Unser Spaziergang an der Promenade von Victoria Point entlang dauert. Alle paar Meter begegnen wir anderen Herrchen und Frauchen, die ihre Hundeleine instinktiv ein bisschen an sich ziehen, sobald sie Anzac und uns sehen, obwohl Anzac winzig ist. Ein graubraunes Fellbündel mit braunen Knopfaugen und wippendem Ohrhaar, dessen Kopf gerade einmal bis zur Mitte meiner Wade reicht.
Die Begrüßungszeremonie ist jedes Mal die gleiche. Die Hunde beschnuppern sich, das Herrchen oder Frauchen beugt sich ein Stück nach unten und mustert Anzac interessiert. „Is it a Silky Terrier?“ „Yes, he is!“, sagen Alex und ich. Bei den ersten Malen schwingt noch eine Prise Stolz in unseren Stimmen mit, als wäre Anzac unser Baby oder ein Bild, das wir zusammen gemalt haben. Nach dem ungefähr zehnten Treffen bestätigen wir nur noch beiläufig, „ja, genau, ja, Silky Terrier.“
Der Australian Silky Terrier ist eine Hunderasse, die aus der Kreuzung von Australian Terrier, Yorkshire Terrier, Dandie Dinmont Terrier und Skye Terrier hervorgegangen ist. Er ist für sein seidiges Fell bekannt und angeblich ist es gar nicht so einfach, an einen Welpen heranzukommen.
Für Anzac habe sie 2000 Australische Dollar (rund 1150 Euro) bezahlt, als sie ihn mit zehn Wochen vom Züchter abgeholt habe, erzählt mir Dawn, Anzacs richtiges Frauchen am Abend, bevor sie mit ihrem Mann in den Urlaub fährt. Das Paar wohnt in Redland Bay, rund 45 Kilometer südlich von Brisbane, der Hauptstadt des australischen Bundesstaats Queensland. Beide sind um die 60, Dawn ist Altenpflegerin, Colin arbeitet bei den Stadtwerken.
Vier Wochen werden sie auf einem Kreuzfahrtdampfer die Donau hinaufschippern. Alex und ich passen solange auf ihre Katzen Tonka und Matty und den inzwischen 18 Monate alten Anzac auf. Er ist ausgewachsen, aber nicht ganz aus dem Welpenalter heraus. Er hat unendlich viel Energie.
Das merke ich schon am ersten Abend. Während ich mich mit Dawn unterhalte, kommt Anzac immer wieder zum Sofa gerannt und möchte, dass ich seinen Ball ins Nachbarzimmer werfe. Blitzschnell ist er zurück. Der lilafarbene Gummiball klemmt zwischen seinen Zähnen. Ich greife ihn, ziehe sachte, aber Anzac lässt nicht locker. „Ja, das hat er noch nicht gelernt“, sagt Dawn, nimmt den Ball zwischen Daumen und Zeigefinger, zieht stark und ruckartig. „Plopp“, hat sie ihn in der Hand, „plopp“, landet er im Nebenzimmer. Sekunden später steht Anzac wieder vor uns.
Am Morgen darauf lassen sich Dawn und Colin von ihrem Nachbarn Ron zum Flughafen fahren. Wir sind mit den Tieren allein in einem 7-Zimmer-Haus mit einem Pool und zwei Badezimmern. Sogar der Kühlschrank ist voll, unsere Gastgeber haben extra für uns eingekauft. Wir Glückspilze!
Wir ziehen vom Gäste- ins Schlafzimmer, Dawn hat das Bett frisch für uns überzogen. Niedergeschlagen steht Anzac am Fenster des Zimmers, das zur Ausfahrt zeigt. Er wartet darauf, dass sein Rudel zu ihm zurückkehrt. Matty und Tonka ist es egal, wer sie füttert. Die Geschwister verbringen sowieso die meiste Zeit draußen. Neben dem Pool haben sie ein kleines Außengehege.
Um 16 Uhr gehen wir zum ersten Mal mit Anzac Gassi. Sobald Alex die Leine vom Haken nimmt, hüpft Anzac aufgeregt an ihm hoch und um ihn herum. „Ich glaube, er würde sich die Leine am liebsten selbst anziehen“, sagt Alex lachend. Draußen zieht Anzac ihn von einem interessant riechenden Spot zum nächsten: vom Briefkasten der Nachbarn zur Straßenlaterne, zu einem Grasfleck um die Ecke. Zwei Parks sind in unserem Viertel, wir gehen jeden Tag zu beiden.
Ungefähr eine Stunde täglich gehen wir mit Anzac spazieren, den Rest der Zeit verbringen wir mit unseren Jobs, Bloggen, Hausarbeit, Tierpflege und Serien, vor allem Modern Family und Black Mirror. Alle paar Tage gießen wir die Pflanzen im Haus und Garten, den Rasen mäht der Gärtner.
