Klick! Bevor wir darüber nachgedacht haben, ob wir das wollen oder nicht, hat Christina ein Foto von uns auf Instagram veröffentlicht. „Our woofers Alex & Mel Meeting Dandy“ („unsere Woofer [sic] Alex & Mel treffen Dandy“) steht in weißer Schrift auf dem Bild. Während Christina schon Likes für ihre Story sammelt, hocken wir noch – wie auf dem Foto – vor dem wenige Monate alten Lamm, das ihre Tochter Sofia mit der Flasche aufgepäppelt hat. Ich bin ein bisschen überrumpelt, sage aber nichts. Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Außerdem hat unsere Wwoofing-Gastgeberin uns so herzlich empfangen, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihr ein schlechtes Gefühl zu vermitteln. Christina freut sich und ist aufgeregt, wir sind ihre ersten Wwoofer*.
Nur eine halbe Stunde vorher sind Alex und ich in Monarch Downs angekommen, einem mehrere Hektar großen Wohngebiet mit wenigen, weit verteilten Anwesen gut betuchter Anwohner. Privatsphäre hat einen hohen Stellenwert in dem Weiler an der Ostküste der neuseeländischen Nordinsel. Hier, rund 70 Kilometer nördlich von Auckland, haben Christina Leon, ihr Mann David und ihre elfjährige Tochter Sofia vor ein paar Monaten ein neues Zuhause gefunden. Ihre Luxusimmobilie umfasst ein Wohnhaus, mehrere Nebengebäude, Wiesen mit Feigen-, Zitronen- und Orangenbäumen, einen Teich mit Lotosblättern, einen Pool, einen Fitnessraum, einen Pizza-Ofen, zwei Outdoor-Badewannen.
Es ist der 15. Mai 2020. Am Tag zuvor ist die nationale Covid-Alarmstufe von drei auf zwei heruntergesetzt worden. Seitdem sind Reisen im Inland wieder möglich. Für die etwa 40 Kilometer von Port Albert, wo wir den Lockdown als Wwoofer bei Jenny verbracht haben, nach Monarch Downs brauchen wir nicht einmal eine Dreiviertelstunde, obwohl wir uns kurz verfahren und auf einem Weingut Kehrt machen müssen. Ich fühle mich etwas deplatziert, als wir in unserem in die Jahre gekommenen Diggitwo über den Schotter rollen und vor einem der Gebäude parken. Mir kommt es vor, als wären wir durch die Einfahrt in eine andere Welt gefahren. Die Welt der Schönen und Reichen. David und Sofia stehen vor der Tür des Bungalows, in dem Alex und ich knapp einen Monat lang wohnen werden. Ich hoffe, dass ihnen die Rostflecken unseres Autos nicht auffallen.
„Hi, willkommen!“, begrüßt uns David. Er ist Anfang 40, hat raspelkurz geschnittenes schwarzes Haar, einen nur wenige Millimeter längeren Bart und braune Augen, die Sofia von ihm geerbt hat. Ihre Locken sehen so perfekt aus, als hätte sie sie stundenlang auf winzigen Lockenwicklern in Form gebracht. Sofia ist schüchtern, aber der Zustand wird sich in ein paar Tagen legen. „Wollt ihr eure Sachen ablegen?“, fragt David mit spanischem Akzent. Er ist in Andalusien aufgewachsen, als Volljähriger erst nach London, später nach Neuseeland ausgewandert, die Heimat seiner Ehefrau.
„Hi!“ Christina stößt vom Wohnhaus zu uns. Zwei Hunde folgen ihr. „Das ist Chica“, sagt sie, auf den hellbraunen Windhund deutend, „und das Leo“. Weder Chica, noch der kleine, weißgelockte Leo schenken Alex und mir Beachtung. Zu fünft führen die Leons uns über das Gelände, zeigen uns die Hühner auf der Wiese gegenüber unserem Bungalow, die Enten, die auf dem Teich schwimmen, die Schafe auf dem Grundstück der Nachbarn. Fran und Fred heißen die beiden älteren Herrschaften, die in dem am nächsten gelegenen Haus wohnen und Sofia als jüngsten Zuwachs ihrer Enkelschar betrachten. Das Lamm Dandy, erklären sie, habe die ersten Monate fast nicht überstanden. „Seine Mutter hatte nicht genug Milch“, sagt Fran. „Sofia hat ihn mit der Flasche großgezogen.“ „Sie ist so tierlieb!“, schwärmt Christina mit Blick auf ihre Tochter. „Sie würde am liebsten jedes Tier retten.“
Wegen Sofia, berichtet sie einen Tag später beim Abendessen, haben auch sie und David aufgehört, Fleisch zu essen. Nur Fisch steht ab und zu noch auf dem Speiseplan. Alex und ich freuen uns, nicht die einzigen Vegetarier zu sein. Wir speisen nur abends mit unseren Gastgebern. Für das Frühstück und Mittagessen hat Christina uns mehr als genug Lebensmittel im Bungalow bereitgestellt.
