Der Bergkegel spiegelt sich im Wasser, genau wie auf den Instagram-Bildern. Wir haben Glück: Eine halbe Stunde später umhüllen Wolken den Gipfel. Der Teich am Wanderweg reflektiert nur noch grauen Himmel. Wir sitzen im Warmen, in der Pouakai-Hütte, und essen. Couscous-Salat, Nudelsalat, Rote-Bete-Aufstrich und Fladenbrot – was die Verpflegung angeht, könnten wir statt zwei problemlos auch fünf Tage unterwegs sein.
Alex und ich wandern auf dem Pouakai-Weg um den Taranaki/Mount Egmont. Mit seiner konischen Form sieht der 2518 Meter hohe Vulkan im Westen der neuseeländischen Nordinsel dem japanischen Fuji zum Verwechseln ähnlich. Zumindest aus der Ferne. In dem Tom-Cruise-Film The Last Samurai diente er 2003 als Hintergrundkulisse.
Zum ersten Mal sehen wir den gigantischen Spitzkegel aus dem Auto. Von Whanganui fahren wir nach New Plymouth. 190 Kilometer, der größte Teil führt durch flaches, grünes Weideland, vorbei an schwarz-weiß-gescheckten Kälbern. Die zweite Fahrthälfte verläuft auf dem Surf Highway 45. Die Straße liegt im Inland, die Surfstrände sind kilometerweit entfernt. Irgendwie scheint weder das „Surf“ noch der „Highway“ in der Bezeichnung „Surf Highway 45“ richtig zuzutreffen.
Wir passieren eine Reihe winziger Städte im Nirgendwo, deren Maōri-Namen aus der Zeit vor der Ankunft der Europäer in Neuseeland stammen. Manaia. Otakeho. Pihama. In Ōpunake essen wir zu Mittag. Alex entscheidet sich für Fish’n’Chips, ich bestelle ein Stück Apfelkuchen. Die Häuser der Hauptstraße erinnern mich an alte Italo-Western. Die hervorstehenden Straßenüberdachungen, die an den Wänden befestigt sind, dienen als breite, bunte Werbeflächen. „Opunake Butchery“ steht da, „Farm Kill Services“ und zwei Telefonnummern, „Coastal Curiosity’s“ ein Stück weiter. Trotz der vielen Farben wirkt Ōpunake trist. „Städte können sie nicht, die Neuseeländer“, sage ich zu Alex.
Landflucht ist ein Wort, das einem hier sofort in den Sinn kommt. Es sind kaum Menschen auf den Straßen und die, denen wir über den Weg laufen, sind bestimmt schon über 50. Aber was könnte ein Ort wie Ōpunake jungen Menschen auch bieten? Die Vorstellung einer Zukunft als Milchbauer oder Kellnerin spricht kaum noch Jugendliche an. Da können die Surfstrände noch so gute Wellen haben. Immerhin gibt es ein Kino. Und Neuseelands Fujiyama, wenn auch nur als Hintergrundmotiv.
Nachmittags erreichen wir New Plymouth. Fast zwei Wochen werden wir im Haus von Jacqui und ihrer Familie wohnen. Das weiß gestrichene Einfamilienhaus im Süden der Stadt hat einen Garten, in dem zwei Hühner leben, und dünne Wände. Hinter dem Küchenfenster ragt bei schönem Wetter die Silhouette des Taranaki/Mount Egmont auf.
Jacqui fährt zeitgleich mit uns in die Einfahrt. Wir steigen aus. „Hi, wir sind Melanie und Alex!“ „Schön euch kennenzulernen!“, sagt Jacqui mit näselnder Stimme und schüttelt uns die Hände. Sie ist klein, rundlich, hat kurzes, lila-pink gefärbtes Haar und blaue Augen. „Macht es euch etwas aus, zu warten, während ich die Hunde wegsperre? Sie sind immer ein bisschen aufgeregt, wenn jemand Neues kommt.“ Wir bleiben stehen. Jacqui öffnet zuerst das Tor zur eingezäunten Terrasse, dann die Haustür. Zwei große Hunde stürmen heraus, ein hellbrauner Jagdhund und ein blonder Labrador. „Junior! Max!“, ruft Jacqui. Nur widerwillig trotten sie ins Haus. Innen sind sie überraschend zahm.
