Auf den Spuren Aragorns

Am Waitangi-Tag verlassen wir Kens Wohnung auf den Hügeln Karoris und ziehen in das Haus von Jeni. Sie lebt mit ihrem Freund Tony und ihren Katzen in Petone, einem schmucklosen Stadtteil von Lower Hutt, rund 20 Kilometer nördlich der Hauptstadt Wellington am Wellington Harbour.

Der Waitangi Day ist seit 1974 ein gesetzlicher Feiertag in Neuseeland. Er soll an die Gründung der Nation erinnern. Am 6. Februar 1840 kamen Chiefs der nördlichen Māori-Klans und Vertreter der britischen Krone nahe dem Ort Waitangi, im Norden des Landes, zusammen. Dort unterzeichneten sie den Treaty of Waitangi / Te Tiriti o Waitangi – den Vertrag, der Neuseeland zu einer Kolonie Großbritanniens erklärte.

Doch die Te-Reo-Version des Vertrags wich stark von der englischen ab. Die Māori waren davon ausgegangen, Herrscher über ihr Land zu bleiben. Sie fühlten sich von den Europäern, den Pākehā, hintergangen. Es kam zu Auseinandersetzungen. Während der sogenannten Neuseelandkriege, von 1843 bis 1872, verloren die Klans große Teile ihres Lands an europäische Siedler. Erst 1975, mit der Einrichtung des Waitangi-Tribunals, einer Untersuchungskommission, haben die Māori die Möglichkeit bekommen, Land einzuklagen und für die Enteignungen Kompensation zu fordern.

Soweit die Theorie. In der Praxis fällt das feierliche Gedenken an die Geburtsstunde der Nation, wie das bei Feiertagen ja oft der Fall ist, meist weniger feierlichen Freizeitaktivitäten zum Opfer. Jeni und Tony nutzen ihren freien Tag und das folgende Wochenende für einen Ausflug. Am Lake Taupo wollen sie an einem Supermarathon teilnehmen. Alex und ich dürfen solange auf ihre beiden Katzen aufpassen.

Fünf Tage lang kümmern wir uns um Jenis Katzen Chester und Fraz.

Die Fahrt entlang der Küste dauert nicht lange. Jeni empfängt uns an der Tür ihres Hauses, das nur einen Katzensprung von der Bahnlinie entfernt liegt, die Lower Hutt mit Wellington verbindet. Praktisch für Jeni: Sie arbeitet als Fahrkartenkontrolleurin. Zu ihrem Arbeitsplatz braucht sie nicht einmal fünf Minuten. Unsere Gastgeberin hat kurzes graues Haar, trägt ein gestreiftes Kleid und eine Brille. Sie ist so energisch und gut gelaunt, dass Whoopi Goldberg neben ihr kraftlos wirken würde.

Mit strahlenden Augen führt sie uns durch ihr Heim, das einstöckig ist, wie die meisten Häuser in Neuseeland. Sie zeigt uns die drei Schlafzimmer, die zwei Badezimmer, das Wohnzimmer und die Küche mit dem angrenzenden Esszimmer. Unser Reich, vorübergehend.

Im Radio läuft Reggae, die Katzen sind im Garten. Beide sind grau getigert. Chester, hager und schon 18 Jahre alt, liegt im Schatten einer Bank. Ich nähere mich ihm langsam. Vorsichtig streiche ich über sein Fell. „Wow, ich hätte nicht gedacht, dass er das zulassen würde!“, sagt Jeni. „Normalerweise ist er Fremden gegenüber sehr schüchtern.“ Fraz ist das komplette Gegenteil. Sie ist zwar nur halb so alt wie Chester, aber so rund, dass er locker zweimal in sie hineinpassen würde. Wie ein Hund folgt sie uns ins Haus. Neben dem Esstisch legt sie sich schnurrend auf den Rücken. Jeni massiert ihren Bauch mit dem nacktem Fuß: „Eigentlich bin ich allergisch gegen Katzen.“

Fraz schmust für ihr Leben gern.
Kater Chester ist lieber für sich.

Wir hätten Glück gehabt, dass sie sich für uns als Housesitter entschieden habe, sagt Jeni. Obwohl sie die Anzeige erst eine Woche zuvor ins Internet stellte, meldeten sich viele Interessent*innen. Unsere fluglose Reise habe den Ausschlag gegeben, erklärt sie, aber auch „the German thing“. „Das erste Mal, dass unsere Herkunft uns einen Vorteil verschafft hat“, scherze ich. Jeni geht nicht darauf ein. „Ich kannte mal eine deutsche Austauschstudentin“, sagt sie. Und dass wir alles so lassen sollen, wie es ist, wenn wir uns wieder auf den Weg machen. Kein Putzen, kein Blumengießen. „Fühlt euch wie im Urlaub!“, sind ihre letzten Worte auf dem Weg nach draußen. Ihre Taschen liegen schon im Auto.

