Albertland

Sieben Wochen verbringen wir als Wwoofer bei Jenny in Port Albert. Statt Neuseeland weiter zu bereisen, fällen wir im Lockdown Bäume und jäten Unkraut in Jennys Garten. Während der ersten Tage benutzen wir noch Sonnencreme, doch schon bald wird das Wetter kühler, herbstlicher.

Der Haufen auf der Schafweide unterhalb des Hauses, auf dem wir die Pflanzenreste stapeln, wächst uns schnell über die Köpfe. Anfangs nehmen die zwei Schafe noch panisch vor uns Reißaus, sobald wir die Weide betreten. Doch schon nach einigen Tagen bleiben sie stehen und warten, bis wir die Wiese verlassen, um die Äste und Blätter zu inspizieren, die wir ihnen hinterlassen: neues Futter.

Jeden Abend spaziere ich zum Fluss, dem am weitesten entfernten Ort unseres Bewegungsradius. Nur am Ostersonntag gehen Alex und ich in die andere Richtung, aber da sind bloß Bauernhäuser umgeben von Rinderweiden, und viel weiter sollen wir uns vom Dorf nicht entfernen.

Für den Hin- und Rückweg zum Oruawharo River brauche ich ungefähr
30 Minuten. Täglich fällt mir Neues auf: Die Vögel, die in der Bambushecke neben der Schotterstraße zu Jennys Haus laut zwitschern. Dass die Nachbarenten quaken, als würden sie hämisch lachen. Ich nicke den BewohnerInnen der Häuser am Wegrand zu, kenne die anderen FußgängerInnen, die abends ihre Runde drehen. Viele sind es nicht.

Der Pflanzenrestestapel auf der Schafweide wird täglich höher.
Bei meinen abendlichen Spaziergängen fällt mir täglich Neues auf.
Zum Beispiel Mr. Sheeps eindrückliches Geläut …
… oder ein Schiffsmotor, der zum Briefkasten umfunktioniert worden ist.
Die Schotterstraße zu Jennys Haus
Eines Abends, bei Ebbe, steht plötzlich ein Hausboot am Rand des Oruawharo River.
Nach dem Sonnenuntergang spaziere ich zurück.

Bei meinem ersten Spaziergang ist es kühl und windig. Unter dem grauen Himmel wirkt das 130-Seelen-Dorf Port Albert bedrohlich, uneinladend. Eine Behausung auf der rechten Straßenseite, etwa 200 Meter oberhalb des Flusses, ist aus Kartons zusammengezimmert. Die blauen Planen vor dem Eingang flattern im Wind, neben der Einfahrt stehen selbstgemalte Schilder. „Ich liebe Gott“ steht da, „Ich habe die Fische erschaffen, ich habe dich erschaffen“. Ich gehe zügig daran vorbei, die Hände in den Jackentaschen. Die Häuser auf den umliegenden Hügeln sind eingerahmt von Schaf- und Kuhweiden, die Mangrovensümpfe im Tal matschbraun neben den sattgrünen Wiesen.

Unten am Fluss, neben dem Spielplatz, der wegen Corona gesperrt ist, steht ein weißer Van. Etwas weiter weg, hinter den Mülleimern und den öffentlichen Toiletten, ein größerer schwarzer Bus, versteckt zwischen den Mangroven. Hank und Ty, die beiden Männer, die in den Autos leben, lerne ich erst im Lauf der Wochen kennen. Ich gehe den Steg entlang. Die Holzbretter sind glitschig vom Regen. Die Möwen auf dem Geländer fliegen davon, als ich mich ihnen nähere. Auf der rechteckigen Holzplattform ganz am Ende, über dem Wasser, setze ich mich ein paar Minuten hin.

Ich mustere meine Umgebung, halte Details fest mit der Kamera. Ein Stück Steg, eine Möwe, ein Haus am Hang, die schwarzen Rinder auf dem Rist der Hügelkette gegenüber. Es riecht nach abgestandenem Wasser. Der Matsch unter mir gluckert. Perlengroße Krebse krabbeln aus den Löchern und verschwinden in anderen. Das Wasser hat sich vom Ufer zurückgezogen. Port Albert liegt so nah an der Flussmündung ins Meer, dass man am Oruawharo River die Gezeiten miterleben kann. Ich fröstele. Die untergehende Sonne spiegelt sich auf dem Wasser. Ein Rorschachtest.

Die Häuser auf den umliegenden Hügeln sind eingerahmt von Schaf- und Kuhweiden.
„Ich habe die Fische erschaffen, ich habe dich erschaffen.“
Die Straße zum Oruawharo River. Das „wh“ wird übrigens als „f“ ausgesprochen.
Mit der Möwe auf der Plattform am Stegende
Ein Rorschachtest
Mein täglicher Spaziergangsweg. Unter dem Steg huschen die Krebse.

