Abschied

„Geht endlich, ihr macht mich nervös!“, sagt Petra. Na danke. Den Abschied von meiner Schwester und meiner Mutter nach unserem gemeinsamen Roadtrip durch Neuseeland habe ich mir anders vorgestellt. Wir stehen vor der Gepäckabgabe im Flughafen von Christchurch und meine Familie möchte mich anscheinend so schnell wie möglich loswerden. Aber nicht mit mir. Wer weiß, wann ich die beiden wiedersehen werde. „Ich geh‘ kurz auf Toilette, ihr könnt ja schon mal euer Gepäck abgeben“, sage ich. Und verschwinde um die Ecke. Alex bleibt mit Mama und Petra zurück.

Drei Wochen sind wir durch Aotearoa gereist, das „Land der langen, weißen Wolke“. Von Auckland im Norden der Nordinsel über Hamilton, Hobbiton, Rotorua und Ohakune nach Wellington, der windigen Hauptstadt Neuseelands. Mit der Fähre sind wir mitsamt unserem Auto Diggitwo auf die Südinsel übergesetzt. Dort waren wir im Abel-Tasman-Nationalpark, bei den Pancake-Rocks, dem Franz-Josef- und dem Fox-Gletscher sowie in Queenstown, der Abenteuer-Stadt Neuseelands.

Vier Tage vor Mamas und Petras Rückflug nach Deutschland schauen wir etwas außerhalb von Queenstown ein paar Wahnsinnigen beim Bungeespringen zu. Der neuseeländische Unternehmer Alan John (A. J.) Hackett entwickelte 1986 ein ungewöhnlich belastbares Gummiseil und führte den Extremsport in Neuseeland ein. Die 43 Meter hohe Brücke über dem Kawarau-Fluss war 1988 der erste Ort weltweit, an dem kommerzielle Bungeesprünge angeboten wurden. Nur wenige hundert Meter flussaufwärts wurden einige Szenen für Der Herr der Ringe: Die Gefährten gedreht.

Dorthin fahren wir, nachdem wir bei drei oder vier Sprüngen zugeschaut haben. Der Drehort ist allerdings nur vom Boot zugänglich. Wir fahren oberhalb der Schlucht, durch die der Kawarau-Fluss fließt, auf einer engen Straße, die zu einem Weingut führt. Ein paar Mal müssen wir entgegenkommenden Autos ausweichen. Einmal geraten wir so nah an den Rand der Schlucht, dass Mama aufschreit. Am Ende der Straße steigen wir aus, knipsen Fotos. Gelohnt hat sich der Stopp aber nicht: Dass es sich um einen HdR-Drehort handelt, würde wohl nur ein Hardcore-Fan erkennen.

Weiter geht es durch die Steppen der Region Central Otago, dann vorbei an den unwirklich blauen Seen Pukaki und Tekapo, in denen sich die Neuseeländischen Alpen spiegeln. Wir steigen nur kurz aus, um zu fotografieren; die Wanderung auf den Queenstown Hill liegt uns noch in den Knochen.

Der Kawarau-Fluss wird in „Herr der Ringe“ zum Fluss Anduin. Foto: Petra Maier
Durch die Hochebenen von Central Otago fahren wir von Queenstown nach Christchurch. Foto: Petra Maier
Der Pukaki-See liegt am Rande des Mackenzie-Beckens.
Mit 3724 Metern ist der Aoraki / Mount Cook der höchste Berg Neuseelands.
Die unwirklich blaue Farbe des Pukaki-Sees entsteht durch zufließendes Gletscherwasser.
Am Tekapo-See blühen die Lupinen.
Die „Kirche des guten Hirten“ am Tekapo-See gehört zu den meistfotografierten Kirchen Neuseelands. Foto: Petra Maier

In Fairlie, einem Städtchen im Landesinneren zwischen Queenstown und Christchurch, machen wir Rast für eine Nacht. Obwohl wir schon gegen 14.30 Uhr an unserer Unterkunft ankommen, unternehmen wir nicht mehr viel an diesem Tag. Wir kaufen Milch ein, kochen, lesen und spielen Karten. Mama und Petra gehen am frühen Abend eine Runde spazieren. Es ist ein warmer, heller Frühsommertag, wir sitzen so lange mit offenen Türen im Wohnzimmer, bis es dunkel wird.

