Ken kennt sich aus mit Vögeln. „Das da ist ein Nordinsel-Sattelvogel“, sagt er und deutet ins Geäst, auf schwarze und rostrote Federn zwischen grünen Blättern. Neun Jahre war Ken als Fremdenführer in Zealandia beschäftigt. Mittlerweile führt der 63-Jährige nur noch Freunde und Übernachtungsgäste durch das Naturschutzgebiet, das 1995 als Karori Wildlife Sanctuary eingerichtet wurde.
Alex und ich folgen unserem Gastgeber auf den angelegten Pfaden. Mit einer Fläche von 225 Hektar ist Zealandia größer als Monaco (etwa 203 Hektar). Mehr als 40 Vogelarten leben hier, dazu Frösche, Reptilien und Wirbellose wie das Höhlen-Wētā, eine Langfühlerschrecke, die bis zu drei Meter hoch springen kann. Ein 8,6 Kilometer langer Zaun soll die Tiere vor Räubern wie Ratten, Katzen und Possums schützen.
In 500 Jahren, erklärt uns Ken, solle Zealandia wieder so aussehen wie vor der Ankunft der Menschen in Neuseeland. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts entdeckten Schiffsreisende aus Polynesien Aotearoa, das Land der langen weißen Wolke, wo zu jener Zeit keine Säugetier, dafür umso mehr Vögel lebten. Als die ersten Europäer rund 400 Jahre nach den Māori Neuseeland erreichten, sollen sie es vorgezogen haben, auf ihren Schiffen statt an Land zu übernachten. Das Piepen, Rufen, Schreien und Pfeifen der Vögel muss nachts unerträglich laut gewesen sein.
Ein Drittel der damaligen Vogelarten ist inzwischen ausgestorben. Einst hatten sie so gut wie keine Fressfeinde, konnten sich ungestört ausbreiten. Der flugunfähige Moa war über drei Meter groß und schwer wie eine Kuh: der größte Vogel, der je gelebt hat. Sein einziger Widersacher, der Haast-Adler, hatte eine Flügelspannweite von ungefähr drei Metern. Bis heute überlebt hat neben anderen der kleine nachtaktive Kiwi, der auf Münzen und Briefmarken abgebildet ist und dessen Namen die Bewohner*innen Neuseelands oft als Spitzname nutzen.
„Schaut mal, ein Kea!“, sagt Ken. An einer Futterstation im Wald sitzt ein olivgrüner Papagei und trinkt Sirup aus einer umgedrehten Plastikflasche. Nur wenige Meter weiter leben Tuataras in den Löchern eines Hügels. Die grünlichbraunen Brückenechsen mit den Stacheln auf dem Rücken bewegen sich sehr langsam und gelten Ken zufolge als lebende Fossilien: „Die Vorfahren der heute lebenden Tuataras stammen aus der Zeit der Dinosaurier. Sie lebten vor rund 220 Millionen Jahren.“
Sein Wissen über die Fauna seiner Heimat kann er beruflich nur noch selten anwenden. Ken treibt Spenden für die Wohltätigkeitsorganisation „Alzheimers New Zealand“ auf . „Ich arbeite aber nur noch in Teilzeit“, sagt er abends, am Tresen seiner Küche, „so habe ich genügend Zeit für meine anderen Projekte.“ Von denen hat er so einige: Er ist im Wanderverein, strickt und sammelt Kunst, unter anderem. Vor Kurzem ist er zum ersten Mal Großvater geworden. Außerdem vermietet er ein paar Zimmer seines Hauses über Airbnb – aus finanziellen Gründen und weil ihn verschiedene Kulturen interessieren. Er hatte bereits Gäste aus mehr als 50 Ländern.
Wir teilen uns das Badezimmer mit den Informatikstudenten Naoaki, Tomo und Bill aus Japan beziehungsweise Laos. Im Zimmer unter uns schläft Steve, ein neuseeländischer Monteur mit Bierbauch, dessen Schnarchen mich nachts wachhält, Alex zu Ohrstöpseln greifen lässt. Zehn Nächte verbringen wir in Karori, einem Stadtteil der Hauptstadt Wellington, der westlich des Zentrums liegt – inmitten von Hügeln, die ich auf Kens Empfehlung in langen Spaziergängen erkunde.
Am Tag nach unserer Ankunft steige ich auf den Wright’s Hill, auf dem im Zweiten Weltkrieg eine Festung erbaut wurde. Sie sollte Wellington vor Japans Armee schützen. Der Aussichtspunkt bietet einen schönen Blick auf den Hafen und die Hügel um Karori, die von einem Netz aus Häusern und Straßen überzogen sind. Die Hauswände leuchten weiß in der Abendsonne.
