Obwohl sechs Jahre vergangen sind, sieht Lauren kein bisschen anders aus. Sie hat lange, blonde Haare, blaue Augen, eine große, schwarz umrahmte Brille. Auch sonst hat sie sich kaum verändert. Sie ist immer noch direkt, down-to-earth, liebenswürdig. Wir haben uns in Israel kennengelernt, im Kibbuz Hokuk nahe dem See Genezareth. Als Wwooferinnen, beim Gemüseernten, -anpflanzen und Unkrautjäten, haben wir uns sprichwörtlich über Gott und die Welt unterhalten.
In einem Haus nur wenige hundert Meter entfernt von unserem Feld traf sie damals Gilad. Seit ein paar Jahren leben die zwei zusammen in Melbourne. Lauren, 28, organisiert beruflich Reisen nach Russland und in die Mongolei. Gilad, 37, rotoranger Bart, Sommersprossen, filigrane Fliegerbrille, wird in der kommenden Woche ein Studium beginnen, bei dem es um nachhaltiges Bauen geht.
Die beiden haben uns zu sich nach Hause eingeladen. Aus dem Stadtteil Ashburton, wo wir zwei Wochen lang auf die Katze Mae und den Hund Kenji (Alex‘ „Prinzessin“) aufgepasst haben, fahren wir zu ihnen. Es ist nicht einfach, einen Parkplatz zu finden. Die Straße neben dem Gebäude, in dem sie wohnen, ist vielbefahren. Innen hört man aber nichts vom Verkehr, die Wohnung ist die, die am weitesten entfernt ist von der Straße. Die Wohnzimmerfenster öffnen sich zum Garten, in dem Kater Oliver gern herumläuft und sich sonnt.
Jetzt sitzt er auf dem Sofa neben Lauren, schnurrt und lässt sich streicheln. Wir haben Pizza bestellt, reden, spielen Karten: Taki, die israelische UNO-Variante, die wir in China von unseren Freunden Miri und Yuval beigebracht bekommen haben. Um kurz vor Mitternacht legen wir uns schlafen. Alex und ich übernachten im Gästezimmer auf der Luftmatratze.
Am nächsten Morgen serviert Gilad uns Kaffee und Tee, Pitabrote, libanesischen Joghurt, Oliven und Ziegenkäse. Er selbst isst den Rest Pizza. „Ich bin so dankbar für mein Leben“, sagt er. „Für meine Freundin, meine Katze, meine Wohnung.“ Ob sie für immer in Australien bleiben möchten, können er und Lauren noch nicht sagen. Für den Moment aber passt alles, passt Melbourne.
Mit zwei Autos fahren wir nach dem Essen in den Naturpark Dandenongs. Die bewaldete Bergkette befindet sich rund 35 Kilometer östlich der Innenstadt. Gut 40 Minuten sind wir unterwegs, es ist Samstag und viel los auf den Straßen. Aus Versehen fahren wir ein Stück auf einer Mautstraße. Den Bußgeldbescheid wird ein paar Wochen später unsere Airbnb-Gastgeberin Taeko in Perth erhalten, auf deren Adresse wir unser Auto angemeldet haben.
Wir nehmen die Abzweigung vom Highway auf die Landstraße, die sich in Serpentinen die Berge hinaufschlängelt. Unter dem Schatten der Bäume ist es spürbar kälter als in Melbourne. Auf dem Parkplatz unterhalb des William-Ricketts-Schutzgebiets steigen wir aus dem Auto. Die Luft ist frisch, riecht feucht-erdig, waldig.
Es sind nur wenige Schritte bis zum Schutzgebiet, das eigentlich eher ein Freiluftmuseum ist. 92 Keramikstatuen verteilen sich zwischen Moos und Farnbäumen: Aborigines, vor allem Männer und kleine Kinder, in quasi-religiösen Posen. Die Frauen sind meist oben ohne, ein paar Figuren haben Flügel. Der Künstler, William „Bill“ Ricketts lebte von 1934 bis zu seinem Tod 1993 in den Dandenongs. Er starb mit 94 Jahren.
Seine Kunst ist nicht unumstritten. Die primitiven Statuen untermauern rassistische Ideologien, argumentieren Kritiker. Ricketts selbst sah sich als Verfechter der australischen Ureinwohner. Interessant sind die kitschigen Keramikbüsten allemal.
„Ich wollte schon lange mal hierher kommen“, sagt Lauren. „Irgendwie haben wir es bisher nicht geschafft.“ In den Dandenongs waren sie und Gilad schon öfter wandern, durch den Wald zieht sich ein Netz von Wegen. Auf einem spazieren gehen wir wenig später zum Olinda-Wasserfall, danach zu einer Lichtung, wo wir auf einer Holzbank sitzend reden, bevor wir uns auf den Rückweg machen.
Um 15 Uhr verabschieden wir uns, Alex und ich haben noch eine gute Strecke bis zum nächsten Campingplatz vor uns. Wir umarmen Lauren und Gilad ein letztes Mal, knipsen ein Gruppen-Selfie. „Passt auf euch auf!“, „Bis hoffentlich ganz bald!“, rufen wir den beiden hinterher, als sie in ihrem weißen Auto den Berg hinauf, aus unserer Sicht fahren. Schön war’s!