Nichts an der Landschaft lässt erahnen, dass Port Albert eigentlich ein anderes Schicksal zugedacht war. Die ersten SiedlerInnen aus England hatten Großes vor mit dem natürlichen Hafen an der Westküste der neuseeländischen Nordinsel. Port Albert sollte zur bedeutendsten Stadt des Landes werden, eine Metropole nonkonformistischer Christen.

Von 1862 bis 1865 verließen etwa 3000 von ihnen ihre Heimat, um sich in Neuseeland eine neue zu erschaffen. Albertland war der Name, den sie dem Ort zugedacht hatten. Er sollte das Zentrum einer ganzen Kolonie werden. Die meisten EmigrantInnen schafften es jedoch nicht bis nach Albertland. Abgeschreckt von den entbehrungsreichen Geschichten derjenigen, die von dort zurückkamen – von schlammigen Sümpfen und von Gestrüpp, das mit Macheten aus dem Weg geräumt werden musste – ließen sie sich in ihrem Ankunftshafen Auckland nieder oder fuhren gleich zurück nach England.

Eine Gedenktafel erinnert an die Albertländer.
Hier hätte die Metropole Albertland sein können.
Stattdessen: eher abgeschiedenes. Die drei Palmen vor Jennys Haus sind die nächsten Nachbarn.

1881 befanden sich nach Angaben des Wellsford’s Albertland and Districts Museums nur noch zwei Familien in der von Matsch und Mangroven umgebenen Siedlung, zu der noch immer keine Straße führte. Mit dem Anschluss des zehn Kilometer entfernten Wellsford an das Eisenbahnnetz rückte Albertland noch mehr ins Hintertreffen. Heute erinnert nur noch eine Gedenktafel neben dem Oruawharo River an die ersten Albertländer. Einige Nachfahren leben noch immer in der Gegend.

Ich fotografiere die Gedenktafel. In der Dämmerung spaziere ich zurück zu Jennys Haus. In unserem Studio verbringen Alex und ich den Abend damit, mit FreundInnen oder der Familie zu telefonieren, Switch zu spielen oder Serien zu schauen. Wenn das Internet mitmacht. Die schlechte Verbindung erinnert uns daran, dass wir weit weg sind von Auckland, der mit rund 1,7 Millionen EinwohnerInnen größten Stadt Neuseelands. Und die Insekten.

Die Fliegen, Ameisen und Moskitos in unserem Zimmer bekämpfen wir schon nach zwei Wochen fast ohne schlechtes Öko-Gewissen mit Insektenspray, anders ist ihnen nicht beizukommen. Ab und zu lassen sich auch Kakerlaken blicken, die eigentlich in den abgestorbenen Ästen der Bäume leben. Die zwei Hühner Mrs. Green und Kentucky (letztere verdankt ihren Namen Alex) fressen die bernsteinbraunen Schaben lebend, wenn sie sie erwischen. In der Hoffnung auf einen Snack folgen sie uns morgens durch den Garten.

Alex hat eine winzige Gottesanbeterin entdeckt. Die Insekten treffen wir in allen Größen an.
Der Kokon eines Monarchfalters kurz vor dem Schlüpfen.
Mrs. Green und Kentucky folgen uns morgens durch den Garten.

Dort entdecken wir außerdem Gottesanbeterinnen, jede Menge Wespen und Monarchfalter. Die großen, orangefarbenen Schmetterlinge mit den schwarz umrahmten Flügeln schweben von grünen Apfelbaumblättern zu weißen Rosmarinblüten. Ihre schwarz-gelb gestreiften Raupen kleben an den Blättern der Ballonpflanze; der einzigen, die sie fressen. An Ästen, Geländern, sogar an der Hauswand, hängen ihre Kokons: hellgrün, mit goldenen Flecken. Fünf von ihnen nehmen Alex und ich in unser Wohnzimmer auf. Die Zweige, an denen sie hängen, haben wir in einen Blumentopf gesteckt. Wir nennen die Falter in den Kokons Ken, Shea, Jacqui, Eric und Jenny.

Zehn bis 28 Tage soll es dauern, bis sie schlüpfen. Jeden Morgen schaue ich nach, ob die Kokons sich schon verfärbt haben. Ken, der ganz oben am Zweig hängt, wird bald dunkler, sonst tut sich nichts. Nach ein paar Tagen befürchte ich, dass ihnen die Sonne fehlt, dass wir sie aus Versehen getötet haben. Doch am Karfreitag schlüpft Jaqui. Innerhalb von Sekunden schält sie sich aus ihrer Hülle, die auf einmal transparent und farblos wirkt, ohne den lebenden Inhalt. Kopfüber hängt der frisch geschlüpfte Monarchfalter an den Kokonresten, die orangenen Flügel noch klein, zerknittert.

Zaghaft schlägt Jaqui sie auseinander, bewegt die Fühler, ihren Rüssel. Wir schauen ihr staunend zu, beugen uns nebeneinander über den Blumentopf auf dem Küchentisch. „Wie seltsam das sein muss“, sage ich zu Alex. „Du warst dein Leben lang eine Raupe. Auf einmal wachst du auf, bist ein Schmetterling, kannst fliegen.“ Mich fasziniert es, dass alle Monarchfalter instinktiv dasselbe tun. Was da für ein biologisches Programm abläuft?

