Alex schaut irritiert. „Findest du nicht auch, dass es hier ein bisschen riecht wie in Rotorua?“, fragt er. An der Küste von Kaikoura vermischt sich der Duft von Salzwasser und Algen mit dem Geruch von Leberwurst. „Ich glaube, das sind die Seebären“, sage ich. Tatsächlich: Wir riechen die Tiere, bevor wir sie sehen. Eine Biegung weiter sind sie, vielleicht zwanzig, dreißig Robben, eine Kolonie erdbrauner Würste, die unglaublich süß sind und unglaublich streng riechen.
Sie liegen verteilt auf den Felsen, mit einer Flosse oder dem Schwanz im Wasser, und sonnen sich, während wir unter der brennenden Sonne dem Kaikoura-Küstenweg folgen. Es sind kaum Wolken am Himmel und ist heiß, was den Geruch nicht besser macht. Möwen schreien, die getrockneten Algen knistern beim Darübergehen, die Wellen schlagen rauschend ans Ufer.
Der Ökotourismus-Ort Kaikoura ist unser Zwischenstopp auf dem Weg von Rangiora nach Nelson. In der 53.000-Einwohner-Stadt im Norden der neuseeländischen Südinsel werden wir zwei Wochen auf Kater Freddy aufpassen, während sein Besitzer Shea (sprich: Shay) an einem Schweige- und Meditations-Retreat teilnehmen wird.
Die Nacht verbringen wir in einem Airbnb rund 80 Kilometer nördlich von Kaikoura. Das Zimmer gehört zu einem Bauernhof, der durch eine vier Kilometer lange Schotterstraße mit dem Highway verbunden ist. Wir parken neben dem Haus. Unsere Gastgeberin Leah begrüßt uns mit ihren Hunden, einem sehr alten und blinden und einer sehr jungen Labradorhündin. Hinter dem Haus sind Kuhweiden, nebenan wachsen die Weinreben.
Wir haben nichts mehr vor an diesem Abend und fühlen uns wie im Urlaub. Nach dem Duschen lege ich mich im weißen Bademantel aus dem Schrank aufs Bett und blättere eine Einrichtungs-Zeitschrift aus dem Zeitungsständer neben dem Fenster durch. Alex bastelt an seiner Kuny-und-Venta-Webseite. Dass es draußen stark windet, macht es innen umso gemütlicher.
Am Morgen darauf fahren wir nach dem Frühstück weiter. Wir essen Müsli auf der Veranda, mit Blick auf die Weiden und die Berge dahinter. Alex fährt Diggitwo und mich über die kurvige Straße, die durch die Berge vor Nelson führt. Das Benzin reicht gerade so in die Stadt.
Wir vertrödeln die Zeit in der Bibliothek, essen in einem Café zu Mittag. Shea erwartet uns erst um 17.30 Uhr. Dafür werden wir von ihm bekocht: mit Chili sin Carne, Salat und Süßkartoffeln an Zimt und Kreuzkümmel aus dem Ofen. Wir steuern Karottenkuchen aus dem Supermarkt zum Essen bei.
Wir essen am Couchtisch. Alex sitzt auf dem Sofa, Shea und ich auf Kissen auf dem Boden. Shea hat braune Augen, Glatze und einen braunen Vollbart. Er ist ungefähr so alt wie wir. Als Zeichen der Zustimmung gibt er oft ein langgezogenes „Mhmmm“ von sich, das ungewollt anzüglich klingt. Eine Angewohnheit, die Alex und ich nach seiner Abreise erst spaßhaft imitieren, uns so aber bald selbst aneignen.