Das Urlaubsgefühl stellt sich fast automatisch ein. Jeni hat extra für uns eingekauft, im obersten Regal des Kühlschranks stapeln sich die Bier- und Ciderflaschen, in der Kühlschranktür stehen zwei Flaschen Weißwein. Ein „kleines Dankeschön“ auf Neuseeländisch. Die meisten Kiwis sind dem Alkohol nicht abgeneigt. Ich auch nicht. Nach einem kurzen Spaziergang zum Strand und einem schnellen Abendessen – Nudeln mit Tomaten-Pesto-Sauce – gönne ich mir ein Fläschchen Apfelwein. Dazu schauen wir Once Upon a Time in Hollywood (Quentin Tarantino, 2019), einen der Favoriten der bevorstehenden Oscar-Verleihung. Fraz mag den Filmabend. Scheinbar federleicht hüpft die getigerte Kugel auf die Sofalehne neben Alex‘ Kopf und lässt sich von ihm streicheln.

Petone liegt am Wellington Harbour.
Der Strand ist nur zehn Minuten entfernt von Jenis Heim.
Zur Golden Hour präsentiert sich die Promenade von ihrer schönsten Seite.

Am Morgen darauf weckt Fraz mich gegen halb neun. Ihr klägliches Miauen vor der Schlafzimmertür lässt mich leicht erraten, was das Problem ist: Hunger. Chester liegt noch auf dem Gästebett im Raum gegenüber, als ich Fraz barfuß in die Küche folge, und blinzelt mich verschlafen an. Kommt dann aber doch recht zügig zu den Futternäpfen, nachdem er gehört hat, dass ich in der Küche mit Besteck hantiere. Er wartet zögerlich, bis Fraz fertig ist und ich seinen Essbereich verlassen habe. So stark, dass er vor mir fressen würde, ist sein Vertrauen in mich noch nicht.

Die Katzen sind pflegeleicht. Morgens und abends bekommen sie ihr Futter, einmal täglich säubern wir die Katzenklos. Fraz liebt es zwar, gekrault zu werden, verbringt aber auch viel Zeit mit Chester im Garten. Unter der Veranda oder auf der Erde von ansonsten leeren Blumentöpfen liegen die beiden stundenlang. Schlafen, beobachten Vögel, betreiben Fellpflege – kein schlechtes Leben!

Alex und ich können uns ebenfalls nicht beschweren. Petone hat zwar kaum Sehenswürdigkeiten, dafür eine deutsche Bäckerei. Wir freuen uns so sehr über das deutsche Brot wie über kein anderes Lebensmittel in den vergangenen 21 Monaten (gut, der thailändische Mango Sticky Rice war eine Ausnahme). Vor unseren Ausflügen in die Gegend belegen wir fingerdicke Brotscheiben mit Käse, Gurken und Tomaten. Allein spaziere ich durch den Belmont-Regionalpark, der hauptsächlich aus Busch besteht, aus Farnbäumen und Nikau-Palmen.

Zusammen fahren wir mit dem Auto zu den Pūtangirua Pinnacles. Auf dem Weg halten wir im Kaitoke-Regionalpark, wo während der Dreharbeiten zu der Herr-der-Ringe-Trilogie (Peter Jackson, 2001-2003) das Filmset von Bruchtal stand. Von der Heimat der Elben ist allerdings nur noch ein Tor erhalten. Und selbst bei dem handelt es sich nicht um das Original, sondern um eine nur etwa halb so große Replika, wie wir auf einem Hinweisschild am Wegrand lesen.

Alex ist enttäuscht. Ich war 2013 schon einmal im Kaitoke-Regionalpark und wusste, dass uns dort keine runenverzierten, filigranen Holztürme erwarten würden. Peter Jackson verpflichtete sich, nach dem Abschluss der Dreharbeiten sämtliche Kulissen wieder abzubauen. Trotzdem finde ich es interessant, den Ort zu sehen, an dem vor knapp 20 Jahren Elijah Wood, Ian McKellen und Hugo Weaving als Hobbit, Zauberer und Elb standen.

Im Belmont-Regionalpark spaziert man unter Nikau-Palmen.
Größer als Gandalf, kleiner als Aragorn: Im Kaitoke-Park erinnert ein Holzpfahl an die Zeit als Herr-der-Ringe-Drehlocation.
Nach den Dreharbeiten wurden die Kulissen vollständig abgebaut. Das Tor ist eine Replika.

Auch die Pūtangirua Pinnacles nutzte Jackson als Drehort. In Die Rückkehr des Königs, dem dritten Teil der Herr-der-Ringe-Trilogie, suchen Aragorn, Legolas und Gimli (Viggo Mortensen, Orlando Bloom und John Rhys-Davies) zwischen den schiefergrauen Felssäulen nach der Armee der Toten.

Wir nähern uns der spektakulären Felsformation auf Umwegen. Zuerst wandern wir durch lichten Laubwald, anschließend über einen Bergrücken. Von den Pinnacles ist nichts zu sehen. Steil geht es den Hang nach oben. Es riecht nach Pinien. Mehrmals überholen uns andere Ausflügler*innen. Die, die noch langsamer sind als wir, folgen ohnehin dem nur sanft ansteigenden Flussbett im Tal zu den Pinnacles. Die Alternative zum steilen Waldweg.