Eric(a) – an den fehlenden schwarzen Flecken auf den Flügeln erkennen wir, dass Eric ein weiblicher Schmetterling ist – verhält sich genau wie Jaqui: Sie schält sich aus dem Kokon und lässt sich kopfüber hängen, sodass ihre Flügel trocknen können. Draußen sucht sie taumelnd nach einem hohen Punkt und fliegt los ins neue Schmetterlingsleben.

An den Kar- und Ostertagen schlüpfen unsere Monarchfalter. Den Anfang macht Jacqui.
Wir schauen neugierig dabei zu.
Die Schmetterlinge schlüpfen aus ihren Kokons, die ohne sie wie eine transparente Hülle aussehen.
Mit noch zerknitterten Flügeln lassen sich die Monarchfalter an der Hülle nach unten hängen.
Mit trockenen Flügeln klettern sie draußen an einen hohen Punkt und fliegen davon.

Shea schlüpft am Ostermontag, Jenny vier Tage später. Nur Ken schafft es nicht. Sein Kokon ist pechschwarz geworden. Wir stellen den Ast, an dem er hängt, nach draußen, in den Garten.

Anfang April stirbt die Mutter von Eric, Jennys Nachbar, an den Folgen eines Falls im Pflegeheim. Sie wurde 94. Wegen der Corona-Schutzmaßnahmen durfte Eric sie in den vergangenen Wochen nicht besuchen. Nun kann er nicht einmal an ihrer Beerdigung teilnehmen. Nur ein Angehöriger ist zugelassen, Erics Bruder wohnt näher. In Deutschland sind zu diesem Zeitpunkt schon mehr als 1000 Menschen an Covid-19 gestorben. In den USA haben sich bereits Ende März mehr als 100.000 Menschen mit dem Virus angesteckt. Die Nachrichten stimmen betroffen. In fast allen Ländern steigt die Zahl der Infizierten.

Anders in Neuseeland, wo der harte Lockdown Wirkung zeigt. Die Gesamtzahl der Infizierten liegt noch unter 1000. Premierministerin Jacinda Ardern und Ashley Bloomfield, der Generaldirektor für Gesundheit, informieren mittels live übertragener Pressekonferenzen regelmäßig über die neusten Entwicklungen und Beschlüsse. Am 20. April 2020 verkündet Ardern, die Alarmstufe in einer Woche vom höchsten Level vier auf drei herunterzusetzen: Das Ende des harten Lockdowns naht.

Für uns ist es seltsam, aus der Ferne mitzuverfolgen, wie die Menschen in Europa Toilettenpapier hamstern, Desinfektionsmittel aus den Krankenhäusern entwenden, stricken lernen, am Balkon den Pflegekräften applaudieren, und immer mehr Erkrankte sterben, während wir die Aussicht auf eine baldige Rückkehr zu einem fast normalen Leben haben. Mit offenen Restaurants, ohne Masken und der Angst vor Ansteckung.

In Port Albert haben wir ohnehin nicht viel von der Pandemie mitbekommen. Wir konnten zwar keine Ausflüge unternehmen und nicht mit Jenny zu Abend essen. Abgesehen davon hätte unser Aufenthalt jedoch eine fast normale Wwoofing-Zeit sein können.

Alex chillt in der Hängematte …
… und arbeitet auf dem Bett. In Port Albert bekommen wir vom nationalen Lockdown wenig mit.

Obwohl es uns traurig stimmt, dass wir die Reise nicht so weiterführen können wie geplant – unser Schiff nach Los Angeles hätte am 15. April aus Auckland ablegen sollen – sind wir froh, uns dafür entschieden zu haben, vorerst in Neuseeland zu bleiben. Es wäre schwierig geworden, während der Pandemie in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Nichtsdestotrotz bin ich verunsichert, als ich auf Instagram das Foto eines schwarz-rot-goldenen Sky Towers in Auckland sehe. Der Turm werde in den Farben der deutschen Flagge beleuchtet, „um der letzten Gruppe deutscher Touristen, die von Aotearoa nach Hause fliegt, auf Wiedersehen zu sagen“, steht darunter. Es ist das letzte Rückhol-Flugzeug aus Neuseeland. Weltweit wird Außenminister Heiko Maas bis Mitte April die Rückreise für mehr als 200.000 gestrandete Urlauber organisiert haben, davon rund 9300 aus Neuseeland.

Auch Alex ist ein bisschen komisch zumute, als ich ihm das Instagram-Bild zeige. Vorerst gibt es wirklich kein Zurück mehr, keine weiteren Flieger nach Deutschland. Die kommenden Monate müssen wir in Neuseeland ausharren. Zum Glück können wir unsere Visa problemlos verlängern. Und noch eine Weile bleiben bei Jenny. In Albertland.

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