Die Müllhalde liegt idyllisch. Umgeben von hohen Ölpalmen, die leise im Wind rascheln, türmen sich die Plastikflaschen und Verpackungen auf einer Lichtung. Der Anblick stimmt mich traurig. Dabei sind die Abfälle nur ein Überbleibsel des ursprünglichen Müllbergs. „Vor drei Monaten sah es hier noch ganz anders aus“, sagt Heng Kiah Chun. Der Greenpeace-Aktivist war an der Aufdeckung eines Plastikmüllskandals in Malaysia beteiligt.
Seit dem 1. Januar 2018 nimmt China die Plastikabfälle anderer Staaten nicht mehr ab, um sie zu recyceln. Seither wird Müll aus Industrienationen wie Deutschland, Japan und Australien immer öfter nach Südostasien verschifft. Doch Länder wie Malaysia verfügen nicht über die nötige Infrastruktur, um das viele Plastik weiterzuverarbeiten. In den vergangenen Monaten entstanden so immer mehr illegale Recycling-Höfe und Mülldeponien, auf denen nicht mehr verwendbare Plastikreste verbrannt werden beziehungsweise im Freien oder in verlassenen Gebäuden verrotten.
Die Müllhalde in Jenjarom, einem Distrikt rund 50 Kilometer südwestlich von Kuala Lumpur, ist eine dieser Deponien. Zusammen mit seinem deutschen Kollegen Manfred Santen steigt Heng Kiah Chun den Plastikberg hinauf. Die beiden sind gekommen, um Filmaufnahmen über die Entwicklung in Malaysia zu machen. Ich bin dabei, um über das verschobene Müll-Problem zu schreiben.
An Santens Schläfen glänzen Schweißperlen. Es ist heiß an diesem Nachmittag. Trotzdem riecht der Müll fast gar nicht. Der Platzregen, der in der Woche zuvor fast täglich über den Großraum Kuala Lumpur niedergegangen ist, hat die Tüten, PET-Flaschen und Dosen abgespült.
Santens gelbe Gummistiefel sinken bei jedem Schritt tief in den Müllberg ein. Er muss nicht lang nach deutschem Abfall suchen. Da liegt der Deckel einer Dose Philadelphia, ein Stück weiter ein Kartoffelnetz der Marke Ackergold, daneben eine leere Capri-Sonne, Geschmacksrichtung Kirsche. Die Abfälle stammen offensichtlich aus dem deutschen Hausmüll.
Einen Tag später begleite ich die Greenpeace-Aktivisten zu zwei Polizei-Razzien. Journalisten und Videoreporter verschiedener Länder dokumentieren die Aktion, die offensichtlich inszeniert ist. Auf dem Gelände des ersten illegal betriebenen Recycling-Hofs befindet sich längst niemand mehr. Auf dem zweiten sortieren ein Dutzend Männer und eine junge Frau in Flipflops Plastikabfälle per Hand. Sie müssen ihre Arbeit unterbrechen, den Beamten vor das Fabriktor folgen, das diese vor den Kameras medienwirksam zuschieben.
Obwohl die Recyling-Höfe vorerst geschlossen sind, macht es auf mich nicht den Eindruck, als ob die malaysischen Behörden das Müllproblem in den Griff bekommen würden. Selbst der anwesende Lokalpolitiker Ng Sze Han gibt zu, dass die Regierung den Betreibern der illegalen Fabriken kaum beikomme. Die Behörden seien wie Feuerwehrmänner, sagt er: „Sobald wir einen Brand gelöscht haben, flammt anderswo das nächste Feuer auf.“ Er fordert die Industrienationen deshalb auf, ihren Plastikmüll gar nicht erst nach Malaysia zu bringen.
Alex und mich bestärkt das Erlebte in unserem Vorhaben, mehr auf Plastik zu verzichten. Das ist unterwegs zwar nicht ganz einfach, aber auch nicht unmöglich. Wasser zum Beispiel trinken wir, wo immer es geht, aus der Leitung. Plastikflaschen verwenden wir mehrfach. Auf dem Markt oder im Supermarkt verpacken wir Obst und Gemüse nicht extra in Plastiktüten. Wir legen sie einfach als Letztes in unsere Jutetaschen, sodass sie nicht zerquetscht werden. Zugegeben, so konsequent wie wir es gerne wären, sind wir nicht. Wir kaufen immer noch sehr oft Gummibärchen in der Plastiktüte oder ganz normales Shampoo. Aber für uns zählt jeder Schritt in diese Richtung.
In Kuala Lumpur dürfen wir zehn Tage im Haus des Greenpeace-Aktivisten Flo verbringen. Er hat mich für die Plastikmüll-Reportage an seinen Kollegen Heng Kiah Chun vermittelt. Flo ist Anfang 40, blond und voller Energie. Und er ist der Erste, der nicht nachfragt, warum wir ohne Flugzeug reisen.
