„Wie bereitet ihr euch auf euren Heimflug vor?“ Unser Mitbewohner Jiang sorgt sich mehr um unsere Rückreise nach Deutschland als Alex und ich. Seit ein paar Tagen wohnen wir wieder in unserer WG in Auckland; in dem Holzhaus am Rand des Farnwalds, wo wir die ersten Wochen nach unserer Ankunft in Neuseeland verbracht haben. Mit Alycia und Jhonny, denen das Haus gehört, mit Jiang und seiner Frau Winny, die aus China kommen und vorübergehend in Neuseeland leben, mit Scott, der nach Jahren in England zurück in seiner Heimat ist, und mit den Katzen Cashew und Liger.
Dass Alex und ich beim Rückflug Stoffmasken tragen wollen, die eine Schülerin aus der Nähe mit ihrer Oma genäht hat, findet Jiang gar nicht gut. „Sie sind nicht sicher!“, sagt er und öffnet auf seinem Smartphone Artikel, die Stoffmasken, was den Schutz vor dem Corona-Virus angeht, in die Nähe von Strumpfhosen mit Laufmaschen rücken. Jiang nimmt die Pandemie sehr ernst. Der 46-Jährige informiert sich jeden Morgen eingehend über die neuesten Entwicklungen. Und uns gleich mit. Rund 1500 Menschen haben sich in Neuseeland bis Mitte Juni 2020 mit Covid-19 infiziert, in Deutschland sind es zur selben Zeit fast 187.000. Die neuseeländische Regierung fährt eine Zero-Covid-Strategie, das Virus soll aus dem Land verschwinden. Alycia und Jhonny arbeiten auf unbestimmte Zeit im Homeoffice; sie am Esstisch, er im Schlafzimmer.
„Esst ihr auch etwas während des Flugs?“, will Jiang wissen. „Äh, ja?“, antworte ich. Wir werden von Auckland nach Los Angeles und weiter nach Frankfurt am Main fliegen. Mindestens 27 Stunden werden wir unterwegs sein. Solange halte ich es nicht aus, ohne zu essen. „Ihr solltet etwas mitnehmen“, rät Jiang. „Nicht das Flugzeugessen essen!“ Ginge es nach ihm, würden Alex und ich im Ganzkörperschutzanzug die Heimreise antreten. Jhonny zeigt Jiang auf seinem Handy eine Maske, die aus einer Wassermelone gebastelt wurde. Offensichtlich ein Witz. „Was hältst du davon, Jiang?“, fragt Jhonny. Jiang ist geschockt: „Nein! Das geht nicht!“
Wir lachen. Es fühlt sich gut an, zurück in Auckland zu sein. Zurück in unserer WG auf Zeit. Die meisten Abende verbringen wir wie diesen: mit unseren MitbewohnerInnen im Wohnzimmer, auf den Sofas, Sitzsäcken und Sesseln vor dem Kamin. Dort, wo es am wärmsten ist. Wie vor Urzeiten sammelt sich die Gemeinschaft um das knisternde Feuer. Auch die Katzen liegen gerne neben dem schwarzen Metallofen. Liger (ihr Name ist eine Mischung aus Lion, also Löwe, und Tiger) kommt den Flammen einmal so nah, dass ihre Barthaare verbrennen.
Es ist Winter in Neuseeland. Fast täglich regnet es. Da das Haus abgesehen vom Kamin nur von einer Klimaanlage beheizt wird, ist es kalt und klamm in unserem Zimmer. Die Fenster sind einglasig, die Wände, wie bei den meisten neuseeländischen Gebäuden, dünn wie Pappe. Der Regen prasselt im Stakkato aufs Dach. Die Wege im Naturreservat nebenan sind matschig. Trotzdem gehe ich fast jeden zweiten Tag joggen, begleitet vom Gesang der Fantails und der Tuis. Anschließend sportle ich noch eine Weile in unserem Zimmer. Cashew mag das nicht. Während ich Sit-ups und Liegestützen mache, setzt sie sich neben mich und will, dass ich sie streichle.
Wie schon bei unseren beiden vorhergehenden Aufenthalten bei Alycia und Jhonny weicht die getigerte Katze, die mit ihren spitzen Ohren und den verschlafenen Augen aussieht wie ein kleiner Luchs, Alex und mir kaum von der Seite. Sie liegt auf Alex‘ Beinen, wenn er arbeitet, nachts schläft sie in unserem Zimmer. Oft weckt sie uns schon um 5 oder 6 Uhr morgens. Nach einer Runde durch den Garten steht sie miauend in der Dunkelheit vor unserem Bett. Meistens kann ich danach nicht mehr einschlafen. Trotzdem bringe ich es nicht übers Herz, Cashew aus unserer Nähe zu verbannen.
Obwohl das Abflugdatum täglich näher rückt, können Alex und ich nicht so recht begreifen, dass unsere Reise bald enden wird. Wir können uns nicht vorstellen, demnächst wieder in der Heimat zu sein, im Schwarzwald und am Bodensee. Gleichzeitig bereiten wir uns auf die Rückkehr vor. Wir kaufen Mitbringsel für unsere Freunde und Familien, besuchen das Kunstmuseum im Zentrum und gehen noch einmal in dem thailändischen Restaurant essen, wo wir vor Monaten mit meiner Mutter und meiner Schwester waren. Im Auto fahren wir zum 45 Minuten entfernten Piha Beach an der Westküste, zur Long Bay im Norden Aucklands, zum nahen Takapuna-Strand und zum Mount Victoria im Stadtviertel Devonport, wo wir dabei zuschauen, wie die Sonne hinter der gegenüberliegenden Hügelkette versinkt.