Während Jacqui uns durch die Zimmer führt, erzählt sie von sich und ihrer Familie. Die Mitte-50-Jährige betreut das Austauschprogramm einer Schule, ihr Mann Nick arbeitet in der Gas-Industrie. Tochter Kristen, 25, lebt im australischen Perth. Sohn Sam, 26, wohnt momentan noch in seinem Jugendzimmer, soll aber mit seiner Freundin Kate in die Einliegerwohnung im Erdgeschoss einziehen, sobald sie renoviert ist. In drei Monaten werden die beiden Eltern.
Wir merken schnell, dass es schwierig ist, Jacquis Mitteilungsbedürfnis zu entkommen. In den folgenden Tagen berichtet sie Alex und mir alles über den Hacker-Anschlag auf die Versicherung, bei der sie seit Kurzem Mitglied ist. Sie informiert uns darüber, woher das Fleisch stammt, dass sie Max verfüttert. Sie erzählt uns, dass sie und Nick von Juli oder August 2021 an ein Jahr lang im Wohnwagen durch Australien reisen möchten und schildert uns ausführlich die geplante Reiseroute.
Alex entzieht sich Jacquis Redefluss nach fünf oder zehn Minuten, indem er höflich, aber bestimmt sagt, er müsse jetzt wieder arbeiten und sich in unser Zimmer zurückzieht. Ich bleibe zwischen den ungewohnt britisch ausgesprochenen Wörtern und Sätzen zurück. Jacqui und ihre Familie stammen aus Großbritannien. Vor zwölf Jahren sind sie von Manchester nach Auckland umgezogen. Wegen der besseren Lebensbedingungen, die sie während eines Urlaubs zu schätzen lernten.
„In England denken alle nur ans Geld“, sagt Jacqui. „Hier in Neuseeland ist Punkt 17 Uhr einfach Feierabend.“ Die Familie stehe mehr im Mittelpunkt und die Freizeit. Trotzdem habe es gedauert, Nick vom Auswandern zu überzeugen. „Und meine Tochter hat mich gehasst, als sie von unseren Plänen erfahren hat.“ Das habe sich nach dem Umzug von Auckland nach New Plymouth aber bald wieder gelegt, sagt Jacqui: „Sie und Sam haben sich schnell wohlgefühlt in Neuseeland.“ Sie verliert sich in einen Monolog über das komplizierte Einwanderungsprozedere, ich mich in meinen Gedanken.
Nach unserer Überfahrt in die USA planen Alex und ich zusammen mit meiner Schwester Petra einen dreiwöchigen Roadtrip von Los Angeles nach San Francisco. Dafür müssen wir noch einiges vorbereiten. Genauso für unsere Wanderung auf dem Pouakai-Rundweg in zwei Tagen. In der Innenstadt New Plymouths kaufen wir Müsliriegel, eine extrakleine Flasche Kontaktlinsenmittel und einen leichten Wanderrucksack, den man zu einem birnengroßen Bündel falten kann. Perfekt für die Salate.
An einem Samstagmorgen brechen wir auf. 30 Minuten dauert die Fahrt zum Besucherzentrum unterhalb des Taranaki/Mount Egmont. Dort kaufen wir Übernachtungspässe für die Hütte und informieren uns über die Wetterverhältnisse. Vor einem Vulkanausbruch fürchten wir uns nicht, die letzte große Eruption ist 365 Jahre her. Das wechselhafte Wetter dagegen hat schon den einen oder die andere Bergsteigerin das Leben gekostet. Der Taranaki/Mount Egmont gilt als tödlichster Berg in Neuseeland. Seit Beginn der Aufzeichnungen 1890 sind mehr als 80 Menschen an seinen Flanken verunglückt – was auch daran liegt, dass er vergleichsweise einfach zu besteigen ist, unerfahrene Wanderer sich immer wieder überschätzen.
Wir versuchen uns gar nicht erst am Gipfel. Wir parken Diggitwo auf einem Stellplatz neben der Straße zum Besucherzentrum, die sich durch den dichten Regenwald nach oben schlängelt. Mit den Rucksäcken auf dem Rücken folgen wir dem Pfad zum Pouakai-Rundweg. Es riecht nach feuchter Erde, die Blätter auf dem Boden rascheln beim Darübergehen.