Wir schwitzen beide, aber die Anstrengung lohnt sich: Vom Aussichtspunkt sehen wir die surrealen Felsspitzen aus der Ferne. Ein Feld aus Felsnadeln. Die grauen Sedimentpfeiler heben sich kaum ab vor dem grauen Himmel. Aus der Nähe sehen die spindeldürren Felsskulpturen noch fragiler aus. Die hellgrauen Steine wirken, als würden sie bloß von einer dünnen Schicht Mörtel zusammengehalten. Als würden sie, gleich einem Jenga-Holzturm, einstürzen, wenn man auch nur einen Stein entfernte.

Der Eingang zum Reich der Toten
Experten zufolge entstanden die ersten Pinnacles vor weniger als 125.000 Jahren.
Aus der Nähe wirken die Sedimentsäulen wie ein Jenga-Turm: sehr zerbrechlich
Vor sieben bis neun Millionen Jahren war die Aorangi-Bergkette, zu der die Pinnacles gehören, noch eine Insel.

Entstanden sind die Felsnadeln durch Erosion, abgetragen vom Regen und den Jahrhunderten. Wir knipsen Fotos, über das Flussbett gehen wir zurück zum Auto. Zuhause erwarten uns die Katzen. Es ist Zeit fürs Abendessen – und einen weiteren Filmabend. Zur Vorbereitung auf die Oscars schauen wir in den folgenden Tagen noch Life Overtakes Me (Kristine Samuelson / John Haptas, 2019), Die zwei Päpste (Fernando Mereilles, 2019) und A Beautiful Day in the Neighborhood (Marielle Heller, 2019) an.

Die Verleihung selbst streamen wir im rund 20 Kilometer entfernten Porirua. Auf dem Weg von Petone nach New Plymouth, im Westen der neuseeländischen Nordinsel, verbringen wir dort eine Nacht. Trotz ihrer Anweisung, nichts aufzuräumen, wischen wir in Jenis Wohnung Staub, putzen die Küche und das Bad und backen Muffins (Geschmacksrichtung Birne-Schoko-Karamell), bevor wir weiterziehen. Die Katzen müssen bis zu Jenis und Tonys Rückkehr am späten Nachmittag im Haus bleiben, die Schlüssel werfen wir in den Briefkasten. Auf zu neuen Abenteuern!

Gut gelaunt fahren wir um 11.15 Uhr los. Erst einmal zum Supermarkt, wo wir uns mit Popcorn und Chips eindecken wollen. Die Oscar-Verleihung beginnt um 14 Uhr. „Diggitwo fährt sich irgendwie anders“, sage ich zu Alex beim Abbiegen auf die Hauptstraße. „Wie denn?“, fragt er. „Er hat so einen leichten Linksdrall.“ Auf dem Supermarktparkplatz sehen wir, dass der rechte Vorderreifen komplett flach ist. „Scheiße“, sage ich. „Und jetzt?“ Wir gehen erst einmal einkaufen. Zum Glück haben wir bei vorherigen Einkäufen schon gesehen, dass gleich um die Ecke ein Reifenhändler ist. Bis dorthin wird es Diggitwo bestimmt noch schaffen – hoffen wir.

Er schafft es. Der KfZ-Mechaniker ist nett, aber seine Reifen teuer. 159 Neuseeland-Dollar (rund 90 Euro) sollen wir für einen neuen Reifen zahlen. Bis zur Reparatur dauere es außerdem drei Stunden. Alex‘ Blick verfinstert sich, in den vergangenen zehn Jahren hat er die Oscars nicht einmal verpasst. „Ich kann euch den Reifen aber auch kurz aufpumpen – am Ende der Straße ist noch eine Werkstatt, vielleicht haben die für euch Zeit“, sagt der Mechaniker. Alex‘ Gesichtsausdruck scheint sein Mitleid erregt zu haben. Gut für uns: Die Konkurrenz wenige hundert Meter weiter hat tatsächlich Zeit, den Reifen sofort zu ersetzen. Und ist dazu noch 30 Prozent günstiger.

Diggitwo fährt sich wunderbar mit dem neuen Reifen. „Wir hatten Glück, dass er nicht schon auf dem Weg zu den Pinnacles kaputtgegangen ist“, sage ich zu Alex. Die 100 Kilometer lange Strecke von Petone zu den Felsnadeln führt hauptsächlich durch Weideland. Dort wäre es um einiges einfacher, einem preisgekrönten Zuchtstier als einem Reifenhändler zu begegnen.

Um 12.30 Uhr erreichen wir unsere Unterkunft in Porirua. Während Alex den Stream für die Übertragung der Oscar-Verleihung einrichtet, fülle ich Popcorn und Chips in der Küche in zwei Schalen. Es kann losgehen!

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