Es sind unsere letzten Ausflüge mit Diggitwo. Ihn zu verkaufen, ist in den Wochen vor dem Abflug unsere Hauptsorge. Beziehungsweise meine. Alex ist entspannt, ihn stresst der Gedanke nicht, dass wir unser Auto nur weit unter Wert verkaufen oder gar nicht loswerden könnten. Ich dagegen bin mit den Nerven am Ende. Wir putzen Diggitwo, fotografieren ihn und stellen die Bilder in drei Facebook-Gruppen. Schon am Tag darauf erhalten wir eine Anfrage, doch die Besichtigung kommt nicht zustande. Je mehr Tage vergehen, desto unruhiger werde ich. Und das, obwohl auch mir klar ist, dass der Verkauf gar nicht so wichtig für uns ist. Dadurch, dass wir die Reise frühzeitig abbrechen müssen, haben wir Erspartes übrig. In Deutschland werden wir uns erst einmal keine finanziellen Sorgen machen müssen.
Nach einer Handvoll Besichtigungen und ein paar abgesagten Terminen werden wir Diggitwo sechs Tage vor unserem Abflug tatsächlich los. Mike, ein Mechaniker, kauft ihn für etwa die Hälfte des Preises, den wir vor nur neun Monaten bezahlt haben. Aber das ist mir mittlerweile egal. Hauptsache, wir sind das Auto los. Und in Anbetracht der Marktsituation können wir zufrieden sein: Da wegen Corona keine TouristInnen mehr nach Neuseeland einreisen dürfen, sind die Preise für Gebrauchtwagen stark gesunken.
Einen Tag, nachdem er das Geld überwiesen hat, holt Mike Diggitwo ab. Seine Frau fährt in dem Auto vorneweg, in dem sie zu zweit gekommen sind, er folgt ihr in unserem silbergrauen Nissan. Sekunden später verschwinden die zwei Autos aus unserem Blickfeld. „Bye, Diggitwo“, sage ich. Eine Last fällt von mir ab. Unseren letzten Ausflug nach Rangitoto Island kann ich nun unbeschwert genießen.
Mit dem Bus fahren Alex und ich zum Pier ins Stadtzentrum, wo die Fähren ablegen. Bevor wir das Schiff betreten dürfen, müssen wir unsere Schuhe putzen. Bürsten und ein Spray stehen bereit. Sie sollen verhindern, dass BesucherInnen die Kauri-Baum-Krankheit auf die Insel einschleppen. Zusammen mit ungefähr 30 anderen TouristInnen suchen wir uns einen Sitzplatz. Etwa 25 Minuten dauert die Überfahrt nach Rangitoto Island über das ruhige Meer. Die Insel ist circa acht Kilometer von der Innenstadt Aucklands entfernt. Sie entstand vor geschätzten 600 bis 700 Jahren bei mindestens zwei Ausbrüchen des Vulkans Rangitoto, dessen Māori-Name übersetzt schlicht „Vulkan“ bedeutet.
Von der Anlegestelle folgen wir einem ausgeschilderten Weg hinauf zum Gipfel des erloschenen Vulkans, vorbei an erkalteten Lavaströmen, die sich die Natur längst zurückerobert hat. Büsche und Zweige wachsen aus dem schwarzen Gestein heraus. Der Himmel über uns ist bewölkt. Durch einen Wald geht es hinauf bis zu dem 60 Meter tiefen und 200 Meter breiten Krater. In der konischen Vertiefung wachsen Pōhutukawa-, Rewarewa- und Manuka-Bäume. Wenige Meter weiter haben wir eine großartige Sicht auf die benachbarte Motutapu-Insel, weiße Segelschiffleinen und die Skyline Aucklands. Auf der Fahrt zurück in die Stadt passieren wir ein Containerschiff, das in den Hafen einläuft. Mit einem solchen Riesen sind wir zehn Monate eher im Land der langen, weißen Wolke angekommen.
Den Abend verbringen wir mit unseren MitbewohnerInnen. Alycia feiert ihren 40. Geburtstag nach. Blaue und gelbe Luftballons schmücken das Wohnzimmer. „Irgendwie“, denke ich, „feiern Alex und ich jetzt auch unseren Abschied.“ Der bahnt sich portionsweise an, mit vielen letzten Malen. Winny bereitet einen ganzen Tag lang chinesische Dumplings zu, die wir alle miteinander verspeisen. Ein anderes Mal kocht Alycias und Jhonnys Freund Kart indisches Curry mit Reis und Naan-Broten, ich steuere Blaubeer-Muffins zum Nachtisch bei. An Jhonnys 41. Geburtstag kommen Camilo und Cata mit Schokokuchen vorbei. An den restlichen Abenden spielen wir zusammen Super Mario Kart und Bubble Bobble auf der Switch, unterhalten uns über Rassismus, die englische Sprache, Essgewohnheiten.
Fünf Tage bevor Alex und ich abfliegen, löst sich unsere kleine Gemeinschaft auf. Jiang und Winny verabschieden sich. Sie reisen auf die Coromandel-Halbinsel, suchen Abwechslung nach drei Monaten in Auckland. „Freust du dich auf Coromandel?“, frage ich Jiang beim Frühstück. „Nein. Wir waren dort schon einmal“, erwidert er trocken. Ich muss lachen. Ich werde ihn vermissen. Sie alle werde ich vermissen, unsere sieben MitbewohnerInnen im Holzhaus am Rand des Farnwalds in Glenfield, Auckland.