegt zehn Jahre unter der ihrer weißen Mitbürger, ihre Suizidrate ist doppelt so hoch. Immer wieder bringen sich schon Kinder um, weil sie keine Zukunft für sich in ihrem Land sehen.
Der australische Staat unternimmt dagegen wenig oder investiert an den falschen Stellen. Statt der Sehnsucht der Ureinwohner nach Respekt und Gleichberechtigung entgegenzukommen, etwa mit der Änderung des Texts der Nationalhymne, einer festen Stimme im Parlament oder Programmen, die den Austausch der Ethnien anregen, versickern Fördergelder in der Verwaltung, werden kulturell bedeutsame Orte für Bauprojekte geopfert, Profi-Footballspieler rassistisch beleidigt. Auf den Campingplätzen Westaustraliens begegnen wir keiner einzigen Aborigine-Familie.
In Broome treffen wir dafür einige Bekannte wieder: zwei junge Frauen aus Deutschland, die wir in Coral Bay kennengelernt haben, eine Schweizer Familie und einen Australier, die zeitgleich wie wir in Port Hedland waren. Auf dem riesigen Campingplatz an Broomes Cable Beach, wo abends Touristen auf Kamelen am Strand entlang reiten, bleiben wir drei Nächte.
Wir besuchen den Stadtstrand, China Town und den Gantheaume Point, in dessen Sandstein in den frühen Morgenstunden, bei Ebbe, rund 130 Millionen Jahre alte Dinosaurierspuren zu sehen sind. Wir nutzen das Internet im Café des Campingplatzes, lesen und hören Podcasts am viel zu kalten Swimmingpool. Abends sehen wir uns im kleinen Innenstadtkino Broomes Avengers: Endgame an.
Bevor wir weiterreisen, lege ich ein Bündel Bananen vor die große Buddha-Statue des Meditationszentrums neben dem Campingplatz. Seit unserem Erfolgsgebet in Kambodschas Hauptstadt Pnom Penh bin ich noch ein bisschen abergläubischer geworden. Mit geschlossenen Augen bitte ich darum, dass Alex und ich sicher von Australien nach Neuseeland und weiter nach Lateinamerika kommen werden. Die Containerschifffahrt von Neuseeland nach Kolumbien ist nur noch wenige Wochen verfügbar. Es ist nicht klar, ob die Charter verlängert werden wird.
Die Fahrten durch das karge Outback genießen wir mittlerweile. Zwei bis vier Stunden sind wir von einem Rastplatz zum nächsten unterwegs, selten länger. Die Monotonie der Buschlandschaft und der geraden Straßen lenken uns fast nie von unseren Gesprächen ab. Manchmal sehen wir Greifvögel, freilaufende Ziegen oder Rinder, häufig Kängurukadaver am Straßenrand. Nur wenige Dörfer liegen auf unserer Strecke. Ab und zu kommen wir an kleinen Flughäfen vorbei, die Minenarbeiter nutzen, um alle paar Wochen am Wochenende im Propellerflugzeug zu ihren Familien nach Perth oder anderswohin zu reisen. Australien verfügt unter anderem über Eisenerz sowie rund zehn Prozent des weltweiten Kohlevorkommens.
Auf dem Weg zur Grenze zum Northern Territory halten wir in Halls Creek, um die China Wall, eine sechs Meter hohe Granitwand mit Quarzadern, zu fotografieren. Wir übernachten am Spring-Creek-Rastplatz, der schattig ist, aber nicht gut riecht. Am nächsten Morgen fahren wir früh weiter. Das Städtchen Kununurra erreichen wir gegen Mittag. Wir parken Diggity auf einem Campingplatz am See, in dem angeblich Süßwasserkrokodile schwimmen. Die sehen wir leider nicht, dafür fliegen in der Dunkelheit hunderte Flughunde kreischend und zischend über unseren Zeltplatz.
Ich genieße es, nach zwei Nächten Wildcampen wieder eine Campingküche und Waschräume zu haben, in denen man sich einfach die Hände waschen kann. Auf den kostenlosen Rastplätzen behelfen Alex und ich uns mit Spülmittel und Wasser aus dem Kanister. Plumpsklos sind meist vorhanden – mal in besserer, mal in schlechterer Verfassung. Nach zwölf Monaten unterwegs haben wir damit aber keine Probleme mehr. Nase zu und durch.
Unsere letzten Tage in Westaustralien verbringen wir auf einem Campingplatz am Lake Argyle, rund 90 Kilometer südlich von Kununurra. Nachdem wir die Stellplatzgebühr an der Rezeption bezahlt haben, begleitet uns eine Angestellte auf einem Fahrrad zu dem Platz, auf dem wir übernachten dürfen. Wir parken Diggity so, dass wir aus dem Kofferraum auf die Berge schauen können. Im Licht der untergehenden Sonne werden sie später knallrot aufleuchten.
Vorher schauen wir uns aber noch den Infinity-Pool an, der uns leider wieder einmal viel zu kalt ist, und steigen den steilen Weg hinab zum See. Im Lake Argyle könnte man theoretisch auch schwimmen: Das Maul der rund 30.000 Süßwasserkrokodile, die darin leben, ist angeblich nicht groß genug, um Menschen ernsthaft gefährlich zu werden. Wir haben trotzdem keine Lust auf eine überraschende Begegnung im Wasser. Ich würde vielleicht nicht an einem Biss, ganz bestimmt aber an einem Herzinfarkt sterben, wenn plötzlich ein „Freshy“ mein Bein streifen würde.
Zurück am Pool setzen wir uns zu den anderen Campinggästen auf den Rasen. Ich lasse meinen Blick schweifen. Die gezähmte Wildnis um uns kommt mir sehr australisch vor. Das kurze Gras, der blaue Swimmingpool, die ausgeschilderten Wanderwege: Trotz des rauen Outbacks, in dem bis heute manch unvorsichtiger Tourist für immer verschwindet, nehme ich Australien als sehr sicher und geordnet wahr. Vielleicht liegt es an unserer Reiseroute. Im lauten, chaotischen Südostasien sind wir sechs Monate lang auf kaum erkennbaren Dschungelpfaden über die Berge gewandert.
Pünktlich zum Sonnenuntergang tritt der Sänger Steve Case mit seiner Gitarre auf. Über den roten Bergen und dem See färben sich die Wolken rosa. „Waking up to start a brand new day“, singt Steve. „We’re only guided by the sun. Not knowing where to go or where to begin. Getting lost is half the fun.“ Sein Song „Man In A Van“ geht uns tagelang nicht aus dem Kopf. Passt auch zu uns, finden wir. Nur ein bisschen anders. „Just A Man And A Woman In A Station Wagon.“