Auf den Skyline Walk, der wenige Straßen oberhalb von Kens Haus beginnt und den Makara-Sattel entlangführt, begleitet mich Alex. Wir sind schon fast wieder zuhause, als wir am Straßenrand einen Baby-Igel entdecken. Eine faustgroße Kugel voll Stacheln, die den Berg hinaufhuscht – viel zu nahe an den vorbeifahrenden Autos, finde ich. Wir überlegen, wie wir ihn von der Straße wegtragen können, ohne ihn zu berühren. Igel können Krankheiten übertragen und, ziemlich sicher, feste beißen, wenn sie Angst haben.
Ich schaue mich nach einem Gegenstand um, auf den wir das Tier setzen können. Mein Blick bleibt an Alex hängen. „Deine Mütze!“, sage ich. Vorsichtig schiebe ich Alex‘ rote Cap unter die kurzen Beine des Igels. Es funktioniert. Der Kleine stellt zwar die Stacheln auf, bleibt aber auf der Mütze sitzen. Ich trage ihn zum nächsten Garten, dort setze ihn auf dem Rasen ab. Sofort flitzt er unter einen Busch, in Sicherheit.
In Wellington, Anfang Februar, lesen wir zum ersten Mal vom Coronavirus. Noch ahnen wir nicht, welche Auswirkungen es auf unsere Reise haben wird. Obwohl wir viel arbeiten, bleibt uns genug Zeit für oscarnominierte Filme und Ausflüge. Wir spazieren durch den Botanischen Garten, schauen uns im Planetarium eine Vorführung über die Mondlandung und den Nachthimmel der südlichen Hemisphäre an, in der Nationalbibliothek eine Ausstellung über den Treaty of Waitangi – den Vertrag, den Stammesführer der Māori 1940 mit den Briten schlossen. Außerdem eine Ausstellung über das neuseeländische Frauenwahlrecht. 1893 war Neuseeland der erste unabhängige Staat, in dem Frauen wählen durften.
Das Filmstudio Weta auf der Halbinsel Miramar besuchen wir im Rahmen einer Tour. Rebecca, die unsere Führung leitet, ist erst Anfang 20, dafür begeistert von ihrem Arbeitgeber. „Leider muss ich Sie bitten, Ihre Handys nun einzustecken“, sagt die zierliche blonde Frau zu Beginn des Rundgangs. Manche Projekte der Spezialeffektunternehmen Weta Workshop und Weta Digital sollen noch nicht an die Öffentlichkeit dringen. Dass in „Wellywood“ bald an einer Fortsetzung des Blockbusters Avatar (James Cameron, 2009) gearbeitet werden wird, ist allerdings längst kein Geheimnis mehr.
In einer Gruppe Filmnerds und Touristen folgen wir Rebecca zu einer Reihe von Prototypen der Zwergen-Helme aus der Herr-der-Ringe-Trilogie. Selbst die Schwerter sind leichter als sie aussehen: Die Schauspieler*innen sollten während der Dreharbeiten nicht zu schwer tragen.
Rebecca zeigt uns die einzelnen Arbeitsschritte an den Requisiten, führt uns an Fenstern vorbei, hinter denen Weta-Mitarbeiter tüfteln, und zu Kostümen aus verschiedenen Roboter-Filmen. „Das von Mother finde ich am coolsten“, sagt sie und deutet auf einen überlebensgroßen Roboter vor einem I-Am-Mother-Filmplakat (Grant Sputore, 2019). Luke Hawker, der die bewegliche Hülle mitentworfen hatte, durfte Mother selbst spielen – er überzeugte beim Vorsprechen. „Es dauerte jedes Mal ungefähr eine Dreiviertelstunde bis Stunde, ihm das Kostüm anzuziehen“, weiß Rebecca.
Wir verabschieden uns vor dem Eingang der Weta Cave, des Souvenirshops, und fahren in die Stadt zurück. In einem kleinen Fast-Food-Laden hinter dem Embassy-Kino, in dem 2003 Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs uraufgeführt wurde, holen wir uns Fish’n’Chips. Mit der fettigen Schachtel in der Hand gehen wir zur Oriental Bay, dem einzige Stadtstrand Wellingtons. Wir setzen uns auf den schmalen Sandstreifen, ich halte mir die Haare aus dem Gesicht. Wie immer bläst der Wind in Windy Welly. Die Pommes sind wunderbar salzig, der Fisch ertränkt in Essig – so wie die Kiwis ihn gern essen. Und die Möwen. Die lauern schon zu unseren Füßen.