Kein Glück für den Tiger

Kurz nach der Mittelstation der Bergbahn ziehe ich die Schuhe aus. Es ist viel zu heiß, ich brauche Luft an den Füßen. Parallel zur Bahnstrecke wandern Alex und ich den Penang-Hügel hinauf. Es sind über 30 Grad, die Luft ist schwül, alles klebt, die Rucksäcke, die T-Shirts, die Haare, die Arme.

Unter dem dichten Blätterwerk des Dschungels ist der Wanderweg zwar schattig, aber so steil, dass wir immer wieder stehen bleiben und tief durchatmen müssen. Den wenigen anderen, die mit uns nach oben wandern, ergeht es nicht besser. Die meisten aber fahren mit der klimatisierten Bergbahn.

Der 833 Meter hohe Penang-Hügel ist der beliebteste Aussichtspunkt in George Town, der Hauptstadt der Insel Penang sowie der gleichnamigen Provinz. Die 222.000-Einwohner-Stadt im Nordwesten Malaysias war einst ein wichtiger Handelshafen auf der Strecke zwischen Indien und China. Die Stadt wurde 1786 von Francis Light, einem Kapitän der Britischen Ostindien-Kompanie, gegründet und gehörte später zu den Straits Settlements, den britischen Kolonien an der Straße von Malakka. Heute ist George Town vor allem als kulinarische Hochburg Malaysias bekannt.

Und so gönnen wir uns auf dem Penang-Hügel auch erst einmal ein Mango-Ais-Kacang: Mango-Eis über geraspeltem Wassereis und Mango-Stücken, zwei Erdbeeren und blassroten Bubble-Tea-Kugeln in einer Metallschale. Sehr süß und sehr erfrischend.

Wir spazieren noch ein bisschen auf der Hügelgruppe herum, schauen uns die Moschee und den indischen Tempel ein Stück weiter oben an. Doch insgesamt ist uns der Ort mit seinen kitschigen Liebesschlössern, dem Eulen-Museum und dem Erdbeben-Simulator zu touristisch.

Da es schon langsam dunkel wird, beschließen wir, mit der Bergbahn hinabzufahren. Was wir nicht bedacht haben: Dass der Andrang wegen der Feiertage so groß sein würde. Es ist der zweite Tag des Chinesischen Neujahrsfest und die Schlange vor der Bahn ist lang. Sehr lang. Zwei Stunden warten wir. In dieser Zeit hätten wir auch zurücklaufen können, doch in der Dunkelheit ist uns das zu gefährlich. Als wir in die Bahn einsteigen, sehen wir George Town als funkelnden Lichterteppich.

 

Parallel zur Bergbahn führt ein Wanderweg auf den 833 Meter hohen Penang-Hügel.
Der Ausblick auf George Town ist tagsüber …
… wie nachts sehr schön.

Um kurz nach 22 Uhr kommen wir an der Talstation an. Wir machen uns gleich auf den Weg zum Kek-Lok-Si-Tempel, der anlässlich des Neujahrsfest mit tausenden Laternen, Lampions und Lichterketten geschmückt ist.

Die Anlage ist zum Glück noch geöffnet, als wir ankommen. Sie sieht aus, als sei die Weihnachtsdekoration einer amerikanischen Kleinstadt darüber verteilt worden. Überall blinkt und glitzert es – lila, rot, grün, gelb, orange und blau.

Staunend gehen Alex und ich von Tempel zu Tempel, sehen uns die lichterkettenbehangenen Pavillons und die von orangefarbenen Lampions beleuchteten Buddha-Statuen an. Der 128 Jahre alte Kek-Lok-Si-Tempel gilt als die größte buddhistische Tempelanlage in Malaysia.

 

Der Kek-Lok-Si-Tempel wird schon seit mehr als 30 Jahren zum Chinesischen Neujahrsfest beleuchtet.
Tausende Laternen, Lampions und Lichterketten schmücken den Tempel.
33 Tage hängt die Beleuchtung.
Überall blinkt und glitzert es.
Teile der Innenstadt sind ebenfalls beleuchtet.