Shea arbeitet als Programmierer und lebt mit seiner Freundin Chani zusammen, die das Schweige-Retreat ebenfalls besuchen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, zwei Wochen nichts zu sagen. „Anfangs ist das hart, ja“, sagt Shea. „Aber es ist gut – wenn man so lange allein mit seinen Gedanken ist, löst das innere Prozesse aus, mit denen man häufig nicht gerechnet hat.“
Meditieren und Yoga gehören für Shea zum Alltag, seit er wieder in Neuseeland ist. Aufgewachsen in Christchurch, verließ er die Stadt nach dem Erdbeben im Februar 2011 und zog nach Melbourne. Die Erinnerung an die Katastrophe nahm er mit. Als er die Hochhäuser im Zentrum sah, wurde ihm sofort unwohl zumute. „Ich hab mich gefragt: ‚Warum bauen Leute so was? Das ist doch gefährlich!’“, erzählt er. „Und das, obwohl mir bewusst war, dass es in Australien nicht so viele Erdbeben gibt wie in Neuseeland.“ Das Meditieren habe ihm seine innere Ruhe zurückgegeben.
An der Toilettentür hängt ein Poster von Guru Dudu in ulkigen Yoga-Posen, zwischen den Pflanzen auf dem Regal vor dem Fenster sitzt ein tönerner Buddha unter einer Girlande aus Weihnachtspostkarten. Das Haus, eine einstöckige Doppelhaushälfte mit Garten, ist in die Jahre gekommen, mit diversen Macken und Charakter. Alex und ich fühlen uns wohl in unserem neuen Heim, nur Kater Freddy ist noch nicht besonders zutraulich. Er liegt unter einem Baum im Garten, ein massiges Bündel aus weißem und getigertem Fell, das mich an das Kinderbuch Ein Kater ist kein Sofakissen von Christine Nöstlinger erinnert: „Herr Kugel, Sie wiegen fünf Kilo zu viel!“
„Er frisst nur das neue Futter, das alte mag er nicht“, sagt Shea und zeigt auf Freddys Futternapf, der beinahe überquillt. „Wir füllen es einmal morgens und einmal abends auf.“ „Verstehe“, sage ich. Ob ich mich daran halten werde, weiß ich noch nicht. Der Kater ist zu dick.
Shea verlässt uns am folgenden Tag nach dem Mittagessen. Zum Abschied schickt er mir ein Google-Dokument per E-Mail mit detaillierten Regeln für das Leben im Haus und mit Freddy: „Bitte überprüft die Gemüsepflanzen alle paar Tage auf Weiße Fliegen. Sie hängen gerne an der Unterseite der Blätter. Besprüht sie mit der Insektenpistole (gelbe Flasche im Regal neben der Haustür)“, lautet nur eine seiner Anweisungen. „Oh-oh“, sage ich zu Alex. „Ob Shea uns eine gute Bewertung geben wird?“ Die brauchen wir, um neue Housesitting-Aufträge zu bekommen.
Aufwändig sind unsere Aufgaben nicht. Morgens füttere ich Freddy, gebe ihm frisches Wasser. Jeden zweiten Tag gießen wir die Pflanzen im Garten, einmal pro Woche die im Haus. Selbstverständlich schauen wir regelmäßig nach den Weißen Fliegen – etwa 1,5 Millimeter große Mottenschildläuse, die ihre Eier an den Blattunterseiten der Tomatensträucher ablegen.
Daneben bleibt uns genügend Zeit, um zu arbeiten, zum Strand zu fahren, in Vorbereitung auf die Oscar-Verleihung so viele Filme wie möglich anzuschauen und unsere Umgebung zu erkunden. Gleich um die Ecke ist das Grampians Reserve, ein Naturschutzgebiet mit zahlreichen Wanderwegen, die durch eingeführte Nadel- und einheimische Laubwälder führen. Wenige Kilometer weiter befindet sich das Brook-Waimārama-Schutzgebiet, in dem man wunderbar spazieren gehen kann.
Fast jeden Morgen frühstücken wir auf der Veranda, samstags besuchen wir pflichtschuldig den Wochenmarkt in der Innenstadt und kaufen deutsches Brot, das die Neuseeländer*innen offenbar leider nur mit Kümmel kennen.
An einem der Samstagvormittage, die wir in Nelson verbringen, nehme ich an einem Kompost-Workshop teil. Den hat Sheah mir nahegelegt. Er hat das Kompost-Projekt in den Waimārama-Gemeinschaftsgärten im Osten der Stadt mitgegründet. Das Ziel von „Community Compost“ ist es, das Abfallaufkommen Nelsons verringern, indem Brotreste, Kaffeesatz und Bananenschalen in Humus für den Garten umgewandelt werden, statt auf der Müllkippe zu enden. Dem städtischen Abfallminimierungsplan zufolge könnte die Gesamtmüllmenge dadurch um 28 Prozent verringert werden.
Noch ist es nicht soweit, doch das Projekt wächst. Einmal pro Woche sammeln die Mitglieder von „Community Compost“ die Eimer ihrer Abonnenten ein und leeren sie in die Komposthaufen hinter den Schrebergärten. Vier große Haufen stehen da, eingefasst von Drahtgestellen, abgedeckt von olivgrünen Planen. Neben mir haben sich eine Handvoll weiterer Interessenten eingefunden.
Um kurz nach halb elf Uhr hält der „Community Compost“-Van neben uns. Wir helfen David, einem ehrenamtlichen Mitarbeiter, beim Ausladen der Komposteimer. 73 sind es, in unterschiedlichen Größen. Privathaushalte nehmen genauso an dem Projekt teil wie Restaurants oder Cafés. Wir schichten die Komposthaufen zuerst um, bevor wir die Eimer auf einen einzigen schütten und dessen Inhalt mit dem neuen vermischen. Jetzt, im Sommer, müssen die Haufen zweimal pro Woche umgeschichtet werden, sagt Kate, die vor ein paar Monaten aus dem US-amerikanischen New Hampshire nach Neuseeland gezogen ist und sich bei „Community Compost“ engagiert, weil ihr Vermieter ihr einen Komposthaufen im Garten nicht erlaubt.
Kate zeigt mir, wie die leeren Eimer gewaschen werden. Später treffen Alex und ich sie und ihren Freund am Marktplatz wieder. Nelson ist klein. Wer bleibt, schafft es schnell, Freunde zu finden. Den Abend verbringen wir bei Svenja, einer Bekannten meiner Cousine Kerstin, die nach Neuseeland ausgewandert ist. Nur ein paar Straßen entfernt von unserem vorübergehenden Zuhause haben sie und ihr Mann Josh, ein Neuseeländer, sich ein Haus gekauft.
Als wir ankommen, werkeln Josh und sein Vater John auf der Veranda. „Sie bauen eine überdachte Terrasse“, erklärt Svenja und führt uns in den Garten oberhalb des Hauses, wo Sitzmöbel stehen. Von hier aus kann man die halbe Stadt überblicken. „Was für ein Panorama!“, schwärme ich. „Ja, wir haben Glück, dass wir das Haus gefunden haben“, sagt Svenja. „Im Winter, wenn die Bäume keine Blätter haben, sieht man sogar eine kleine Ecke Meer.“
Sie hat schulterlange, blonde Haare und einen niederländischen Akzent, obwohl sie auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen ist. Josh hat kurzes schwarzes Haar und sieht aus, als ob er regelmäßig trainieren würde. Er bringt Kindern an einer Grundschule Te Reo Māori, die Sprache der indigenen Bevölkerung Neuseelands, bei. Svenja ist Sozialarbeiterin. Sie bekocht uns mit Käsespätzle und Gurkensalat. Für ein paar Stunden fühlen wir uns fast wie in Deutschland.
Zweimal unternehmen wir Ausflüge, die etwas weiter weg führen. An einem Sonntag fahren wir zur Te-Waikoropupū-Quelle, rund 100 Kilometer westlich, die für ihr klares Wasser bekannt ist. Anschließend gehen wir den Pupu-Hydro-Rundweg. Der Ausflug ist lang, aber nicht besonders anstrengend. Anders unsere Exkursion in den Abel-Tasman-Nationalpark, wo wir drei Stunden lang Kajak fahren und zehn Kilometer wandern. Er sei „hyperfinished“, sagt Alex abends auf dem Bett, unfähig, sich zu bewegen. „Spürst du die Wellen auch noch in deinem Körper?“
Gegen halb zehn Uhr morgens brechen wir zu unserem Ausflug auf. Eine Stunde dauert die Fahrt von Nelson nach Marahau, wo die meisten Touren in den Nationalpark beginnen. Am Kajakverleih zeigt uns Tourguide Jay, wo wir unsere Sachen aufbewahren können, wie wir in das Kajak einsteigen – und wie wir schnell wieder hinauskommen, falls etwas schiefgeht. Mit einem Traktor fährt er uns und unser Paddelboot zum Strand. Nach einer kurzen Einführung überlässt er uns uns selbst. „Viel Spaß!“, ruft er und startet den Traktor. Ratternd und tuckernd fährt er davon.
Wir treiben auf dem Wasser. Während ich mich bereits aufgeregt nach unserem ersten Ziel umsehe, kämpft Alex mit der Übelkeit. „Kannst du bitte kurz stillhalten?“, fragt er. „Ich muss mich erst an die Bewegung gewöhnen.“ Er gewöhnt sich schnell daran. Genauso schnell steht fest, dass das Kajakfahren nicht zu seinem neuen Hobby wird. „Pfff“ und „huiuiui“ höre ich ihn leise hinter mir schimpfen. Das Paddeln ist anstrengend, an unseren Händen bilden sich schon nach kurzer Zeit Blasen.
Den ersten Stopp legen wir nach nicht einmal einer halben Stunde ein. Über Rochen und silberne Fische hinweg gleiten wir an den Strand. Auf dem Sand der Tinline-Bucht steht ein Felsen wie eine überdimensionale griechische Büste. Darunter essen wir unsere Vesperbrote und schauen aufs türkisblaue Meer. Die Sonne glitzert auf dem Wasser.
Nach einem Abstecher zur Adele-Insel, auf deren Felsen Robben leben, paddeln wir zum Observation-Strand. Dort holen die Mitarbeiter des Kajakverleihs unser Boot ab. Wir setzen uns eine Weile auf den Sand, essen die Reste unseres Vespers, bevor wir uns auf den Rückweg machen.
Der Abel-Tasman-Küstenweg windet sich im Wald oberhalb des Strands an der Küste entlang. In den Farnbäumen zirpen die Zikaden manchmal so laut, dass es in den Ohren weh tut. Der Weg ist weich und sandig, es weht ein leichter Wind. Beste Voraussetzungen für eine zehn Kilometer lange Wanderung. Die Kajakfahrt war es nicht. Nach drei Stunden Paddeln sind unsere Energiereserven bald aufgebraucht. Mit jedem Kilometer werden wir leiser, bis wir schweigend hintereinander herlaufen. „Ist dein Bruder Waleri als Kind eigentlich anders gewesen als jetzt, wo er erwachsen ist?“, frage ich Alex. „Ich weiß nicht mal mehr, wer Waleri ist!“, schnaubt er. Ich lache.
Am frühen Abend erreichen wir Marahau. Wir setzen uns auf die Wiese neben dem Kajakverleih, ruhen kurz aus vor der einstündigen Fahrt nach Nelson. Dort belohnen wir uns mit einem Essen in einem vietnamesischen Restaurant, mit frittierten Nudeln, Tofu, Gemüse und Sommerrollen. Ich mag die leichte Schärfe meines Gerichts. „Das kribbelt schön im Mund“, sage ich zu Alex. Er nimmt sich eine Gabel und verzieht das Gesicht: „Das brennt im Rachen! Ich fühle mich, als wäre ich ein Drache!“
Zuhause begrüßt Freddy uns vor der Verandatür. Ich hebe ihn hoch. Er mag es, wenn man ihn wie ein Baby im Arm trägt und seinen Bauch krault. Er schnurrt mit geschlossenen Augen, sein Speichel tropft auf meinen Unterarm. Zur Feier des Tages bekommt er eine Dose nasses Katzenfutter. Ihr Inhalt riecht wie die Leberwurst-Seebären.