Keine zehn Meter unterhalb des Gipfels erwischt mich die Höhenangst doch noch. Die Panik breitet sich so schnell in mir aus, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Sie flattert durch meinen Magen, kriecht unter die Kopfhaut, presst kalten Angstschweiß in meine Handflächen. Jetzt bloß nicht nach unten schauen. Dorthin, wo New Plymouth wie eine Spielzeugstadt aussieht und sich die Wellen der Tasmansee an schwarzen Vulkansandstränden brechen.
Der 156 Meter hohe Paritutu Rock bildet die natürliche Grenze zwischen dem Back Beach und dem Ngamotu-Strand. Er gilt als Wahrzeichen der Stadt New Plymouth im Osten der neuseeländischen Nordinsel. Und als attraktives Ausflugsziel – für Menschen ohne Höhenangst. Innerhalb von 30 Minuten könne man den freistehenden Felsen erklimmen, steht auf einem Schild neben dem Weg, der nach oben führt. Alles in allem eine bequeme Wanderung: Man kann mit dem Aufstieg direkt am Parkplatz beginnen. Für den Gipfelsturm muss man nicht erst mühsam Höhenmeter sammeln.
Der erste Teil ist auch ganz einfach. Gut gelaunt steige ich die Treppenstufen hinauf. Alex folgt mir, mehr oder weniger freiwillig. „Mir war schon klar, dass du dir das nicht nur von unten anschaust“, seufzt er. Er hat sich seinem Schicksal schon ergeben. Das Industriegebiet New Plymouths neben dem Paritutu-Parkplatz wird kleiner unter uns, das Rauschen der Wellen leiser. Mein Herz klopft schneller, als die Treppe vor mir endet. Eine Kette aus Metall liegt auf den Felsen. Daran sollen wir uns von nun an wohl nach oben ziehen. „Na gut“, denke ich, „so krass wird das schon nicht sein.“
Ich greife nach der Kette und versuche nicht nach unten zu schauen, sondern nur nach oben, sodass mein Kopf nicht begreift, wie hoch Alex und ich schon geklettert sind. Ein junger Mann kommt uns entgegen und mein Versuch scheitert. „How are you, wie geht’s?“, fragt der Neuseeländer, wie die meisten Kiwis, denen wir begegnen, und steigt flugs an uns vorbei, ohne eine Antwort abzuwarten.
Von dem Vorsprung, auf dem wir stehen, geht es gut 150 Meter in die Tiefe. Keine Absperrung, kein Geländer schützt vor einem Fall. „Ein falscher Schritt und das war’s“, denke ich, und das war’s dann auch für mich. „Können wir hier bleiben?“, frage ich. „Ich glaube, den Rest schaffe ich nicht.“ „Klar“, sagt Alex und setzt sich aufs Gras. Ihm macht es nichts aus, dass uns nur noch zehn Meter bis zum Gipfel fehlen. Die Angst, etwas zu verpassen, kennt er nicht. Ich ärgere mich nur kurz. Ich weiß, dass der Aufstieg mit Höhenangst meistens leichter ist als der Abstieg. Einfacher wird’s nicht. Also lieber sitzenbleiben. Der Ausblick ist auch knapp unter dem Gipfel fantastisch.
Vor uns, im Meer, ragen die Sugar Loafs, eine Hand voll bewaldeter Felsen, wie riesige, versteinerte Zipfelmützen aus dem Wasser. Kapitän James Cook gab den Inseln – Überreste eines erloschenen Vulkankraters – 1770 ihren Namen. Sie erinnerten ihn an Zucker, der damals in Haufen gelagert wurde. Die Māori, Neuseelands Ureinwohner, nannten die Felsen schlicht „Ngā Motu“, die Inseln.