Nach unserem Besuch nehmen wir ein Grab (die südostasiatische Version von Uber) nach Hause. Busse fahren zu dieser späten Uhrzeit fast keine mehr. Es ist 20 Minuten nach Mitternacht, als wir die Wohnungstür aufschließen.

Eine Woche verbringen wir in der WG von Jack und Markus am Rand von George Town. Jack, 41, kommt aus Thailand und führt ein Online-Business. Markus, 23, ist Norweger mit deutschen Eltern und Langzeitreisender. Er hat Journalismus in den USA studiert und arbeitet nun auch übers Internet. Wir verstehen uns sofort mit den beiden.

Am Wohnzimmertisch, mit Blick aufs Meer, sitzen wir fast jeden Tag zusammen und arbeiten. Die Aussicht aus dem 18. Stock auf den Indischen Ozean ist phantastisch.

Mit unseren beruflichen Projekten, Sightseeing und ein paar organisatorischen Pflichten vergeht die Woche schnell. Für unsere Australien-Visa und die Überfahrt auf dem Containerschiff von Malaysia an die Westküste Australiens brauchen wir jeweils ein ärztliches Attest. Beide erhalten wir nach einer eingehenden Untersuchung in einem Krankenhaus im Westen George Towns.

 

Kurzzeit-WG: Alex, Mella, Markus und Jack
Co-Working-Space mit Blick aufs Meer
Blick aus dem 18. Stock: Unter uns ist der Basketball-Platz …
… vor uns der Indische Ozean. Die 16 Kilometer lange Brücke verbindet die Insel Penang mit dem Festland.
Ein Wahnsinnsausblick zum Sonnenaufgang …
… und zum Sonnenuntergang.
Erinnerung an die Kochabende in der WG

Schon an unserem ersten Tag zeigt Jack uns den Gemüsemarkt in der Nähe und nimmt uns mit zum Hin-Bus-Depot, einem ehemaligen Busbahnhof, der zum hippen Zentrum für Künstler und Kreative umgebaut worden ist. An diesem Sonntagnachmittag findet ein Pop-up-Basar statt. Wir essen Falafel und Laksa (malaysische Fischsuppe), schauen Second-Hand-Kleider, selbstgemachte Ohrringe und Partner-Yoga-Übungen an. Malaysia? Wir könnten genauso gut in Berlin sein.

Am frühen Abend spazieren wir durch die Stadt zur Whiteaways-Arkade, einem zweistöckigen weißen Gebäude im Kolonialstil. Dort nehmen wir an einer Führung zum Thema Chinesisches Neujahr teil. Jack begleitet uns, geht aber früher als wir nach Hause. Das Chinesische Neujahrsfest wird auch in Thailand gefeiert, für ihn ist das nichts Neues.

Wir dagegen folgen dem Führer Clément Liang Chow Ming durch die Straßen der Altstadt. Der sympathische Historiker mit dem Topfhaarschnitt erklärt, dass während des Neujahrsfests viele Chinesen Tempel aufsuchen, um für ein gutes Jahr zu beten. Die Gläubigen zünden Räucherstäbchen an, verbrennen unechte Geldscheine, sogenanntes Höllengeld. „Auch die Götter brauchen Geld im Himmel“, sagt Ming und zwinkert.

 

Auf dem Weg in die Innenstadt von George Town
Könnte auch Berlin sein: Pop-Up-Basar im Hin-Bus-Depot.
Streetart auf dem Gelände des Hin-Bus-Depots…
… und im Zentrum.
Pink! Ein Hochzeitspaar in der Nähe der Whiteaways-Arkade
Die Kapitan-Keling-Moschee wurde 1801 von indischen Muslimen gegründet.
Hindu-Tempel: Neben Chinesen und Malaien leben auch viele Inder in George Town.
Wohnblock am Rand der Innenstadt
Die Clan-Jetties sind Dörfer auf Stelzen. Sie wurden im 19. Jahrhundert von chinesischen Einwanderern erbaut.
Spätabends in George Town