Der flache Bau besteht aus einem Fitnessraum mit einem Ergometer, Hanteln, Yogamatten und einer Stange mit verschieden schweren Gewichten, einem Mini-Badezimmer, -Schlafzimmer und -Esszimmer, einer Küche mit Stahlarmaturen sowie einer Rumpelkammer, in der die Leons von der Federballausrüstung bis zu Gummistiefeln alles Mögliche verstaut haben. Der lasierte Betonboden verleiht unserer Unterkunft den Charme einer Jugendherberge. Morgens müssen wir die Elektroheizung anschalten, es ist kalt geworden. In einem Monat beginnt der neuseeländische Winter.
Einen Tag nach unserer Ankunft in Monarch Downs schreibt uns Jenny. Sie hat die Genehmigung bekommen, die Pflanzenreste, die wir in ihrem Garten aufgetürmt haben, zu verbrennen. Das Feuer möchten wir uns selbstverständlich nicht entgehen lassen. Und so sind wir schneller als erwartet zurück in Port Albert. Jenny begrüßt uns mit Kaffee und Tee und deftigen Muffins, in denen Käse, Paprika und Petersilie sind. Alex und ich begleiten Eric zu dem fast mannshohen Gestrüpphaufen auf der Schafweise, auf dem Weg nach unten nehmen wir neue Pflanzenabfälle mit. Mit etwas Benzin zündet Eric den Berg aus Stämmen, Ästen und Blättern an. Die Flammen lodern züngelnd in die Höhe, eine Stunde später ist alles weg.
Bevor wir uns verabschieden, grabe ich zwei Ballonpflanzen aus Jennys Garten aus und lege sie ins Auto. Ein Mitbringsel für unsere neue Gastfamilie. Die Pflanzen sollen Monarchfalter nach Monarch Downs locken. Auf einem Zweig sitzt bereits eine dicke, schwarzgelbe Raupe.
Am Tag darauf beginnt unser neuer Alltag. Mein Tag fängt gegen 8 Uhr an, der von Alex etwas später. Ich bereite das Frühstück vor, nach dem Essen geht es in den Garten. Ungefähr vier Stunden arbeiten wir täglich. In den vier Wochen, die wir in Monarch Downs verbringen, jäten wir Unkraut in den Gemüsebeeten, säubern die Einfahrt von wild wachsendem Gras, Efeu und herumliegenden Blättern, fegen die zwei Pavillons am Ententeich und entfernen die Spinnweben an den Decken. Wir putzen den Fitnessraum, das Wohnhaus unserer Gastgeber und das Gebäude, das sie als Airbnb vermieten, streichen die Terrassenmöbel, befreien die Bananenpalme von alten Blättern.
Nachmittags arbeiten wir an privaten Projekten oder unternehmen Ausflüge zu den Stränden der Gegend. Der Sandstrand von Algies Bay, zehn Kilometer südlich, ist voll weißer Muscheln, die beim Gehen knirschend unter den Schuhen zerspringen. Das Meer ist so glatt, dass man kaum glaubt, dass es nass ist. Es sieht aus wie ein dunkelblauer Teppich. Möwen krächzen, in den Bäumen singen Tuis. Das Zwitschern und Klackern der schwarzgrünen Vögel mit den weißen Federbüscheln an der Kehle ist typisch für Neuseeland. Nach dem Abendessen mit unserer Gastfamilie schauen wir Filme und Serien, switchen oder telefonieren mit Freunden, der Familie.
Ab und zu unternehmen wir auch etwas mit Christina, David und Sofia. Wir spielen Taki, die israelische Version von Uno. Wir essen bei den Nachbarn zu Abend; bei Fran und Fred oder bei Claudia, Alex und Julia aus Deutschland. Christina nimmt mich mit zum Yoga, zum Geburtstagsgeschenke-Shoppen und zu Sofias Reitstunden. An Sofias zwölftem Geburtstag essen wir Muffins, an meinem 33. Kuchen. Zu fünft besuchen wir den Wochenmarkt in Matakana, wo Bauern und Händler ihre lokal erzeugten Tomaten und Auberginen, Smoothies und Fischbrötchen verkaufen. Matakana, fünf Kilometer entfernt von Monarch Downs, ist ein beliebtes Wochenendziel reicher AucklanderInnen.
