Schlaflos in Siem Reap

Moskitos. Baulärm. Hitze. Husten. Eine ausgebuchte Unterkunft. Betrunkene Backpacker. Singende Mönche. Hätte mir jemand vor unserem Aufenthalt in Siem Reap gesagt, dass Alex und ich in dieser Stadt innerhalb von zwölf Tagen fünfmal umziehen würden, hätte ich ihn oder sie für verrückt erklärt. Ich hätte nicht geglaubt, dass man in so kurzer Zeit so viel Unterkunftspech haben kann. Tja. So kann man sich täuschen.

Wir verlassen Phnom Penh an einem Samstag. Mit dem Bus fahren wir aus der kambodschanischen Hauptstadt ins rund 320 Kilometer entfernte Siem Reap. Wegen ihrer Nähe zu den berühmten Tempelruinen von Angkor verbringen fast alle Kambodscha-Besucher ein paar Tage in der 140.000-Einwohner-Stadt zehn Kilometer nördlich des Tonle-Sap-Sees, des größten Sees in Südostasien.

 

Angkor Wat ist die bekannteste Tempelanlage Angkors und seit circa 1863 auf der Nationalflagge Kambodschas abgebildet.
Der archäologische Park nahe Siem Reap ist Kambodschas wichtigste Touristenattraktion.
Vom 9. bis 15. Jahrhunderten war Angkor das Zentrum des mächtigen Khmer-Königreichs.

Um 10 Uhr setzt der Bus sich in Bewegung. Schon nach kurzer Zeit lassen wir die Häuser Phnom Penhs hinter uns. Wir passieren Reisfelder, Palmen, Müllberge, freilaufende Rinder, Tempel und Holzhäuser auf hohen Stelzen, unter denen Hängematten baumeln und Hunde im Schatten schlafen.

Gegen 16 Uhr erreichen wir Siem Reap. Ein Tuk-Tuk-Fahrer fährt uns zu der Privatunterkunft, die wir ein paar Tage eher im Internet gebucht haben. Unsere Gastgeberin, eine Kanadierin, ist allerdings noch nicht anwesend. Eine halbe Stunde dauert es, bis sie kommt und sie kommt mit schlechten Nachrichten. „Habt ihr meine SMS nicht erhalten? Euer Zimmer ist belegt. Ihr müsst woanders übernachten.“

Ich ärgere mich, versuche aber, es mir nicht anmerken zu lassen. „Können wir bitte das WLAN-Passwort haben?“, frage ich. Während die Sonne hinter den Bäumen des Nachbargrundstücks verschwindet, versuchen Alex und ich online ein Zimmer für die Nacht zu finden. Die vier Hofhunde freuen sich über die unerwartete Gesellschaft. Immer wieder kommen sie zu uns, strecken uns ihre feuchten Nasen entgegen, um gekrault zu werden.

Es ist bereits dunkel, als wir im Tuk-Tuk über eine ungepflasterte Straße zu unserer neuen Unterkunft holpern. Wir haben einen Homestay bei einer kambodschanischen Familie gefunden, etwas außerhalb von Siem Reap. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Sokhbo und ihr Mann Bo sind gut im Geschäft, sie lassen gerade einen zweiten Stock auf ihr eingeschossiges Gästehaus setzen. Am nächsten Morgen werden wir vom Hämmern und Bohren der Handwerker geweckt.

Obwohl Sokhbo und ihre beiden Töchter (5 und 3), die dank Fernsehserien wie Peppa Pig besser Englisch sprechen als wir, uns bald ans Herz wachsen, beschließen wir nach drei Nächten umzuziehen. Wir können bei dem Baulärm tagsüber nicht arbeiten.

Den Tag vor unserem Umzug verbringen wir in Angkor. Pünktlich um 8.45 Uhr steht, wie vereinbart, der Tuk-Tuk-Fahrer vor der Tür, der uns an diesem Tag begleitet. „Hi, I’m Mr. Alex!“, stellt er sich mit einem Lächeln vor. Wenn das mal kein Zufall ist. Alex und Mr. Alex sind erheitert.