Auf dem Weg ins 185 Kilometer nordöstlich gelegene Christchurch probieren wir uns im Werkverkauf durch das Angebot des Keksherstellers Cookie Time.* Weil wir erst um 15 Uhr in unsere Ferienwohnung einchecken können, fahren wir zunächst nach Lyttelton, eine Hafenstadt rund zwölf Kilometer außerhalb des Zentrums. Wir spazieren durch die Innenstadt, vorbei an kleinen Läden, Cafés und Baustellen. Das Erdbeben, das am 22. Februar 2011 große Teile von Christchurch zerstörte und 185 Menschenleben forderte, führte auch in Lyttelton zu erheblichen Zerstörungen, Erdrutschen und blockierten Straßen.

An der nahen Corsair-Bucht essen wir Brote zu Mittag. Es ist unser letzter Ausflug zu viert zum Meer. Wir setzen uns auf eine Betonmauer, lassen die Beine baumeln. Die Wellen rauschen, die Möwen schreien und landen neben uns, in der Hoffnung, etwas abzubekommen. Es ist bewölkt, die Segelboote in der Bucht treiben mit zusammengefalteten Segeln neben den Bojen. Die Hügel im Hintergrund sind über weite Fläche gelb – der aus England eingeführte Ginster hat überhandgenommen.

Die Hafenstadt Lyttelton liegt im Stadtgebiet von Christchurch.
Who let the dogs out?
Ginster wächst auf den Hügeln gegenüber der Corsair-Bucht.

Unsere Ferienwohnung ist groß und liegt in einem ruhigen Wohnviertel. Ein schöner Ort für unsere letzten gemeinsamen Reisetage. Wir tragen die Koffer und Rucksäcke aus dem Auto in die Zimmer, duschen und fahren wieder. Nachdem wir die vergangenen drei Wochen fast jeden Abend gekocht haben, essen wir zum Abschied im Restaurant. Mama möchte Lamm. In einem Land mit mehr als 27 Millionen Schafen ist ihr Wunsch leicht zu erfüllen.

Um 18 Uhr haben wir einen Tisch im Old Vicarage reserviert. Wir bestellen marokkanischen Salat, vegetarische Moussaka und Lammkarree für Mama. Zum Nachtisch gibt es Eiscreme, Käse- und Zitronenkuchen. Es ist super lecker. Wir schwanken mehr aus dem Restaurant, als dass wir gehen.

Das Restaurant „The Old Vicarage“ ist ein ehemaliges Pfarrhaus. Foto: Petra Maier

Am folgenden Morgen fahren Mama, Petra und ich in die Stadt. Alex hat Kopfweh und bleibt daheim. Wir schauen uns zuerst den Botanischen Garten an, wo die Rhododendronbüsche blühen. Weiße, pinke, gelbe Blüten, darunter Enten, die auf einem Bach schwimmen. Zu Fuß gehen wir in die Innenstadt. Im Kunstzentrum schauen wir uns eine Fotoausstellung über die neuseeländische Armee, die New Zealand Defence Force, an. Ein Offizier erklärt uns, dass es in Neuseeland keinen Militärdienst gebe und dass sich auch Menschen anderer Nationen verpflichten können. „Mehr als 20 Sprachen werden in der neuseeländischen Armee gesprochen“, sagt er.

Im Außenbereich des Kunstzentrums trinken wir Kaffee. Alle drei haben wir eine Café-Decke um die Hüften gewickelt. Mama hat uns schon früh beigebracht, dass man sich das Leben oft ganz einfach schöner machen kann: zum Beispiel mit einem guten Sitzplatz im Restaurant oder eben mit einer Decke, wenn es draußen kühl ist. Die kleinen Dinge zählen.