Lange rätsle ich, wie die Leons ihr Geld verdienen. Als sie sich 2005 in London kennenlernten, war Christina Stewardess, David in einer Parfümerie angestellt. „Christina kann mit ihren Kochbüchern über gesunde Ernährung und ihren Seminaren über ätherische Öle nicht so viel verdienen, um das Haus, in dem sie leben, zu finanzieren“, mutmaße ich. David, erfahren wir beim Abendessen, hält Vorträge darüber, wie man klug am Immobilienmarkt investiert und macht das auch selbst. Ich bin neugierig. Auf YouTube spricht er darüber, wie er Wohnungen auf Kredit kauft, sie renovieren lässt und zu einem höheren Preis wieder verkauft. Reihenweise. Die Strategie geht auf.
Ende Mai haben wir uns damit abgefunden, dass unsere fluglose Reise in Neuseeland enden wird. Dass uns nichts übrig bleibt, als mit dem Flugzeug nach Deutschland zurückzukehren. Es ist nicht abzusehen, wann die Coronapandemie enden wird, wann es wieder möglich sein wird, problemlos von einem Land zum anderen zu reisen. Das Geld für die beiden Schiffsüberfahrten, die wir bereits gebucht hatten – von Auckland nach Los Angeles beziehungsweise vom kanadischen Halifax nach Hamburg – erhalten wir zum Glück zurück. Damit können wir die Flüge nach Hause bezahlen, die fast doppelt so teuer sind wie normalerweise. Bis es losgeht, dauert es aber noch. Erst Anfang Juli werden wir von Auckland über Los Angeles nach Frankfurt fliegen. Sechs Wochen werden wir noch in Neuseeland bleiben.
Immerhin: Hier leben wir fast wie vor der Pandemie. Am 29. Mai ist nur noch ein aktiver Covid-19-Fall bekannt. Wer ein Restaurant besucht, muss seine Kontaktdaten zwar noch hinterlassen, im Inneren aber keine Maske tragen. Im Inland könnten wir theoretisch uneingeschränkt reisen. Auf Christina lastet der vorübergegangene Lockdown dennoch schwer. Ihre Zwillingsschwester, die in Australien lebt, hat sie seit Monaten nicht gesehen, ihr Vater durfte die demenzkranke Mutter im Pflegeheim wochenlang nicht besuchen. Nichtsdestotrotz steht sie hinter den Entscheidungen von Regierungschefin Jacinda Ardern. Ihr Mann ist da ganz anderer Meinung. Jacinda, sagt er, mache alles falsch. In einigen Monaten werde die Wirtschaft den Bach hinuntergehen. Die NeuseeländerInnen würden das nur noch nicht kapieren. Alex und ich versuchen, Diskussionen mit ihm zu vermeiden. Wir sind froh, uns keine Sorgen darüber machen zu müssen, uns anzustecken, während sich in Deutschland trotz deutlichem Abflachen der ersten Welle täglich immer noch mehr als 700 Menschen infizieren.
Anfang Juni teilen wir unseren Gastgebern mit, dass wir in ein paar Tagen nach Auckland abreisen werden. „Das habe ich schon fast befürchtet“, seufzt Christina. „Wir werden euch vermissen!“ Zum Abschied schenken die Leons uns den Lonely Planet: „Everyday Adventures“, Abenteuer für jeden Tag. Damit wir unser Abenteuer zuhause fortführen können. Wir sind gerührt. Auch wir haben Christina, David, Sofia, Chica und Leo ins Herz geschlossen. Doch die letzten Wochen vor unserem Abflug möchten wir in Auckland, bei Alycia, Jhonny und Katze Cashew, verbringen. Dort, wo wir vor fast neun Monaten unsere Reise durch Neuseeland begonnen haben.
*Beim Wwoofing (World-Wide Opportunities on Organic Farms, weltweite Möglichkeiten bei Bio-Bauernhöfen) arbeiten Freiwillige täglich ein paar Stunden lang für Kost und Logis auf einem Bio-Bauernhof oder bei Selbstversorgern mit. Wwoof wurde 1971 in Großbritannien gegründet und war eine der ersten Organisationen, die freiwillige HelferInnen im ökologischen Bereich vermittelt. Seit 1992 ist Wwoofing auch in Deutschland möglich. Insgesamt nehmen mehr als 130 Länder teil.