Anzac nimmt bei Weitem die meiste Zeit in Anspruch, er würde am liebsten von morgens bis abends spazieren gehen oder Ball spielen. Zum Glück für uns schläft er auch viel, sonst würden wir nie zur Ruhe kommen.
Manchmal werfen wir den Gummiball einfach vom Bett aus. Anzac rennt den Flur entlang. Acht-, neun-, zehnmal, bis wir nicht mehr können. In seiner gesamten Größe baut sich der winzige Hund dann vor uns auf. Den Ball zwischen den Pfoten schaut er uns vorwurfsvoll an. Er winselt, kläfft und grummelt tief enttäuscht, sobald ihm klar wird, dass es das erst mal war mit Ballspielen.
In der ersten Nacht allein mit den Tieren schlafen wir wenig. Anzac und Tonka sind es gewohnt, bei Dawn und Colin im Bett zu übernachten. Wir bringen es nicht übers Herz, die zwei aus dem Schlafzimmer zu verbannen. Tonka macht es sich zwischen meinen Knien gemütlich, Anzac schmiegt sich an Alex‘ Rücken. Wir beide können uns fast nicht mehr bewegen. Morgens springt auch noch Matty aufs Bett, wir sind komplett. Ich muss lachen. Über unsere große, glückliche Familie.
Vom zweiten Tag an ist Anzac völlig fixiert auf mich. Er läuft mir nach, wenn ich das Zimmer wechsle, jault pausenlos, wenn ich joggen gehe, sitzt vor der Tür und wartet, wenn ich mich dusche. Dass der Kater neben mir auf dem Sofa liegt, geht gar nicht. Umarme ich Alex, ist er eifersüchtig.
Sein Verhalten ist herzerweichend süß und anstrengend. Ich kann ihm nicht widerstehen, weil er so niedlich ist und fast alles mit sich machen lässt. Manchmal greife ich ihn an den Vorderpfoten und drehe mich mit ihm im Kreis. „I’m a little dog and I dance, dance, dance!“, singe ich. Anzac macht brav mit. Ihm ist alles recht, solange er in meiner Nähe sein darf.
Weil Anzac noch nicht so oft im Auto mitgefahren ist, lassen Alex und ich ihn meistens daheim, wenn wir einkaufen gehen oder Ausflüge unternehmen. Um ihn davon abzulenken, dass wir das Haus verlassen, lege ich fünf oder sechs Leckerlis hinter den Katzenkratzbaum. Hastig würgt er sie hinunter, Alex und ich rennen zur Tür. Kaum sind wir draußen, steht Anzac am Fenster und jault, so laut er kann. Er tut mir leid. „Es ist besser so für ihn“, versuche ich mir einzureden.
Zu den meisten Ausflügen könnte er wirklich nicht mitkommen. Auf die Insel North Stradbroke zum Beispiel fahren wir mit dem Wassertaxi. Dort spazieren wir über die Klippen, beobachten Wale, Delfine und Surfer aus der Vogelperspektive, klettern auf einen Baum und essen Eis.
In Gold Coast nehmen wir an einer Whale-Watching-Tour teil. Während Alex etwas leidet, weil das Boot auf den Wellen schwankt und schaukelt, geht für mich ein Traum in Erfüllung. Ich staune wie ein Kind darüber, wie nah uns die riesigen Säugetiere kommen. Bis zu 18 Meter lang können die Buckelwale werden. Mit 24 Metern ist unser Boot ist nur wenig länger. Die Wale schwimmen neben, vor und unter ihm hindurch und pusten feine Sprühwolken aus ihren Atemlöchern. Wenn sie sich drehen, schimmert ihr Bauch grünlich-weiß bis an die Wasseroberfläche.
Die Skyline von Gold Coast ragt aus einer dichten Nebelwand hervor. Sie sieht mystisch aus, als würden die Hochhausspitzen über dem Wasser schweben. Erst später erfahren wir, dass der Nebel der Rauch eines Buschfeuers ist, das in New South Wales und dem Süden Queenslands wütet.
Auch Brisbane schauen wir uns an. Am Tag, an dem wir Diggity verkaufen. Die neuen Besitzer, Ingo und Anna, sind aus Bayern und erst vor Kurzem in Australien angekommen. Sie wohnen vorübergehend bei Annas Freundin Tamara etwas nördlich von Brisbane in Deception Bay. Wir fahren mit gemischten Gefühlen dorthin. Dass der Ort „Betrugsbucht“ heißt, erscheint uns nicht gerade als gutes Vorzeichen.
Für das Verkaufsgespräch haben wir Diggity geschrubbt, ausgesaugt, ihn von einem Mechaniker durchchecken lassen und einen neuen Tankdeckel besorgt. Der Originaldeckel ist in Darwin, der Hauptstadt des Northern Territory, abgefallen. Wir parken Diggity hinter einem Kreisel in einer ruhigen Straße von Deception Bay, sein Lack schimmert dunkelblau in der Sonne. Sieht gut aus, finden wir. Tamara ist wenig begeistert. Im Spiel „Good-Cop-Bad-Cop“ wäre sie ganz sicher die böse Polizistin.