Nach dem Kaffee gehen wir zur Kathedrale, die auch jetzt, fast neun Jahre nach dem verheerenden Erdbeben, nicht wiederaufgebaut ist. Ihr Anblick bedrückt mich. Als ich 2006 in Christchurch war, konnte ich die Kathedrale noch von innen besichtigen. Jetzt ist das Gelände um das Gotteshaus von Bauzäunen umgeben.

Wir spazieren weiter in die New Regent Street, wo wir bei Mrs-Higgins-Cookies Kekse essen. Die 1932 gegründete Straße ist die einzige in Christchurch, die ihr ursprüngliches Aussehen bewahrt hat. Heute ist sie eine Fußgängerzone. Links und rechts säumen pastellfarbene Häuser mit geschwungenen Fassaden und kleinen Balkonen die New Regent Street. Immer wieder müssen die Fußgänger zur Seite gehen, wenn eine der ikonischen bordeauxroten Straßenbahnen hindurchfährt.

Im Botanischen Garten blühen die Rhododendronbüsche.
Stocherkähne auf dem Fluss Avon in Christchurch
Für die, die lieber auf dem Trockenen bleiben wollen. Foto: Petra Maier
Im alten Universitätsviertel befindet sich das Kunstzentrum der 380.000-Einwohner-Stadt.
Bei dem Erdbeben 22. Februar 2011 wurde die Kathedrale teilweise zerstört.
Streetart-Künstler wie der Australier Rone haben versucht, das, was vom öffentlichen Raum übrig war, positiv zu gestalten.
Die Häuser der New Regent Street wurden im Stil der spanischen Missionsarchitektur erbaut.
City Tour: Die bordeauxroten Straßenbahnen prägen Christchurchs Stadtbild.

Auf dem Rückweg in unsere Ferienwohnung gehen wir in den Supermarkt. Mama und Petra möchten ein paar neuseeländische Süßigkeiten einkaufen. Außerdem halten wir an einer Tankstelle. Diggitwos rechter Vorderreifen sieht etwas flach aus. Als wir ihn wieder starten, folgt die große Überraschung: Die Motorleuchte, die seit unserer Fahrt nach Queenstown an war, ist ausgegangen.

Unseren vorerst letzten gemeinsamen Abend zu viert verbringen wir zuhause. Wir kochen Nudeln mit Pesto und Tomatensalat und spielen Karten: je eine Runde Hornochse, Skip-Bo und Taki. Danach schauen wir Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse – ein sehr übertriebener und klischeehafter, aber wunderbar witziger Film. Der perfekte Abschluss unserer Neuseelandreise.

Am Morgen darauf fahren wir nach dem Frühstück zum Flughafen. Um 12 Uhr geht der Flieger nach Singapur. Schon um 9.40 Uhr parken wir auf dem Flughafenparkplatz, 20 Minuten früher als geplant. Mama und Petra sind trotzdem nervös. Und erscheinen umgehend in der Toilette, nachdem ich hineingegangen bin. „Wir müssen auch mal“, behauptet Mama und versucht mich im selben Atemzug davon zu überzeugen, abzufahren: „Der Parkplatz kostet bestimmt 100 Dollar die Stunde!“

„Jetzt könnt ihr aber gehen“, sagt Petra, als wir wieder bei Alex vor der Gepäckabgabe stehen. „Ihr müsst echt nicht warten.“ „Wollen wir aber“, sage ich. „Und jetzt diskutieren wir nicht mehr.“ Wir begleiten die beiden bis zum Gate. „Sollen wir noch einen Kaffee trinken?“, frage ich. „Haha“, sagt Petra. Ich lache, nehme erst sie, dann Mama lange in den Arm. Alex und ich warten, bis die zwei hinter dem Durchgang verschwunden sind. Ich habe einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Alex umarmt mich. So lange keine Mama mehr. So lange keine Petra mehr. Sie fehlen mir schon jetzt.

Schwiegermutter <3

*Transparenz: Dieser Blogeintrag enthält unbezahlte Werbung. Für die Nennung von Restaurants, Cafés und Geschäften haben wir weder Geld noch kostenlose Verpflegung oder Gratisprodukte bekommen. Wir erwähnen ausschließlich, was uns gefällt und wovon wir überzeugt sind.

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