Mein Herz klopft jedes Mal schneller, wenn sich die Tür zum Gate öffnet. Meine Wangen schmerzen vom vielen Lächeln. Ich bin aufgeregt. Alex und ich stehen in der Ankunftshalle des Suvarnabhumi-Flughafens rund 30 Kilometer außerhalb Bangkoks. Wir warten auf meine Schwester Petra. Drei Wochen lang wird sie uns auf unserer Reise durch Nordthailand begleiten.
Ich halte einen nicht aufgeblasenen Einhorn-Luftballon vor mir, der jedes Mal leise knistert, wenn ich mich bewege, und die Aufmerksamkeit aller Kinder auf sich zieht, die die Ankunftshalle betreten. Acht Monate lang haben Petra und ich uns nicht gesehen. Im April 2018 haben Alex und ich sie, kurz vor unserem Aufbruch nach Österreich, noch ein paar Tage in Hamburg besucht. Seither haben wir zwar sehr viele Nachrichten auf WhatsApp ausgetauscht und oft telefoniert, aber das ist selbstverständlich nicht dasselbe wie tatsächlich Zeit miteinander zu verbringen.
Zum gefühlt hundertsten Mal öffnet sich die Tür zum Gate. Und da steht sie plötzlich, meine kleine Schwester. Skeptisch scannt sie den Raum. Sie sieht uns erst, als sie uns schon ganz nah ist, trotz des rosafarbenen Einhorn-Luftballons und des selbstgebastelten Namensschilds in Alex‘ Händen. Ich überreiche Alex das Einhorn, renne zu Petra, schließe sie in meine Arme, drücke sie feste. „Wie war der Flug?“, die Standardfrage. Ich kann nicht aufhören zu lächeln.
Nachdem Petra auf der Toilette eine Schicht Kleidung abgelegt hat, fahren wir mit dem Skytrain zu der Wohnung, in der wir die kommenden vier Tage miteinander verbringen werden. Alex und ich sind schon am Abend zuvor aus Kambodscha angereist. Wir zeigen Petra das kleine Wohnzimmer mit der Küchenzeile, das winzige Bad und die beiden Schlafzimmer.
Während Petra ihren großen Rucksack ausräumt, setze ich Kaffeewasser auf und verteile Kuchen auf drei Teller. Sie soll erst einmal in Ruhe ankommen, bevor wir unseren Sightseeing-Marathon beginnen. Denn der bleibt nicht aus, wenn meine Schwester und ich miteinander reisen. So war es 2015 in Kopenhagen, 2016 in Polen und 2017 in Slowenien.
An diesem Nachmittag beschränken wir uns auf einen Spaziergang durch die Nachbarschaft. Es ist schwül, die Luft steht zwischen der nahen Autobahnbrücke und den Hochhäusern. Bei über 30 Grad schlendern wir durch den Bezirk Khlong Toei, rund zwölf Kilometer östlich der Innenstadt. Wir passieren mehrstöckige Betonhäuser mit vergitterten Fenstern, zwei Frauen, die unter der Skytrain-Trasse Federball spielen und Läden, in denen Schreibwaren und Stoffe verkauft werden. Auf dem Gemüsemarkt um die Ecke kaufen wir eine Aubergine, Koriander und Ingwer fürs Abendessen.
Am nächsten Morgen brechen wir gleich nach dem Frühstück auf. Im frostigen Skytrain ziehen wir als Erstes unsere Pullis an. Es ist uns ein Rätsel, weshalb die Thais die Bahn so stark abkühlen. Der Unterschied zur Außentemperatur beträgt bestimmt zehn Grad. Mit der Fähre fahren wir zum Tien-Pier. Schon nach wenigen Minuten auf dem Wasser legen wir wieder an. Bangkok ist von Kanälen, sogenannten Khlongs, durchzogen. Boote sind in der Hauptstadt Thailands meist das zeitsparendste Fortbewegungsmittel, da der Verkehr auf den Straßen der 8,3-Millionen-Metropole oft zum Erliegen kommt.