Auf dem Weg nach Canberra erwarten uns drei Campingnächte. Australiens Hauptstadt liegt mehr als 750 Kilometer entfernt von Melbourne. Die erste Nacht verbringen wir am Rand des 4000-Einwohner-Orts Korrumbura, auf einem Campingplatz zwischen Weiden und Eukalyptusbäumen. Am Morgen darauf regnet es. Gleichmäßig prasselt es aufs Autodach. Wir lesen, bis die dicken Tropfen zu einem feinen Nieselregen werden. In der überdachten Küche frühstücken wir, bevor wir weiterfahren.
Auf dem Highway klart der Himmel auf. Als wir Diggity auf dem Parkplatz unterhalb des Mount Oberon im Wilsons-Promontory-Nationalpark abstellen, scheint die Sonne. Eine Stunde wandern wir zum Gipfel. Der Weg ist unspannend: Die etwa vier Meter breite Geröllstraße führt unter Eukalyptusbäumen in Kurven nach oben. Nur der allerletzte Abschnitt geht über Felsstufen. Der Ausblick vom Gipfel entschädigt für den eintönigen Aufstieg, wir schauen über Felskuppen auf dunkelgrün bewaldete Bergausläufer, kleine Inseln, weißschaumige Wellen, goldene Strandstreifen.
Nachmittags halten wir am Squeaky Beach, wo der Sand tatsächlich unter den Schuhen quietscht. Unser Platz für die Nacht ist eingeklemmt zwischen dem Highway und einer Kuhweide. Entgegen der Beschreibung der App, die wir zur Suche nach Campingplätzen nutzen, gibt es keine Toilette. Schwierig, aber gerade noch machbar für eine Nacht. Entlang der Fernstraße, in den Dörfern und Städten, sind viele öffentliche Toiletten.
Gegen 7 Uhr wache ich vom Dröhnen der vorbeirasenden Lastwagen auf. Wir frühstücken auf der Wiese an einem niedrigen Steintisch, spülen das Geschirr und fahren weiter. Unser Ziel ist die Insel Raymond, wo rund 600 Koalas leben. Die Beuteltiere wurden 1953 dort angesiedelt, nachdem sie im Bundesstaat Victoria in den 1920er-Jahren fast ausgestorben waren. 16 männliche und 26 weibliche Koalas wurden von Philipp Island nach Raymond Island übergesiedelt, seither wächst die Population kontinuierlich.
Mit der kostenlosen Fähre fahren wir über die Gippsland-Seen auf die Insel und folgen dem 1,2 Kilometer langen Koala-Rundweg zu einer Gruppe Eukalyptusbäume. Es dauert einen Moment, bis wir das erste Tier im Geäst ausmachen – sein graues Fell fügt sich gut ein in die Umgebung. Außer uns sind nur eine Schulklasse und ein paar einzelne Touristen da.
Raymond Island ist kleiner als erwartet. „Wie schön wäre es, hier eine Ferienwohnung zu haben!“, sagt Alex. Auf der gerade einmal sechs Kilometer langen und zwei Kilometer breiten Insel würden wir es leicht zwei Wochen aushalten. Wir würden uns täglich auf Koala-Suche machen, uns in ein Café am Fluss setzen, gedankenverloren auf die Spiegelung der Segelschiffe im Wasser starren, Kaffee trinken. Oder eine Limo.
Der letzte Campingplatz vor Canberra liegt im Wald, umgeben von dichten Nadel- und den obligatorischen Eukalyptusbäumen. Obwohl es nichts kostet, hier zu übernachten, sind die Sanitäranlagen frisch geputzt. Nur heißes Wasser gibt es keins. Auf einer Holzbank nahe dem Auto kochen wir frittierten Reis mit Gemüse und Süßsauersauce, eine Speise, die wir in Thailand oft gegessen haben.
Nachts ist es kalt. Der Campingplatz liegt auf rund 1000 Metern, deutlich höher als die zwei vorhergehenden. Am Morgen bedeckt Raureif unsere Fenster. Alex kratzt fleißig und mag gar nicht damit aufhören. Ich muss lachen, als ich sehe, dass er die verdunkelte Plastikfolie an der Innenseite der Scheiben versehentlich mitentfernt hat. Das Armaturenbrett glitzert.
Die Landschaft vor Canberra erinnert uns abwechselnd an die Schwäbische Alb und den Wilden Westen: Wir fahren durch dunkle Tannenwälder, vorbei an ockerfarbenen Weiden, die mit den Schafen zu verschmelzen scheinen.
Wir erreichen Australiens Hauptstadt am späten Nachmittag. Auf dem Weg zu unserer Unterkunft decken wir uns in einem Supermarkt mit Lebensmitteln ein. In Holt, einem Vorort rund 15 Kilometer außerhalb des Zentrums, haben wir uns ein Airbnb gemietet. Das Zimmer ist für Selbstversorger, hat ein kleines Badezimmer und eine winzige Küche.
Es ist eiskalt, als wir die Tür aufschließen. Alex programmiert als Erstes die Klimaanlage, ich schalte die Heizung im Badezimmer ein. Nachdem wir beide heiß geduscht haben, essen wir zu Abend. Wir haben frisches Brot gekauft, Frischkäse, Edamer, Camembert, Oliven, Lachs und Lauch, getrocknete Tomaten, Fetakäse. Alles schmeckt phantastisch. Zum Nachtisch löffeln wir Himbeer-Kokos-Joghurt aus Tassen, bis unsere Bäuche beinahe platzen. So sehr wir das Campen lieben, so schön ist es, zurück in der Zivilisation zu sein. Mit Wlan, heißem Wasser, einem Kühlschrank. Luxus.