Hinter uns erhebt sich der Taranaki/Mount Egmont, Neuseelands Fujiyama. Der 2518 Meter hohe Vulkankegel ist vielerorts in New Plymouths zu sehen, wenn das Wetter schön ist. Er klemmt am Horizont hinter dem Küchenfenster von Jaqui und Nick, bei denen wir vorübergehend wohnen. Er erscheint zum Greifen nah am Strand des Surferdorfs Ōakura, wo wir an einem Sonntagabend die beste Holzofenpizza seit Langem essen. Er wird eingerahmt von den Streben der zehn Meter hohen Te-Rewa-Rewa-Brücke, die sich wie das Gerippe eines Wals über den Waiwhakaiho-Fluss wölbt.
Die Brücke ist Teil eines 12,7 Kilometer langen Küstenwegs, der vom Paritutu Rock in den Nachbarort Bell Block führt. Eine beliebte Strecke bei Spaziergängern, Radfahrern und Joggern. Für Fußgänger zieht sich der Weg, ich drehe nach der Brücke um und gehe zurück ins Zentrum.
Dort reihen sich Einheimische wie Touristen auf den Gehwegen, röhren rote Chevrolet Corvettes und eierschalenfarbene Ford Mustangs durch die Straßen. Als ob wir es geplant hätten, fällt unser Aufenthalt in New Plymouth mit dem AmeriCARna-Festival zusammen. Hunderte amerikanische Oldtimer ziehen durch die Innenstadt. Sie fahren die zentrale Mangorei Road entlang, spiegeln sich in den Wänden der Govett-Brewster-Kunstgalerie, die auf den ersten Blick als überdimensionales, verchromtes Akkordeon durchgehen könnte.
2007 fand die AmeriCARna erstmals statt, ins Leben gerufen von einem lokalen Geschäftsmann. 13 Jahre später ist sie zum Event geworden, mit Fressständen und einer Kletterwand auf der Wiese vor dem Puke-Ariki-Museum, das sich der Geschichte der Region Taranaki widmet.
Ungefähr 74.000 Menschen leben in New Plymouth. Die Stadt ist die größte in der Gegend. Eine ehemalige Walfänger-Siedlung, die vor der Ankunft der Europäer von Māori-Stämmen bewohnt wurde. Ende des 19. Jahrhunderts enteigneten die Neuankömmlinge die Ureinwohner fast völlig, was zu den sogenannten Taranaki-Kriegen führte. Heute leben die Bewohner New Plymouths vor allem von der Milchwirtschaft, dem Tourismus sowie dem Öl- und Gasvorkommen vor ihrer Küste.
Auch Nick, Jacquis Mann, arbeitet in der Gasindustrie, sagt sie mir bei einem Spaziergang. Wir gehen mit den beiden Hunden Max und Junior am Strand Gassi, Jacqui läuft barfuß über den Sand. Unsere Gastgeberin erzählt von ihrer Jugend in Manchester, ihren Reisen nach Frankreich, Italien, Spanien, Marokko und in die Türkei. Sie zeigt mir schwarze Krebse, die unter einem Felsen leben, und wirft Äste, um die sich Max und Junior streiten. Der Wind zerrt an meinen Haaren, bringt Salz- und Algenduft. Auf dem Rückweg fährt Jacqui einen Schlenker über Ōakura. „Ein Haus hier, das wäre mein Traum“, sagt sie. „Aber Nick findet, es ist zu weit weg von der Stadt.“
Tatsächlich ist es richtig schön in dem kleinen Surferdorf. Es überrascht mich, dass sowohl Ōakura als auch New Plymouth noch nicht überlaufen sind. Allein die schwarzen Sandstrände und die Nähe zum Taranaki/Mount Egmont wären gute Argumente für einen Besuch. Doch die Region Taranaki liegt nicht auf der regulären Touristen-Route. Besucher*innen aus Übersee reisen oft nur drei bis vier Wochen durch Neuseeland, für abgelegenere Orte haben sie keine Zeit. Schade eigentlich. Aber gut für uns. Als ich mich an den Felsen des Paritutu Rock hinunterhangele, bin ich froh, dass New Plymouth noch relativ unentdeckt ist. Dass von unten niemand entgegenkommt.