Von unserem Oscars-Stopp Porirua geht es weiter in den Norden. Auf dem Highway Nummer eins, der sich durch das ganze Land schlängelt, fahren wir an der Küste entlang. An den Autofenstern zieht eine raue Landschaft vorbei. Naturbelassene Strände, Neuseelandflachs mit langen Stängeln, das Meer, Inseln in der Ferne. Die Silhouette der Insel Kapiti würde gut auf das Cover eines Neuseeland-Krimis passen: eine langgezogene Bergkette hinter Wellen, eine eigene Welt weitab vom Festland. Die Strecke erinnert mich an die Great Ocean Road in Australien.
In Palmerston North, ungefähr nach der Hälfte der 175 Kilometer langen Fahrt, pausieren wir. Alex hat recherchiert, was es in der Nähe der 88.000-Einwohner-Stadt zu sehen gibt. Doch der Tawa-Rundweg, den er für uns ausgesucht hat, ist nach einem Erdrutsch gesperrt, die Straße zur Manawatu-Schlucht unbefahrbar. Wir kehren um. In einem Park am Ufer des Manawatu River essen wir belegte Brote, danach fahren wir weiter. Eine Stunde im Auto haben wir noch vor uns.
Das Beste an unserem Schlafplatz für die Nacht ist, wie so oft, die Katze. Das zumindest glauben wir während der ersten halben Stunde nach unserer Ankunft in Whanganui. Die „1907 erbaute historische Villa im italienischen Stil“ – so die Airbnb-Beschreibung – entpuppt sich als privat betriebene Jugendherberge. Ein hellblau und weiß gestrichenes zweistöckiges Haus, das sich aufgrund des kleinen Hügels, auf dem es gebaut wurde, über seine Nachbarn erhebt, als wäre es wichtiger als die anderen. Vermutlich war dem früher auch so. Heute verdeckt ein Baugerüst einen Teil der Säulenfront („im italienischen Stil“), das bis unters Dach reicht.
Wir parken Diggitwo an der Straße unterhalb der Villa und gehen den gewundenen Weg den Hügel hinauf. Die Eingangstür hinter der Säulenreihe steht einen Spalt weit offen. Ich klingle trotzdem. Eine winzige Katze huscht zwischen unseren Beinen nach draußen. „Das ist Misty“, sagt eine junge Frau mit hellblondem, strähnigen Haar. Sie trägt Jogginghose und T-Shirt und sieht nicht aus wie die Lebensgefährtin von Dave, dem Besitzer der Immobilie. Sein Airbnb-Profilbild zeigt einen älteren Mann im grau-weiß-gestreiften Polohemd in einer Garage voll glänzender Sportwagen.
Die Frau ist um die 20. Sie wirkt verschlafen, als hätten wir sie aufgeweckt. „Ich bin Brina“, sagt sie. „Mella.“ „Alex. Wir haben ‚Alex’s Room‘ gebucht.“ „Ah ja“, sagt sie, „kommt mit.“ Wir folgen ihr ins Innere. Der Holzboden knarzt. Die Tür rechts neben dem Eingang ist geöffnet, der Raum dahinter dunkel. Vielleicht hat Brina tatsächlich einen Mittagsschlaf gehalten.
Die Beschreibung „historische Villa“ trifft zu, das sehen wir an der Empfangshalle. Dass sie ihre besten Jahre längst hinter sich hat, auch. Der braune Stoff der Treppe, die unter einem Holzbogen in den ersten Stock führt, ist abgewetzt, der Kronleuchter, der von der Decke hängt, staubig.
Brina führt uns durch die Küche – „Frühstück gibt’s ab sieben Uhr“ – zu „Alex’s Room“. Der ist klein, hat aber hohe Decken und ein schmales, fast raumhohes Fenster, das ich sofort öffne. Es riecht intensiv nach Wandfarbe. „Das Bad teilt ihr euch mit den Zimmern auf dieser Seite des Flurs. Am anderen Ende ist ein zweites, falls eures belegt sein sollte. Daneben ist die Waschmaschine. Hier hängt euer Schlüssel. Habt ihr noch Fragen?“, rattert Brina lustlos herunter. Sie scheint sich nach ihrem dunklen Raum zu sehnen. „Nein, alles gut“, sage ich und stelle meinen Rucksack neben das Bett.
Als ich mich setze, ist Brina schon verschwunden. Dafür spaziert Misty so selbstverständlich durch die Tür, als würde sie zu uns gehören. Die kleine Katze ist höchstens ein paar Monate alt, ein zartes Geschöpf mit grünen Augen und weichem Fell, das weiß und hellgrau getigert ist. Um den Hals trägt sie ein blaues Halsband, an dem ein silbernes Glöckchen hängt. Unweigerlich muss ich an den Disney-Film Aristocats (1970, Wolfgang Reitherman) denken.
Misty reibt sich am Bettpfosten, springt auf das Bett und schnuppert an den Kissen. Alex und ich sind schockverliebt. Müssen aber trotzdem erst noch den Rest unseres Gepäcks holen, bevor wir es uns gemütlich machen. „Sorry, du musst noch mal raus“, sage ich zu Misty und hebe sie hoch. Ihr Körper ist leicht wie ein Federmäppchen.
