„Was ist deine Lieblingsfarbe?“ Der kleine Junge legt den Kopf schief, sieht mich erwartungsvoll an. Ich muss überlegen. Darüber habe ich tatsächlich schon lange nicht mehr nachgedacht. „Ich weiß nicht“, sage ich ehrlich. „Früher war sie Gelb. Also ja, Gelb.“ Der Kleine nickt zufrieden. „Meine Lieblingsfarbe ist Schwarz und ihre“, sagt er in flüssigem Englisch und deutet auf seine Zwillingsschwester, die neben ihm steht und schüchtern schweigt, „ist Pink.“ „Cool!“, sage ich und wieder nickt der Junge zufrieden.
Ich treffe die Zwillinge bei einem Ausflug zur Trấn-Quốc-Pagode am Westsee in Hanoi. Ihr Großvater filmt unsere Unterhaltung mit dem Smartphone. Mir macht das nichts aus. Wahrscheinlich ist er stolz darauf, wie gut seine Enkel mit acht Jahren schon Englisch sprechen können.
Eine Woche verbringen Alex und ich in der Hauptstadt Vietnams. Mit dem Nachtzug fahren wir von Lao Cai an der chinesischen Grenze nach Hanoi. Es ist bereits dunkel, als wir einsteigen. Die schöne Berglandschaft draußen sehen wir leider nicht. Dafür ist unser Viererabteil sehr gemütlich: Auf unseren Pritschen liegen weiche Kissen, auf dem Tischchen am Fenster leuchtet eine Lampe aus bordeauxrotem Stoff. Wir fühlen uns wie gutbetuchte Reisende in einem edlen Nostalgie-Zug. Solange, bis eine Kakerlake über den Tisch läuft.
Nach einer schlaflosen Nacht kommen wir um 5 Uhr morgens am Hauptbahnhof Hanois an. Das vietnamesische Schienennetz stammt zu einem großen Teil noch aus dem 18. Jahrhundert, aus der französischen Kolonialzeit. Auf unseren Liegen wurden wir gut durchgerüttelt.
Da unsere Unterkunft nur zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt liegt, beschließen wir, zu Fuß zu gehen. Am Thien-Quang-See machen wir eine kurze Pause und schauen den Vietnamesen beim Frühsport zu, beim Joggen, Dehnen und Tai Chi. Uns fröstelt es, während die Jogger bei ihren Runden um den See schwitzen. Bei Sonnenaufgang ist es noch kühl in Hanoi. Nachmittags steigen die Temperaturen meist über 30 Grad.
Auf den Straßen sind erst wenige Rollerfahrer unterwegs. Wenig später stockt schon der Verkehr. Eine Straße ohne Fußgängerampel zu überqueren, wird jetzt zur Herausforderung. In den kommenden Tagen lernen wir, Lücken zu erkennen und sofort zielstrebig loszugehen. Die Rollerfahrer sehen unsere Bewegung voraus, fahren um uns herum. Plötzlich auf der Straße stehenzubleiben, wäre deshalb keine gute Idee.
Verschwitzt und erschöpft erreichen wir unseren Homestay. Unsere Gastgeberin, eine kleine, ältere Dame mit adrettem Pagenkopf, zeigt uns unser Zimmer. Ihr Haus ist eins der typisch vietnamesischen Schlauchhäuser: In den mittelalterlichen Innenstädten wurden Geschäfte möglichst schmal gebaut, da die Ladensteuer abhängig von der Frontbreite war.
Auch das Haus unserer Gastgeberin hat sechs Stockwerke, auf jeder Etage aber nur wenig Wohnfläche. Unser Zimmer befindet sich im vierten Stock. Mit unseren großen Rucksäcken steigen wir die schmale Treppe hinauf und müssen aufpassen, dabei nichts umzuwerfen. Die Stufen sind voller Vasen und kleiner Statuen. Es sieht aus wie in einem ethnologischen Museum.
Wir schlafen bis kurz vor Mittag. Abends spazieren wir zum nahen Bay-Mau-See, wo die Vietnamesen bei Sonnenuntergang schon wieder joggen, sich dehnen und Tai Chi üben.
Die folgenden Tage verbringen wir damit, die Sehenswürdigkeiten Hanois zu besuchen und unsere Visa mit Hilfe eines Reisebüros verlängern zu lassen. Wir wollen länger als einen Monat in Vietnam bleiben. In China hatten wir aufgrund unserer Visa nur sechs Wochen Zeit, um von Peking in die Region Yunnan zu reisen. Auch in Russland mussten wir uns aufgrund der Visabestimmungen beeilen. In Südostasien wollen wir endlich langsamer unterwegs sein.
Wir schlendern durch das Gassen-Gewirr von Hanois Altstadt, spazieren am Hoan-Kiem-See entlang und schauen uns die St.-Josephs-Kathedrale an. Auf die Empfehlung meiner Schwester Petra hin kaufen wir uns leckere Pappa Roti (Gebäckstücke mit süßer Füllung), ich probiere außerdem Cà Phê Trung, Kaffee mit Eischaum, und geeisten Cà Phê Dùa Dá mit Kokosmilch. Während ich ersteren eher gewöhnungsbedürftig finde, werde ich nach dem zweiten sofort süchtig. Alex trinkt lieber Fruchtshakes mit Wassermelone oder Passionsfrucht, die nirgends so gut schmecken wie in Vietnam.
Wir besichtigen das sehr gute Vietnamese Women’s Museum, das tolle Kunstmuseum und das weniger tolle Revolutionsmuseum, das hauptsächlich verschwommene Fotografien und Alltagsgegenstände mäßig bekannter Vietcong-Offiziere zeigt.
Auch Hồ Chí Minh, den ehemaligen Präsidenten der Demokratischen Republik Vietnam, hätten wir gerne in seinem Mausoleum besucht. Doch sein einbalsamierter Leichnam befindet sich, wie jedes Jahr vom 4. September bis 4. November, in Russland, wo er gepflegt wird.
Den Literaturtempel, den Botanischen Garten und die Trấn-Quốc-Pagode am Westsee sehe ich mir alleine an. Alex muss arbeiten. „Wie alt bist du?“, will der kleine Junge noch von mir wissen, bevor wir uns verabschieden. „31“, antworte ich. „No way!“, ruft er. „Dein Gesicht sieht so jung aus! Du bist höchstens 21.“ Made my day.