Tarantula!

Die Spinne ist handtellergroß, weiß und sitzt über dem etwa fünf Zentimeter geöffneten Autofenster. Seit dem späten Nachmittag lässt es sich nicht mehr schließen. Die Elektronik hat versagt. Warum, wissen wir noch nicht. Einen kurzen Moment lang bleibe ich einfach stehen und starre auf die Spinne. Dann drehe ich mich um und renne zur Campingküche, wo Alex sitzt und liest. „Komm‘!“, rufe ich schon von Weitem. „Was ist denn?“, will er wissen. „Komm‘!“, rufe ich nochmal. „Spinne!“

Er steht auf und folgt mir. Ich habe Angst, dass sie schon weg ist, bis wir Diggity erreichen. Hineingekrochen in unser Auto. Mein Albtraum. Aber da sitzt sie. Regungslos. Ein weißes, langgliedriges Krabbelmonster. Wir halten Abstand. „Und jetzt?“, fragt Alex. Neben dem Auto finden wir einen Stock. Wie mit einem Baseballschläger will Alex die Spinne damit weit, weit weg befördern, während ich mit dem Handy leuchte. Das wenigstens ist der Plan.

„Bist du bereit?“, frage ich. „Yes!“ Alex holt aus, doch da rennt die Spinne über das Frontfenster auf die andere Seite. Wir gehen ihr nach und sehen gerade noch, wie sie ins Gras hüpft. Unter dem Baum, neben dem wir parken, funkeln dutzende türkisgrüne Punkte. Spinnenaugen? Wir wollen es gar nicht wissen. Unter dem Baum möchten wir auf jeden Fall nicht die Nacht verbringen. Obwohl es schon spät ist und einige der anderen Campingplatzgäste sicher schon schlafen, räumen wir die Rucksäcke noch einmal von den Vordersitzen in den Kofferraum und stellen Diggity ein Stück weiter nach hinten. Sicher ist sicher.

Australien. Das Land der Krokodile, Haie, giftigen Quallen, Spinnen und Schlangen. Ein paar Wochen vorher, in Malaysia, haben wir noch YouTube-Videos über die gefährlichsten Tiere Australiens angeschaut, zur Vorbereitung auf das Campen im Outback. Bisher hatten wir Glück. Von Perth bis Darwin sind wir nur ein paar Fröschen und Kakerlaken begegnet. Erst jetzt im Top End, dem Nordzipfel des Kontinents, der weißen Spinne.

Wir befinden uns im Kakadu-Nationalpark, 250 Kilometer östlich von Darwin. Nach einer Woche Wwoofen bei dem Blumenhändler Henning Olsen und seiner Familie haben wir die Hauptstadt des Northern Territory gegen Mittag verlassen. Kurz nachdem wir aus Darwin herausfahren, müssen wir allerdings noch einmal umdrehen: Wir haben unseren riesigen, pinken Doppelschlafsack auf der Farm vergessen. Hier im schwül-heißen Norden Australiens brauchen wir ihn zwar noch nicht, aber je weiter wir in den Süden fahren, desto kälter werden die Nächte.

In Perth habe es momentan elf Grad nachts, teilt uns Alex‘ Freund Stephan mit, den wir zuletzt in Thailand getroffen haben. „Die Nächte hier im Süden waren so kalt, darauf war ich gar nicht eingestellt“, schreibt er bei WhatsApp. Einen Tag später wird er zurück nach Deutschland reisen.

Drei Stunden brauchen wir von Darwin nach Ubirr, einer Felsformation im Nordosten des Kakadu-Nationalparks. Das Naturschutzgebiet ist etwa so groß wie Slowenien, es gehört zum UNESCO-Weltkultur- und Weltnaturerbe. Das Aborigine-Volk Bininj Mungguy lebte schon vor rund 20.000 Jahren in dieser Gegend. Ihre Felsmalereien zeugen bis heute davon. Dünne Figuren mit Speeren, Barramundi-Fische, Kängurus: Jagdszenen in zinnoberrot und weiß.

Der ein Kilometer lange Ubirr-Rundweg führt vorbei an Felsüberhängen, auf denen die bis zu 5000 Jahre alten Kunstwerke zu sehen sind. Am Nabad-Aussichtspunkt, ein Stück weiter oben, fühle ich mich wie in der Anfangsszene aus König der Löwen: Unter uns breitet sich die Savanne aus. Die Nachmittagssonne spiegelt sich in den wenigen Wasserlöchern, den Billabongs. Eine Weile bleiben Alex und ich auf den roten Steinen sitzen, genießen die Stille und bewundern die Aussicht. Als eine Reisegruppe die Felsen erreicht, gehen wir zurück in Richtung Parkplatz.

Der Ubirr-Rundweg ist für seine Felsmalereien bekannt.
Känguru in zinnoberrot und weiß: Die Zeichnungen in Ubirr sind bis zu 5000 Jahre alt.
Den Ureinwohnern zufolge sollen Mimi-Geister die Bilder hoch oben an den Felswänden gezeichnet haben.
Heimat hat für Aborigine-Völker eine besondere Bedeutung. Viele Gebiete wurden ihnen von den Europäern entrissen.
Savanne unterhalb des Nabad-Aussichtspunkts
Blick vom Aussichtspunkt Gunwarrdehwarrdeh am Nourlangie-Rundweg
Der Kakadu-Nationalpark umfasst ein Gebiet von rund 19.804 Quadratkilometern.
Der Nationalpark wurde nach der Sprache des ansässigen Aborigine-Volks, „Gaagudju“, benannt. Nicht nach den Vögeln.
Ein Großteil des Ubirr-Rundwegs ist auch für Rollstuhlfahrer zugänglich.