Wir besuchen den Großen Palast, wo von 1782 bis 1946 die Könige von Siam residierten. Wie in vielen religiösen Stätten Thailands müssen die Besucher langärmelige Oberteile und lange Hosen tragen. Wer einen zu kurzen Rock oder eine kurze Hose an hat, wird am Eingang weggeschickt. Seine knielangen Badeshorts muss Alex wie erwartet gegen eine lange Hose tauschen. Doch auch Petras lange Strickjacke mag der Aufseher nicht. Sie ist ihm zu durchsichtig. Zum Glück hat sie noch eine Jacke eingesteckt. „I like it okay!“, kommentiert der Aufseher ihr neues Outfit. Wir dürfen eintreten.
Während Petra 2011 schon einmal auf dem 2,6 Quadratkilometer großen Gelände war, besichtigen Alex und ich die reich verzierten Hallen, Pagoden, Tempel und Paläste zum ersten Mal. Überall glitzert und funkelt es. Die Dächer und Außenwände der Gebäude sind mit Blattgold, Edelsteinen und Spiegelmosaiken geschmückt.
Im nur 700 Meter entfernten Wat Pho, einem der wichtigsten Tempel Bangkoks, bestaunen wir anschließend den liegenden Buddha. Die vergoldete Statue ist 46 Meter lang und 15 Meter hoch. Wir umrunden sie zusammen mit anderen Touristen und Gläubigen, die auf der Rückseite des Liegenden Geldstücke in eine Reihe von 108 Bronze-Schalen werfen.
Alex‘ 32. Geburtstag feiern wir tags darauf mit einem Pfannkuchen-Frühstück, Kuchen und einem Besuch im Kino. Es läuft Mortal Engines: Krieg der Städte von Christian Rivers, der uns immerhin mäßig unterhält.
Viel spannender finden wir das, was vor dem Film passiert. Nach der Vorschau und der Werbung wird eine Art Power-Point-Präsentation abgespielt: eine Hommage an König Maha Vajiralongkorn, die sein Leben wiedergibt. Wie alle anderen Kinobesucher stehen Alex, Petra und ich auf, als die Königshymne zu Beginn des Videos erklingt. Auf die Kritik am König stehen im selbsternannten Land des Lächelns hohe Strafen.
Maha Vajiralongkorn, dessen offizieller Titel Rama X. lautet, ist seit dem 13. Oktober 2016 das Staatsoberhaupt Thailands. Er ist jedoch längst nicht so beliebt wie sein Vater Bhumibol Adulyadej oder Rama IX., der von der Bevölkerung sehr verehrt wurde. Als Bhumibol mit 88 Jahren starb, ging er als dienstältester Monarch in die Geschichte ein. Er führte die thailändische Monarchie insgesamt sieben Jahrzehnte lang. Zu seiner Trauerzeremonie reisten zehntausende Menschen nach Bangkok.
Maha Vajiralongkorn dagegen konnte aufgrund seines skandalösen Lebenswandels bisher noch nicht viel Sympathie unter seinen rund 69 Millionen Untertanen gewinnen. Den Großteil des Jahres soll er zudem in seinem Haus in Deutschland, am Starnberger See, verbringen. Volksnähe geht anders.
Unseren vorerst letzten Tag in Bangkok nutzen wir für ein paar Einkäufe. Auf der Suche nach einem neuen Kindle und einem Kameraobjektiv verbringt Alex Stunden im Siam Paragon und im MBK Center, zwei von Bangkoks größten Einkaufszentren. Petra und ich durchkämmen derweil den riesigen Chatuchak-Wochenendmarkt, erstehen Mango-Seifen und weite Stoffhosen, essen Kokoseis und Sticky Rice mit Mango, spazieren durch Chinatown.
Mit dem Nachtzug fahren wir am folgenden Abend in den Norden. 12 Stunden und 45 Minuten dauert die Fahrt von Bangkok nach Chiang Mai. Auf unseren Pritschen werden wir in der Nacht gut durchgerüttelt, am Morgen von einem Ukulele spielenden Mitreisenden geweckt.
Etwas gerädert steigen wir in eins der vielen Songtaews vor dem Bahnhof. Das Sammeltaxi bringt Petra und mich zum Busbahnhof, Alex in die Innenstadt. In Chiang Mai trennen sich unsere Wege für kurze Zeit: Während Alex ein paar Tage allein in der zweitgrößten Stadt des Landes verbringt, fahren Petra und ich mit dem Minibus weiter in das Bergdorf Pai. Zeit für Schwesternzeit.