Alex folgt mir, zieht hinter sich die Tür zu. Viel ist nicht mehr im Auto. Die Plastikkiste mit den Lebensmitteln und die kleinen Rucksäcke. „Hast du den Schlüssel?“, fragt Alex im Flur. „Ich dachte, du hättest ihn.“ Der Klassiker. Der Schlüssel hängt noch am Haken im Zimmer. „Vielleicht hat Brina einen Ersatzschlüssel“, sagt Alex. Während er sie sucht, gehe ich um das Haus herum. Bloß unser Fenster steht weit offen. Ich schätze die Höhe bis zum Rahmen ab – wahrscheinlich könnte ich ihn ohne größere Anstrengung erreichen. Wahrscheinlich würde ich bei dem Versuch aber auch sehr hässliche schwarze Schuhsohlenspuren an der Hauswand hinterlassen.
Ich gehe zurück zum Eingang. „Brina hat keinen Ersatzschlüssel“, sagt Alex. Er steht unter dem Kronleuchter der Empfangshalle. Ich überlege schon, ob ich nicht doch einen Versuch wagen soll, durch das Fenster zu steigen, als Brina auf uns zukommt. In der ausgestreckten Hand hält sie einen Schlüssel. „Wo hast du den her?“, will ich wissen. „Hattest du noch einen Ersatzschlüssel?“ Ihre Antwort hätte ich mir denken können: „Ich bin durchs Fenster geklettert.“
Wir schließen die Tür auf, Misty schlüpft noch vor uns ins Zimmer. Während Alex und sie es sich auf dem Bett bequem machen, hole ich ein Handtuch aus dem Rucksack und gehe ins Badezimmer, duschen. Als ich zurückkomme, liegt Misty eingekringelt neben Alex‘ Beinen. „Sie ist so süß!“, schwärmt er, „sie wollte sofort mit mir schmusen!“ Als hätte es seine Worte verstanden, wacht die Katze auf und streckt sich. Alex greift nach seinem Handy, knipst ein Selfie von uns dreien. Und da, auf dem Foto, sehe ich ihn, den schwarzen Fleck neben Mistys linkem Auge. „Oh nein“, sage ich. Ein ganz schlechtes Zeichen. Ich drehe Misty auf den Rücken, fahre mit den Fingern durch ihr feines Bauchfell. Noch mehr schwarze Punkte. „Unsere Aristocat hat Flöhe“, sage ich. Wie die aussehen, wissen wir seit einem Housesit in Auckland.
Ich trage Misty auf den Flur und folge ihr aus dem Haus. Ich möchte noch eine Weile spazieren. Die Villa liegt nicht weit vom Fluss entfernt. Der Whanganui River fließt breit und behäbig durch die Stadt, drei Brücken verbinden die Ufer. Ich überquere die nördlichste, die Dublin Street Bridge, die zum Kowhai Park führt. Von der ersten Minute an fühle ich mich unwohl auf dem Gelände. Links neben der Brücke stehen Polizeiautos mit kreisendem Blaulicht. Die Beamten unterhalten sich mit einer Gruppe Jugendlicher. Ich gehe nach rechts, vorbei an einem Auto. Rapmusik und süßlicher Marihuanaduft wabern aus den Fenstern. Hinter einem Spielplatz, dessen gigantische Tierfiguren ohne spielende Kinder eher trist als niedlich wirken, liegt eine zerknitterte Kondom-Verpackung. Zeit umzukehren.
Mit rund 43.000 Einwohnern ist Whanganui nur etwa so groß wie Bietigheim-Bissingen. In den vergangenen Jahren erschien der Name der Stadt vor allem wegen zwei Dingen in den Medien: Zum einen wurde Whanganui 2019 zur „schönsten Stadt Neuseelands“ gewählt. Zum anderen wurden innerhalb von nur zwei Jahren neun Menschen dort ermordet. Mindestens zwei der Mordfälle sollen mit Gang-Rivalitäten zu tun haben. Ableger von Gruppen wie den Hells Angels, dem Mongrel Mob oder Black Power sorgen in Whanganui immer wieder für Schlagzeilen.
Hungrig gehe ich zurück zur Villa. An der Kochinsel in der Mitte der Küche bereiten Alex und ich Chili Sin Carne zu. Wir sind fast fertig, als ein alter Mann mit runzligem Gesicht und gebeugtem Rücken hereinkommt. „Mhmm, das riecht gut!“, sagt er. Und, nach einem Blick in den Topf: „Sieht gesund aus!“ Zehn Minuten später wiederholt sich die Szene. „Wenn er das nächste Mal kommt, lade ich ihn zum Essen ein“, sage ich zu Alex. Doch der alte Mann kommt nicht zurück.
Wir sehen ihn erst am nächsten Morgen wieder; kurz bevor wir zu unserem nächsten Ziel, New Plymouth, aufbrechen. Mit den Rucksäcken auf dem Rücken und der Lebensmittelkiste zwischen uns begegnen Alex und ich ihm und Brina am Hauseingang. „War alles okay?“, fragt Brina. „Ja, danke“, sage ich. „Ach ja, Misty hat Flöhe, ihr solltet mal zum Tierarzt mit ihr gehen.“ „Okay, verstehe“, sagt Brina. Der alte Mann guckt auf die Lebensmittelkiste: „Sieht gesund aus!“