Im Gegensatz zu unserem Kurzzeit-Mitbewohner Alejandro, der in Kuala Lumpur seine einjährige Fahrradreise aus dem englischen Bristol nach Südostasien beendet, sind wir bei Flo nicht über das Radfahrer-Netzwerk Warmshowers gelandet. Unser Freund Markus, den wir bereits in George Town, im Norden Malaysias, kennengelernt haben, hat uns eingeladen.
Schon am Abend unserer Ankunft begrüßt Markus uns in Flos schönem Haus, das nicht nur zwei Stockwerke, sondern auch einen Garten hat. Ein kleines Paradies in der malaysischen Hauptstadt. Da die dritte feste WG-Bewohnerin gerade außer Haus ist, bekommen Alex und ich sogar ein eigenes Zimmer. Perfekt, um uns vor der geplanten Containerschiff-Überfahrt nach Australien von der Reise zu erholen und in Ruhe zu arbeiten. Wobei wir mit Markus, der ebenfalls von zuhause arbeitet, meistens im Wohnzimmer an unseren Laptops sitzen. Abends kochen wir zusammen und schauen Black Mirror.
Die 1,8-Millionen-Metropole Kuala Lumpur kommt uns nach unserem viertägigen Ausflug nach Singapur überschaubar vor. Wir spazieren durch die Innenstadt und Chinatown, schauen uns die ikonischen Petronas-Zwillingstürme und den Menara Kuala Lumpur an, der uns stark an den Stuttgarter Fernsehturm erinnert.
Am meisten beeindrucken uns aber die Batu-Höhlen, gut 15 Kilometer nördlich von Kuala Lumpur. Mit dem Regionalzug fahren wir zu den Kalksteinhöhlen, in die mehrere hinduistische Tempel hineingebaut worden sind. Wir haben Glück, im Zug noch einen Sitzplatz zu bekommen. Die Batu-Höhlen sind zu jeder Tageszeit ein beliebtes Ausflugsziel.
Im benachbarten Dorf essen wir in einem indischen Restaurant zu Mittag, bevor wir die 272 bunten Stufen zu den Höhlentempeln emporsteigen. Am Eingangstor zur Treppe hält mich eine Aufseherin zurück: In meinen kurzen Hosen dürfe ich nicht zu den Tempeln. Zum Glück habe ich eine lange Hose mitgebracht. Da schon in Thailand viele Tempel eine strenge Kleiderordnung hatten, bin ich auf die Situation vorbereitet. Im Schatten eines angrenzenden Gebäudes ziehe ich mich um.
Ich schwitze auf dem Weg nach oben und beneide Alex um seine kurzen Hose. Wie so oft sind die Kleidervorschriften für Männer nicht ganz so streng. Obwohl es mir viel zu heiß ist, mache auch ich immer wieder Halt, um die vielen kleinen Javaneraffen zu fotografieren, die auf dem Treppengeländer sitzen und auf eine Möglichkeit warten, Futter zu ergattern. Die frechen Tiere haben sich längst an die Tempelbesucher gewöhnt und jegliche Scheu vor Menschen verloren.
Im Inneren der Höhle riecht es nach Räucherstäbchen. Die sogenannte Kathedralenhöhle ist bis zu 100 Meter hoch. Auf der linken Seite der Höhle befindet sich ein bunter Schrein, vor dem steinerne Pfau-Figuren mit weit aufgespannten Federfächern sitzen. Am hinteren Ende der Höhle führt eine zweite Treppe weiter in das Innere hinein, zum Haupttempel.
Obwohl die meisten Besucher Touristen sind, gibt es doch auch einige, die gekommen sind, um zu beten. Alex und ich bestaunen die filigranen Verzierungen und bunten Figuren, die überall aufgestellt sind. Abgeschottet von der Sonne ist es angenehm kühl in der Höhle. Auch deshalb machen wir uns nicht gleich auf den Rückweg.
Kaum, dass wir die Kathedralenhöhle verlassen, schwitze ich wieder in meiner langen Hose. Langsam steigen wir die bunten Treppenstufen hinunter. Plötzlich zieht mich ein Gewicht nach hinten. Ich drehe mich um und erschrecke: Ein Javaneraffe sitzt auf meinem Rucksack. Mit seinen kleinen Händen versucht er, die Tüte mit den Keksen aus meinem Seitenfach zu ziehen. Das Plastik, in das sie eingewickelt sind, ist für ihn ein sicheres Zeichen für eine Futterquelle. Noch ein Grund mehr, in Zukunft auf Plastik zu verzichten.