Wenige Tage später verbrennt auch Alex Höllengeld. Nicht weit von unserer Wohnung, auf einer Wiese, haben wir den Schein als Rest einer Opfergabe gefunden. Wir hoffen, dass er trotzdem Glück bringt. Im Jahr 1986 geboren, ist Alex ein Tiger. Und der gehört – wie das Schwein, der Affe und die Schlange – zu den chinesischen Tierkreiszeichen, die 2019, im Jahr des Erde-Schweins, Pech haben werden, wie wir von Clément Ming wissen.

„Wenn man eins dieser Tierkreiszeichen hat, sollte man dieses Jahr ruhig angehen lassen“, sagt er während der Führung. „Man sollte vorsichtig sein, keine großen Investitionen tätigen und keinen hohen Berg besteigen.“ Im nächsten Jahr komme das Glück zurück.

 

Clément Liang Chow Ming erklärt uns, was es mit diesem Steinlöwen und dem Chinesischen Neujahr auf sich hat.
Anlässlich der Feiertage sind die Tempel bis zum späten Abend geöffnet…
… und sehr gut besucht.

Wir bemerken noch nichts von Alex‘ Pechsträhne, nicht einmal beim Spieleabend mit Jack, Markus und ihren Freunden Jolin, Eva und César. Wir spielen Karten und feiern Tage später zusammen das Chinesische Neujahrsfest bei Leah und Peta, die mit ihrem kleinen Sohn in einem traditionellen Wohnhaus in der Altstadt leben.

Zwischen 20 und 30 Leute drängen sich um den Wohnzimmertisch des australischen Paars, um nach einem kurzen YouTube-Tutorial chinesische Dumplings zu füllen und zu formen: Expats aus Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Brasilien, Litauen, Belgien, Thailand und Großbritannien, dazu ein indischstämmiger Malaysier und eine Malaysierin. Es ist eine lustige Gruppe, die da zusammen Dumplings isst und Mojitos trinkt, um zehn Uhr abends zum Feuerwerk vors Haus geht und später die gesamte Wohnung aufräumt, bevor sich alle von Leah und Peta verabschieden.

Nur Jack, seine Freundin Jolin, Markus, der Programmierer Nurish und ich bleiben zurück. Peta, die an diesem Abend kaum gegessen, aber dafür viel getrunken hat, möchte unbedingt in eine von George Towns legendäre Hidden Bars. „Kommt schon, ich war eeewig nicht mehr weg!“, sagt sie. Wir kommen wir mit. Und landen am Ende doch in einer normalen Bar. Zum Chinesischen Neujahr sind in den Hidden Bars des Viertels alle Tische voll.

Obwohl der Abend lang war, fahren Alex und ich am nächsten Morgen in den Penang-Nationalpark. Der kleinste Nationalpark Malaysias liegt im Nordosten der Insel auf einer Fläche von 23 Quadratkilometern. Wir entscheiden uns für die Wanderung zum Turtle Beach und folgen einem Erdpfad durch den Dschungel. Um uns herum zirpen die Grillen.

Eineinhalb Stunden steigen wir über Baumwurzeln und Treppen, bis sich der Urwald lichtet. Der Strand ist weiß, feinsandig, wunderbar – und das Baden untersagt. Puh. Hätten wir das gewusst, wären wir zum Monkey Beach im Osten des Nationalparks gewandert. Wir machen trotzdem eine Pause, lesen eine Weile im Schatten auf einer Holzbank. Der Rückweg ist genauso anstrengend wie der Hinweg. Ich ziehe die Schuhe aus und gehe barfuß weiter. Es sind über 30 Grad, die Luft ist schwül, alles klebt, die Rucksäcke, die T-Shirts, die Haare, die Arme.

 

Der Penang-Nationalpark liegt im Nordosten der Insel Penang.
Auf der Wanderung zum Turtle Beach sammeln Alex und ich herumliegendes Plastik ein.

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