Wir steigen auf den Rücksitz. Das Tuk-Tuk rumpelt über den staubigen roten Weg zur Hauptstraße. Mr. Alex, 26, fährt uns quer durch die Stadt, über den Siem-Reap-Fluss zu dem Gebäude, in dem die Eintrittskarten zu den Tempelanlagen verkauft werden. Wir entscheiden uns für ein Drei-Tages-Ticket. Auf dem Gebiet des ehemaligen Khmer-Königreichs Kambuja verteilen sich mehr als 1000 archäologische Stätten auf einer Fläche von mindestens 200 Quadratkilometern.

Erst 2016 entdeckten Archäologen mithilfe der speziellen Lasertechnik Lidar, dass die Region Angkor vermutlich ein viel größerer Ballungsraum war als zuvor angekommen. Die Metropole im tropischen Dschungel könnte im 12. und 13. Jahrhundert das größte Reich der Erde gewesen sein.

 

Der Tempel Baphuon: Mehr als 1000 archäologische Stätten verteilen sich auf einer Fläche von über 200 Quadratkilometern.
Im 12. und 13. Jahrhundert könnte die Metropole im tropischen Dschungel das größte Reich der Erde gewesen sein.
Von der ehemaligen Mega-City sind nur Tore, Mauern, Wasserreservoirs und religiöse Gebäude erhalten geblieben.
Verstecktes Leben im Inneren eines Tempels.
Mr. Alex wartet in seinem Tuk-Tuk, während wir die Tempel Angkor Thoms besichtigen.

Mr. Alex fährt uns als Erstes zum Bayon, dem Haupttempel der Khmer-Hauptstadt Angkor Thom („Große Stadt“), die Jayavarman VII. , der letzte große König Angkors, vom Ende des 12. Jahrhunderts an errichten ließ.

Doch schon auf dem Weg dorthin halte ich es nicht mehr auf dem Rücksitz aus. „Können wir kurz anhalten?“, frage ich unseren Fahrer am südlichen Eingangstor von Angkor Thom, vor dem sich links und rechts überlebensgroße Torsi aus Sandstein reihen. Mr. Alex parkt sein Tuk-Tuk hinter dem Tor, wartet, bis wir unsere Fotos aufgenommen haben. Dann geht die Fahrt weiter.

Bayon bezaubert uns. Daran können auch die Besuchergruppen, die zwischen den steinernen Säulen und Türmen umhergehen und Selfies knipsen, nichts ändern. Mich überrascht, wie detailreich die Reliefs gearbeitet sind, wie geheimnisvoll die meterhohen Sandsteingesichter in die Ferne blicken.

Ich versuche mir vorzustellen, wie Bayon im 13. Jahrhundert ausgesehen haben mag, als der Tempel noch intakt war. Einem Reisebericht des chinesischen Botschafters zufolge, der von August 1296 bis Juli 1297 in Angkor weilte, sollen seine Türme einst mit Gold überzogen gewesen sein.

 

Vor dem südlichen Eingangstor Angkor Thoms …
… reihen sich links und rechts überlebensgroße Torsi aus Sandstein.
Der Tempel Bayon wurde im späten 12. Jahrhundert errichtet.
Bekannt ist Bayon vor allem für seine Türme mit den meterhohen, aus Stein gemeißelten Gesichtern.
Insgesamt rund 200 lächelnde Gesichter zieren die noch erhaltenen 37 Türme der Tempelanlage.

Zu Fuß gehen wir zum Baphuon-Tempel gegenüber des Bayons, der Mitte des 11. Jahrhunderts zu Ehren des Hindu-Gottes Shiva errichtet wurde, zur Terrasse der Elefanten und des Leprakönigs. Anschließend besichtigen wir den pyramidenförmigen Tempel Phimeneakas, den buddhistischen Tempel Preah Palilay und die weitgehend zerstörte Preah-Pithu-Gruppe.