Auf dem Weg zum Campingplatz in Jabiru, dem einzigen größeren Ort im Kakadu-Nationalpark, lässt sich das Fenster auf der Fahrerseite nicht mehr schließen. Egal, wie schnell oder langsam wir am Schalter ziehen. Mit viel Geduld und Fingerspitzengefühl bekommt Alex das Fenster abends noch fast nach oben. Ganz geht es aber nicht mehr zu.

Unterwegs sehen wir verbrannte Flächen – kohlschwarze Erde, zum Teil brennen die Büsche zwischen den Bäumen noch. Die Luft riecht rauchig. Wir fahren zügig an den Feuern vorbei, von denen manche so groß sind, dass wir es kaum glauben können, dass die Feuerwehr sie absichtlich gelegt hat. Präventivbrände wie diese sollen größeren Buschfeuern den Zündstoff nehmen. Wir sind froh, als wir unseren Campingplatz erreichen.

Nach der Begegnung mit der Spinne plagen uns nachts die Moskitos. Sie interessieren sich hauptsächlich für mich, Alex lassen sie in Ruhe. Gegen sechs Uhr halte ich es nicht mehr aus. Im Licht der Handy-Taschenlampe töten wir ungefähr 25 Mozzies. Doch auch nach unserem „Killing Spree“ surren noch welche durch das Auto.

Nach dem Frühstück versucht Alex sich noch einmal am Autofenster. Aber da geht nichts mehr. Es bleibt uns nichts anderes übrig als Hilfe zu holen. Zum Glück haben wir neben der Versicherung für das Auto auch eine Mitgliedschaft beim Pannenservice abgeschlossen.

Obwohl es Sonntag ist, müssen wir nicht lange warten, bis der Mechaniker kommt. Die Werkstatt, in der David arbeitet, liegt nur zwei Straßen weiter. Wir folgen ihm in Diggity dorthin, schauen zu, wie er die Türverkleidung auf der Fahrerseite entfernt und eine Batterie an den Schaltkreis anschließt. Mit der Energie von außen lässt sich das Fenster schließen. Öffnen können wir es danach aber nicht mehr. Der elektronische Schalter sei kaputt, ihn müssen wir irgendwann ersetzen lassen, sagt David, „das ist aber nicht teuer.“ Obwohl der Autobauer Holden die Produktion im Oktober 2017 eingestellt hat, seien Ersatzteile für die Modelle in Australien nach wie vor verbreitet.

Um unser Fenster zu schließen, entfernt David die Türverkleidung auf der Fahrerseite.

Wir bedanken uns bei David und fahren weiter. 35 Kilometer südlich von Jabiru halten wir am Nourlangie-Rundweg. Auch dort haben die Ureinwohner Australiens bereits vor Tausenden von Jahren ihren Alltag und Erschaffungsmythen auf Felswänden künstlerisch festgehalten.

An diesem Abend übernachten wir auf dem Campingplatz am Gunlom-Wasserfall. Noch einmal 130 Kilometer fahren wir auf dem Kakadu-Highway in den Süden, plus weitere 37 Kilometer auf einer Schotterstraße. Die Armaturen rattern, während wir mit gerade einmal 40 bis 60 Stundenkilometern über die rote Erde scheppern. Die Klimaanlage surrt. Ohne sie wäre es zu heiß im Auto, mit nur einem Fenster zur Belüftung. Vom Dröhnen haben wir beide Kopfweh.

Doch die Anstrengung lohnt sich. Nach einer erstaunlich ruhigen Nacht folgen wir am nächsten Morgen einem steilen Wanderweg zu dem Plateau, von dem sich der 85 Meter hohe Gunlom-Wasserfall ergießt. Dort hat sich über die Jahrtausende ein natürlicher Infinity-Pool gebildet: Eine der wenigen Badestellen im Kakadu-Nationalpark, in der keine Krokodile schwimmen.

Rund 10.000 der bis zu sechs Meter langen Reptilien sollen sich in dem 200 Kilometer langen und bis zu 100 Kilometer breiten Gebiet befinden. Parkaufseher kontrollieren die Seen zwar regelmäßig. Wer hineinsteigt, tut das dennoch auf eigene Gefahr. Immer wieder passieren tödliche Unfälle.

Im Becken oberhalb des Gunlom-Wasserfalls baden an diesem Vormittag schon einige Nationalparkbesucher. Das Wasser ist angenehm kühl und klar. Wir können bis auf den Grund der roten Felsen sehen. Auf den Rand des Infinity-Pools gelehnt reicht der Blick über die Kronen tausender Eukalyptusbäume bis zu einer Bergkette am Horizont. Wir setzen uns auf die warmen Felsen, lassen die Füße ins Wasser hängen und genießen unsere letzten Stunden im Kakadu-Nationalpark. Zumindest vorübergehend weit weg von Krokodilen, Haien, Quallen, Spinnen und Schlangen.

Der Gunlom-Wasserfall ist 85 Meter hoch.
Warnung: Im Becken unterhalb des Wasserfalls können Salzwasserkrokodile schwimmen.
Vom Campingplatz sieht man den oberen Teil des Wasserfalls.
Der Pool oberhalb des Gunlom-Wasserfalls ist eine der wenigen krokodilfreien Badestellen im Kakadu-Nationalpark.
Der Ausblick vom Rand des natürlichen Infinity-Pools: zauberschön.

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