Während Ingo den Motor untersucht, sagt Anna: „Ich hätte mir eigentlich eher etwas Größeres gewünscht, einen Jeep oder einen Van oder so.“ In meinem Kopf ist der Deal schon gescheitert. „Musstet ihr denn viel an dem Auto machen?“, fragt Ingo. „Nein, nein“, sage ich. „Wir haben ab und zu das Öl kontrolliert und ein paar Mal das Kühlwasser nachgefüllt.“ Steilvorlage für Tamara: „Ich kenn‘ mich ja nicht mit Autos aus, aber ist das nicht voll scheiße, wenn man da so oft Wasser nachfüllen muss?!“ Alex kontert: „Das braucht Wasser, das ist wie eine Pflanze!“ Ich drehe mich grinsend zur Seite. Ich muss mich sehr zusammenreißen, damit ich nicht laut loslache.
Sowohl Ingo als auch Anna fahren eine Runde um den Block. Diggity zeigt sich von seiner besten Seite. Nach zwei Stunden, vielen Hin- und Herüberlegungen, zahllosen vernichtenden Tamara-Kommentaren, zähen Verhandlungen, einer fast gescheiterten Online-Überweisung und einem kaputten Handydisplay (Annas neues Smartphone ist aus der Tasche gefallen) setzen Ingo und Tamara Alex und mich vor dem Bahnhof ab. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Diggity bleibt in Deception Bay.
Wir sind erleichtert, aufgekratzt und unglaublich hungrig. Es ist schon nach 14 Uhr und wir haben seit dem Frühstück nichts gegessen. Wir haben zwar Sandwiches im Rucksack, aber im Bahnhof und im Zug ist das Essen verboten. Erst auf dem Platz gegenüber unserer Haltestelle in Brisbane können wir uns auf den Rasen setzen und essen.
Bevor wir mit dem Zug zurück nach Redland Bay fahren, schauen wir uns den Botanischen Garten und das Viertel South Brisbane an, wo neben der Uferpromenade des Brisbane River ein kostenloses Freibad mit Palmen und Mangroven ist. Obwohl die Temperaturen für australische Verhältnisse eher kühl sind, planschen einige Eltern mit ihren Kindern im Wasser. Endlich einmal eine sinnvolle Verwendung von Steuergeldern!
Zu Hause kann Anzac es nicht erwarten, dass wir die Tür aufschließen und zu ihm kommen. Er springt an mir hoch, leckt meine Hände, rennt zum Sofa, hüpft auf die Kante, um näher an mein Gesicht zu kommen. „Hast du uns vermisst?“, frage ich ihn und drücke seinen kleinen Körper an mich. Wie soll ich meinen süßen, nervtötenden Silky Terrier je wieder verlassen?
Obwohl sich die Tage gleichen, vergehen die vier Wochen in Redland Bay schneller als erwartet. An einem Freitag gegen 21.30 Uhr kommen Dawn und Colin aus dem Urlaub wieder. Das Haus ist geputzt, die Bettbezüge sind gewaschen, Anzac ist frisch shampooniert. Er ist überglücklich, sein Rudel zurückzuhaben. Er hüpft Dawn in die Arme, sie setzt ihn auf die Sofakante. Sie sieht zufrieden und entspannt aus.
Unsere letzte Nacht in Redland Bay verbringen Alex und ich im Gästezimmer. Morgens um halb sieben kratzt Anzac schon an unserer Tür. Zusammen mit Colin gehe ich ein letztes Mal mit ihm spazieren. Die „große Runde“ zu beiden Parks, die für uns die normale Runde ist. Colin merkt den Jetlag, er ist nicht sehr gesprächig. Anzac zieht mich von einem interessant riechenden Spot zum nächsten. Auf dem Rückweg kackt er sich ein. Es scheint ein Hunde-Housesitting-Ritual zu sein.
Im Haus packen Alex und ich unsere Sachen. Colin hat angeboten, uns zum Bahnhof in den Nachbarort zu fahren. Wir verabschieden uns von Tonka, Matty ist wie üblich draußen. Dawn hält Anzac auf dem Arm. Dieses Mal brauchen wir keine Leckerlis, um ihn davon abzulenken, dass wir das Haus verlassen. Wir tragen unsere Rucksäcke in die Garage, zum Auto. Ich drehe mich um, um meinen Silky Terrier ein letztes Mal anzusehen, aber Dawn hat die Garagentür schon geschlossen. Ich versuche mir einzuprägen, wie Anzac ausgesehen hat auf ihrem Arm. „Dance, dance, dance“, sage ich leise zu Alex.