„Es ist unglaublich, wie du dich auch noch für den zehnten Tempel begeistern kannst“, sagt Alex zu mir, als wir in Mr. Alex‘ Tuk-Tuk aus dem Osttor Angkor Thoms hinaus durch den Urwald zum Tempel Ta Prohm fahren. Dort wurde 2001 der Film Lara Croft: Tomb Raider gedreht, in dem Angelina Jolie die Hauptrolle spielte.

Riesige Würgefeigen und Tetrameles-nudiflora-Bäume wachsen auf den Mauern der Tempelanlage. Ihre dicken Wurzeln umrahmen die fein gemeißelten Fenster der Gänge, die reliefbedeckten Türen. Ta Prohm ist der einzige Tempel Angkors, den die Restauratoren der École française d’Extrême-Orient zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend unberührt ließen. Die Wissenschaftler hatten beschlossen, eine der Stätten in dem Zustand zu belassen, in dem sie sie vorgefunden hatten.

 

Alex vor dem Tempel Baphuon. Die Anlage wurde zu Ehren des Hindu-Gottes Shiva erbaut.
Nicht alleine mit den Steinhaufen: Mehr als 2,6 Millionen Touristen besuchten Angkor 2018.
Riesige Würgefeigen und Tetrameles-nudiflora-Bäume wachsen auf den Mauern Ta Prohms.
In der Tempelanlage wurde 2001 der Spielfilm „Lara Croft: Tomb Raider“ gedreht.
Mit ihren vielen gut erhaltenen Reliefs gehört die Terrasse des Leprakönigs zu den schönsten Khmer-Kunstwerken.

Tags darauf packen Alex und ich unsere Sachen und ziehen in ein Hotel am Stadtrand. In einem gemütlichen Zimmer im ersten Stock kuriere ich zwei Nächte lang die Erkältung aus, die mir mein Schweiß und der Fahrtwind bei der Rückfahrt von Angkor im offenen Tuk-Tuk beschert haben. Mit verstopfter Nase und dröhnendem Kopf liege ich in der heißen Badewanne, während Alex im Pool schwimmt. Nachts lässt mein Husten mich nicht schlafen.

Wir wären beide gerne noch länger in dem ruhigen Hotel geblieben. Doch für die Stornierung der Unterkunft, die wir bereits in Phnom Penh für unsere zweite Woche in Siem Reap gebucht haben, müssten wir zu viel Geld bezahlen.

Mit unseren großen Rucksäcken auf dem Rücken und den kleinen vor dem Bauch gehen wir zu Fuß zu dem nicht weit entfernten Guesthouse. Ein Angestellter führt uns in ein riesiges Apartment. „Ich glaube nicht, dass wir das gebucht haben“, sage ich vorsichtig. Sein Chef klärt auf: Das Zimmer, das wir reserviert haben, sei noch belegt, die ersten zwei Nächte dürfen wir deshalb in der Wohnung bleiben.

Wir freuen uns über das Upgrade, auch wenn wir uns eigentlich danach gesehnt hatten, ein paar Tage in einem Raum zu bleiben, uns und unsere Sachen auszubreiten. Die Freude währt nicht lange. Von Mitternacht bis 2 Uhr früh unterhalten sich zwei betrunkene Backpacker aus dem Hostel am Ende der Straße vor unserem Fenster. Um 4.30 Uhr beginnen die Mönche in der Pagode nebenan zu singen. Wir schlafen in dieser Nacht höchstens drei Stunden.

Müde gehen wir nach dem Frühstück zum Chef, erklären ihm die Lage. Er bietet uns ein Zimmer in einem anderen Gebäude an, am folgenden Tag müssten wir aber noch einmal umziehen. Wir willigen ein. Besser schlafen können wir in der Nacht trotzdem nicht. Bei unserem Umzug haben wir die Tür zu unserem neuen Zimmer zu lang aufgelassen. Nachts halten uns ungefähr 50 Stechmücken wach.