Der erste Abschnitt unserer Wanderung führt durch einen Wald aus Farn und moosbewachsenen Laubbäumen. Der Weg ist teils matschig, teils von Wurzeln überzogen. Einmal müssen wir eine Hängebrücke überqueren. Das Stahlgerüst schwankt, der Fluss unter uns rauscht über runde Felsen, die wie die Streusel eines Kirschkuchens dicht nebeneinanderliegen. Zwei Stunden brauchen wir bis zur Kaikauai-Schutzhütte. Dort vespern wir.
Nach zwei weiteren Stunden und vielen Treppenstufen erreichen wir den 1220 Meter hohen Henry Peak, Alex‘ ersten selbst erklommenen Gipfel. Der Taranaki/Mount Egmont ragt links von uns empor. Die erkalteten Lavaströme lassen seine Spitze wie ein überdimensionales, graues Softeis aussehen. Um 15.30 Uhr, sechs Stunden nachdem wir Diggitwo abgestellt haben, kommen wir an der Hütte an: ein einfacher Aufenthaltsraum mit ein paar Holzbänken und Tischen, dazu zwei Schlafräume. Die Toiletten sind draußen. Wir haben Glück, dass wir so früh dran sind. Im Lauf des Nachmittags füllt sich die Hütte. Die Schlafplätze, 16 turnmattenähnliche Matratzen auf harten Holzpritschen, sind schnell vergeben. Die letzten, die ankommen, müssen mit dem Fußboden vorlieb nehmen.
Alex und ich essen zu Abend, spielen ein zerfleddertes Pop-Musik-Quiz und legen uns bald schlafen. Mit Ohrstöpseln. Die Nacht wird trotzdem unruhig. Gegen 5.30 Uhr stehen die ersten auf, um den Gipfel des Taranaki/Mount Egmont zu erklimmen.
In der Mythologie der Maōri ist Te Maunga o Taranaki ein Berggott, der einst im Zentrum der Nordinsel Neuseelands neben den Vulkanen Tongariro, Ruapehu und Ngauruhoe lebte. Taranaki und Tongariro verliebten sich in die schöne Pihanga. Ein Streit brach aus, bei dem Tongariro die Oberhand gewann. Der verwundete Taranaki flüchtete an die Westküste und grub dabei die Schluchten des Whanganui-Flusses. Wenn Regenwolken den Gipfel verhüllen, heißt es, soll Taranaki um seine verlorene Liebe weinen.
Das tut er an diesem Morgen. Vor dem Fenster der Hütte sind nur Wolken. Wo gestern noch die Spitze des Taranaki/Mount Egmont war, ist eine graue Nebelwand. Es regnet. Und es hilft nichts: Nach dem Frühstück ziehen wir die Regenjacken an. Wir müssen zurück zum Auto. Unsere Schuhe sind nass, wie die der anderen, wir haben sie draußen vor der Hütte stehen lassen.
Fast zwei Stunden wandern wir durch die Sümpfe zur Holly-Hütte. Kurz darauf treffen wir eine sehr ungünstige Entscheidung: Statt, wie bisher, dem offiziellen Wanderweg zu folgen, biegen wir auf den Kokowai Track ab. Auf der Navigations-App sieht es aus wie eine Abkürzung. Ist es aber nicht. Eher ein Abenteuerpfad für Extrembergsteiger. Wir müssen über Wurzeln klettern, uns an Baumstämmen herabhangeln. Dreieinhalb Stunden lang.
Als die Wolkendecke aufbricht, sehen wir, wo an den Ausläufern des Bergs das Nationalparkgebiet aufgehört. Der Wald endet abrupt, wird abgelöst von Farmland. „Ob der Wald sich sonst bis zum Meer erstrecken würde?“, frage ich mich. Die frühen Siedler haben großflächig gerodet.
Meine Waden zerren, die rechte Schulter schmerzt vom Rucksack. „Mir tut alles weh“, sagt Alex, „das linke Knie besonders.“ „Sollen wir doch noch zurück zur Holly-Hütte und dort übernachten?“, frage ich. „Haha! Vorher gehe ich den ganzen Weg noch zweimal!“ Mit zitternden Knien treten wir aus dem Wald. Es ist eine Erlösung. Alex umarmt Diggitwo zur Begrüßung.
Bevor wir nach New Plymouth zurückfahren, die kurvige Straße durch den Nationalparkwald hinunter, müssen wir uns beide kurz setzen. Durchatmen. Ankommen. Umstellen, von Schrittgeschwindigkeit auf Tempo 80.