Es riecht nach verfaulten Eiern, nach Hundefürzen und nach Schlimmerem. Der Wind weht weißen Schwefel-Nebel zu uns. Alex hat seinen Schal bis über die Nase gezogen. Immer langsamer geht er an den Seen und Kratern des Wai-O-Tapu Thermal Wonderlands vorbei. Das Geothermalgebiet liegt rund 25 Kilometer südöstlich von Rotorua, einer 75.000-Einwohner-Stadt im Zentrum der Nordinsel Neuseelands. Sie ist bekannt für ihre heißen Quellen, Schwefelkrater und Geysire.
Zwei Nächte verbringen meine Mutter, meine Schwester, Alex und ich in der „Stinke-City“. Rotorua ist die zweite Übernachtungsstation auf unserer knapp dreiwöchigen Tour durch Neuseeland.
„Sorry, mir ist das zu viel, ich geh‘ schon mal zum Auto“, sagt Alex keine zwanzig Minuten später. Er dreht sich um, folgt hastig dem Weg zurück zum Ausgang. „Sollen wir auch gehen?“, fragt Mama. „Nee, ist schon okay“, sage ich. „Er musste nur mal weg von dem Gestank.“
Der Geruch ist wirklich schwer erträglich. Wir freuen uns fast, als es anfängt zu regnen. Der Regen löst den Schwefel-Nebel auf. Ein paar Minuten stellen Mama, Petra und ich uns unter Bäumen unter, dann scheint die Sonne wieder. „Hier muss man echt auf alle Wetterlagen vorbereitet sein“, sagt Petra und steckt ihre Regenjacke zurück in den Rucksack. „Jap“, bestätige ich knapp. Ich bin es schon gewohnt, dass sich die Wetterlage in Neuseeland von einer Minute auf die andere ändert.
Wir gehen an giftgrünen Seen vorbei und an weißen Kratern, deren Ränder von den Schwefeldünsten hellgelb gefärbt sind. In einigen Teichen blubbert es, aus anderen steigen Rauchwolken auf. Das Wai-O-Tapu Thermal Wonderland ist ein surrealer Ort – lebensfeindlich mit seinen bis zu hundert Grad heißen Gewässern und zugleich lebensfreundlich: Die Māori ließen sich schon im 14. Jahrhundert in der fruchtbaren Gegend um Rotorua nieder. Der Name Wai-O-Tapu bedeutet „heilige Wässer“.
Alex sitzt mit geschlossenen Fenstern im Auto, als Mama, Petra und ich am Parkplatz ankommen. Wir fahren zurück nach Rotorua, spazieren noch eine Runde am Ufer des gleichnamigen Sees entlang, bis Alex endgültig schlecht ist von dem Geruch. Er beschließt, abends daheim zu bleiben. Mama, Petra und ich fahren um 18 Uhr zur Veranstaltungsstätte Te Puia, wo wir an einer kulturellen Vorführung und einem Hāngi-Essen teilnehmen.
Der Abend beginnt mit einer kurzen Einführung in die Sprache der Māori, Te Reo. Der Ausdruck „Kia ora“ funktioniert so ähnlich wie das italienische „Ciao“: Er bedeutet hallo, tschüss und danke. Rafael, ein junger Schweizer, wird zum Stammeshäuptling der Gruppe gewählt. Beziehungsweise von seinen Freunden dazu gedrängt, sich freiwillig zu melden. Der Anführer muss, das schreibt die Tradition vor, männlich sein. „Ein Glück für Alex, dass er daheim geblieben ist“, flüstert Petra mir zu. „Mama hätte ihn sonst sicher zum Häuptling wählen lassen.“ „Oh ja!“, sage ich und grinse.
Im und vor dem Wharenui, dem Zeremonialhaus, schauen wir unseren Gastgebern und Gastgeberinnen beim Singen und Tanzen zu. Dann werden wir gebeten, selbst aktiv zu werden. Die Männer dürfen den Haka, einen Kriegstanz, lernen, wir Frauen einen Poi-Tanz. Das ist gar nicht so einfach, wie es aussieht. Mit den weichen, weißen Poi-Bällen treffe ich mich mehrmals selbst am Kopf. Eigentlich sollen wir die wattebauschähnlichen Bälle im Rhythmus der Musik vor, neben und über uns schwingen.
Zum Essen wechseln wir ins Restaurant nebenan. Mama, Petra und ich sitzen mit Vivienne und Don aus Edinburgh am Tisch. Die beiden besuchen Verwandte in Australien und Neuseeland. Alex‘ Stuhl bleibt leer. Das Hāngi, das über Stunden in einem Steinofen im Boden gegart wurde, wird als Buffet serviert. Wir holen uns Reis, Fisch, Mais, Kürbis und Kumara (Süßkartoffeln). Zum Nachtisch gibt es Windbeutel, Crème Brulée, Mousse au Chocolat und Pavlova, eine neuseeländische Baiser-Torte.
Während wir essen, geht Hayu, einer der Mitarbeiter, von Tisch zu Tisch und beantwortet die Fragen der Eingeladenen. Mama hat es ihm besonders angetan. Obwohl sie kaum Englisch spricht, unterhalten sich die beiden mit Händen und Füßen. Ich übersetze, wenn es gar nicht weitergeht.
Hayu berichtet, dass Te Puia drei Māori-Stämmen gehört. Die Eintrittsgelder, sagt er, fließen in die Gemeinschaft zurück. Sie finanzieren unter anderem ein Ausbildungsprogramm für junge Māori, die traditionelle Fähigkeiten wie Schnitzen, Flachsweben und Tätowieren erlernen.
Zum Abschluss des Abends dürfen wir das geothermale Gelände besuchen, das zu Te Puia gehört. In der Dunkelheit sehen wir nur wenig von den sprudelnden Matsch-Teichen. Dafür schießt der Geysir Te Tohu sieben Meter in die Höhe.
Am folgenden Morgen fahren wir in Richtung Süden weiter. Auf dem Weg nach Ohakune halten wir an den Huka Falls, einer Reihe von eisblauen Wasserfällen, und am Lake Taupo, dem größten See Neuseelands. Mit einer Fläche von 622 Quadratkilometern ist er größer als der Bodensee (536 Quadratkilometer). Das Wetter ist regnerisch, im Auto ist es gemütlicher als draußen.
Am frühen Nachmittag erreichen wir die Hütte, in der wir die kommenden zwei Nächte verbringen werden. Es ist kalt in unserem neuen Heim, ein Ofen wärmt das ganze Haus. Mama kümmert sich um das Feuer, während ich Kaffee koche und den Kuchen verteile. First things first. Später gehen wir noch eine Runde spazieren. Im Winter ist Ohakune ein beliebter Urlaubsort, mit Après-Ski-Bars und Skiverleihen. Jetzt, im späten Frühjahr, wirkt das 1100-Einwohner-Dorf wie ausgestorben.
Wir treffen nur wenige andere Spaziergänger. Vielleicht liegt es am Wetter. Es ist kalt und windig; ein Vorbote des Folgetags, an dem es von morgens bis abends regnet. Geplant war eine Wanderung im nahen Tongariro-Nationalpark, aber dort soll es sogar schneien. Also bleiben wir in unserer kuschelig-warmen Hütte; lesen, daddeln, spielen Karten. Der ungeplante Ruhetag tut allen gut.
In Wellington, unserer letzten Station auf der Nordinsel, haben wir noch ein straffes Programm vor uns. Knapp 300 Kilometer sind es von Ohakune in die Hauptstadt Neuseelands. Dort fahren wir zuerst auf den Mount Victoria, der einen schönen Blick auf das Zentrum Wellingtons bietet. Mit rund 212.000 Einwohnern ist die „Windy City“ viel kleiner als die 1,6 Millionen-Metropole Auckland.
Über kurvige Straßen fahren wir anschließend nach Karori. In dem Vorort im Westen der Stadt haben wir zwei Zimmer in einem Wohnhaus gemietet. Unser Gastgeber Geoff begrüßt uns an der Tür mit seiner Hündin Kiri. Nachdem Geoff uns alles gezeigt hat und wir unser Gepäck abgestellt haben, brechen wir auch schon wieder auf zu einem frühen Abendessen.
Drei Stunden später fahren Mama, Petra und ich mit dem Bus in die Stadt. Alex bleibt daheim, um mit seinen Eltern zu telefonieren. Wir steigen am Lambton Quay, im Zentrum, aus, schauen uns die wenigen Stände eines Nachtmarkts an, gehen an der Hafenfront entlang, setzen uns in eine Bar.
Wie überall an diesem Samstagabend sind fast alle Tische belegt. Es ist Rugby-Weltmeisterschaft, die All Blacks spielen im Halbfinale gegen die englische Nationalmannschaft. Wir freuen uns, den Spielern vor Beginn des Spiels beim Haka zuzuschauen. Den Kriegstanz haben wir erst vor ein paar Tagen in Rotorua live vorgeführt bekommen. Geoff ist niedergeschlagen, als wir nach Hause kommen. Die neuseeländische Mannschaft hat verloren.
Tags darauf fahren wir nach dem Frühstück mit dem Bus in die Stadt. Wir besichtigen das Museum Te Papa, essen Burger zu Mittag, spazieren durch die Innenstadt und den Botanischen Garten. Mit einem Monopoly-Spiel an Geoffs Esstisch endet unser letzter Abend auf Neuseelands Nordinsel. Am folgenden Morgen werden wir mit der Fähre auf die Südinsel übersetzen.