Als wir unsere Rucksäcke in das letzte Zimmer unseres Aufenthalts in Siem Reap tragen, achten wir penibel darauf, die Türe sofort hinter uns zu schließen. Im Raum riecht es zwar intensiv nach Insektenspray und Putzmitteln, doch das ist längst nicht so unangenehm, wie vom Surren und den Stichen der Moskitos die ganze Nacht wach gehalten zu werden. Mein rechter Oberarm bleibt bis zum Nachmittag geschwollen.

Zweimal besuchen wir Angkor noch. Beide Male leihen wir uns Fahrräder aus. Bei über 30 Grad fahren wir an nur einem Tag mehr als 40 Kilometer durch den Dschungel. Wir beginnen unsere Runde am Tempel Bakheng, auf einem 55 Meter hohen Hügel. In der Ferne ragen die Türme Angkor Wats, des bekanntesten Tempels Angkors, aus den Baumwipfeln.

 

Nachdem wir ungefähr 15 Minuten Schlange standen, erklimmt Alex die Treppe ins Innere von Angkor Wat.
Neben zahlreichen Touristen besuchen noch immer viele Gläubige …
… und buddhistische Mönche den bekanntesten Tempel Angkors.

Da die meisten Angkor-Besucher erst zum Sonnenuntergang auf den Hügel Bakheng steigen, stehen wir um zwei Uhr mittags fast alleine vor dem Tempel. Ein Wachmann sitzt im Schatten der Bäume neben den Steinen, eine Gruppe Asiatinnen kommt nur wenige Minuten nach uns an.

Vor den Toren Angkor Wats dagegen drängen sich von morgens bis abends die Besuchergruppen. Zeitgleich mit Hunderten anderen Touristen überqueren wir die weiße Plastikbrücke, die über den mächtigen Wassergraben ins Innere der Tempelanlage führt. Die Brücke schwankt sachte unter unseren Schritten, die Nachmittagssonne lässt uns schwitzen.

Angkor Wat wurde vermutlich auf Anlass des Königs Suryavarman II., der Kambuja von 1113 bis circa 1150 regierte, errichtet. Er soll der Verehrung des hinduistischen Gottes Vishnu gedient haben. Inklusive des Wassergrabens misst die Tempelanlage von Westen nach Osten knapp 1,5, von Norden nach Süden knapp 1,3 Kilometer.

Wir sind beide übermüdet. Wie in Trance schreiten wir durch die Gänge, fotografieren Reliefs und steinerne Tänzerinnen. Der Nachhauseweg kostet unsere letzten Kräfte.

 

Wie die Tempel wohl früher ausgesehen haben?
Von den Roten Khmer wurden die Kulturschätze Angkors glücklicherweise weit weniger zerstört als angenommen.
Das Staubecken Nördlicher Baray wurde um das Jahr 1200 von König Jayavarman VII. angelegt.
Sonnenstrahlen durchleuchten das Blätterdach. Die Tempel Angkors liegen inmitten des Dschungels.

An unserem dritten, und letzten, Tag in Angkor radeln wir durch Angkor Thom zu den Tempeln Preah Khan, Neak Poan, Ta Som, dem östlichen Mebon und Pre Rup. Doch die jahrhundertealten Ruinen haben ihre Magie für uns verloren. Der gefühlt 40. Tempel kann selbst mich nicht mehr begeistern. Statt der Schönheit der detaillierten Steinmetzarbeiten nehmen wir vor allem die Besuchermassen wahr, die Hitze und die weiten Distanzen zwischen den Tempeln.

Die singenden Mönche und mein Husten lassen uns auch während unserer letzten Nächte in Siem Reap kaum schlafen. Zwei Tage vor unserer Abreise veranstalten die Nachbarn eine Party. Bis spät nach Mitternacht wummert der laute Bass ihrer Technomusik zu uns ins Zimmer. Als wir Siem Reap nach elf schlaflosen Nächten und fünf Umzügen verlassen, sind wir vor allem eins: erleichtert. In Bangkok, der Stadt der Engel, kann es doch nur besser werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert