Wenn Richard Thorpe auf sein kleines Reich schaut, kann er kaum glauben, wie weit er und seine Mitstreiter es gebracht haben. Der 60-Jährige steht vor dem Bürogebäude der Recycling-Initiative Xtreme Zero Waste (XZW) am Rand des neuseeländischen Küstenorts Raglan. Thorpe zieht seinen Pulli aus. Es ist heiß. Zur Mittagszeit steht die Sonne fast senkrecht am Himmel.
Thorpe, ein schlanker Mann mit Goldring im Ohr und einem Bart, der zum Kinn hin immer weißer wird, ist für die Öffentlichkeitsarbeit und Finanzen von XZW zuständig. Für einen Zeitungsartikel führt er mich über das Areal und schildert mir die Entstehungsgeschichte der Initiative. „Ich hätte nicht erwartet, dass es uns so lange geben würde“, sagt er. Vor 20 Jahren gründete er XZW mit fünf weiteren Bewohnern und Bewohnerinnen Raglans auf dem Gelände einer ehemaligen Müllhalde.
Die Gruppe war fest entschlossen, das Müllaufkommen des 3200-Einwohner-Orts zu minimieren. Sie erreichte viel in kurzer Zeit: Schon 2001, ein Jahr nach der Entstehung, wurden 74 Prozent der Abfälle, die früher auf der Deponie gelandet wären, recycelt, kompostiert, weiterverwendet, in Einzelteile auseinandergenommen, neu zusammengesetzt oder verkauft.
Mittlerweile liegt die Quote bei 81 Prozent. Pro Monat entspricht das mehr als 178 Tonnen Abfällen – fast der Masse eines unbeladenen Jumbo Jets. „Dazu müsste man eigentlich den Müll rechnen, der gar nicht erst produziert wurde“, sagt Thorpe. Mit XZW habe sich das Konsumverhalten der Menschen in Raglan stark verändert.
Ein lokales Umdenken, das weltweit dringend nötig wäre. Denn die Menschheit hat ein Müllproblem. Zwei Milliarden Tonnen Siedlungsabfälle produziert die Weltbevölkerung jedes Jahr, dazu kommen Industriemüll und andere Abfälle. Ein großer Teil davon wird weder richtig aufbereitet noch recycelt. Jede Minute landet eine Lkw-Ladung Plastikabfälle im Meer, Müllhalden wie die Deponie Ghazipur am Rand von Neu-Delhi nehmen riesige Flächen ein.
In ihrem 2018 erschienenen Bericht „What a Waste“ prognostizierte die Weltbank, dass die Müllmenge ohne Gegenmaßnahmen bis 2050 um 70 Prozent zunehmen werde. Schuld daran seien das globale Bevölkerungswachstum, aber auch das Konsumverhalten der Industriestaaten sowie der nachlässige Umgang mit Rohstoffen. „Unsere Ressourcen müssen genutzt und dann kontinuierlich wiederverwendet werden, damit sie nicht auf Mülldeponien enden“, sagte die Vizepräsidentin der Weltbank für nachhaltige Entwicklung Laura Tuck zur Veröffentlichung von „What a Waste“. Der Bericht spricht sich denn auch für die Schaffung von Kreislaufwirtschaften aus, in der sämtliche Waren so konzipiert sind, dass sie wiederverwendet oder zumindest recycelt werden können.
Dieser sogenannte Cradle-to-Cradle-Ansatz ist einer der Grundpfeiler der Zero-Waste-Bewegung. XZW ist daher Recycling-Annahme, Wertstoffhof, Kompostanlage und Secondhandlager in einem. Links neben dem Bürogebäude, vor dem Thorpe steht, ist ein Metallhof, in dem Metallgegenstände gesammelt werden: alte Fässer, ausgediente Fahrräder, ein Einkaufswägen. Im Holzlager schräg gegenüber schrauben Mitarbeiter gebrauchte Baumaterialien auseinander. Regelmäßig finden Upcycling-Kurse statt, bei denen die Teilnehmer eigene Möbel schreinern können. Außerdem ist da ein Kompost-Bereich und ein Secondhandladen, in dem Kleidung, Koffer, Geschirr, Bücher und mehr verkauft werden.
„Wir sehen uns als Ressourcen-Zentrum“, erklärt Thorpe. „Für uns gibt es keinen Abfall, nur Dinge, die am falschen Ort sind.“ Müll, betont er, könne viel Positives bewirken. Jedes Jahr fließen etwa 1,6 Millionen Neuseeland-Dollar (rund 888.000 Euro) aus der Initiative in die Gemeinschaft zurück. Mit 42 Angestellten ist XZW nach der Schule heute der zweitgrößte Arbeitgeber Raglans. Nicht zuletzt deshalb sind die Bewohnerinnen und Bewohner stolz auf ihren Recyclinghof.
„Bitte respektiere unsere schöne Stadt“ steht selbst auf den Mülleimern am Parkplatz, zu dem ich nach dem Treffen mit Richard Thorpe fahre. Sie wurden von XZW in ganz Raglan aufgestellt: grüne für Recycling-Abfälle, blaue für den Rest, der aktuell doch noch auf der Müllkippe landet.
Ich gehe an den Mülleimern vorbei zum Strand, auf der Suche nach Alex. Während ich mich über Abfallvermeidung unterhalten habe, hat er den SurferInnen beim Wellenreiten zugeschaut. Raglan gilt als die inoffizielle Surferhauptstadt Neuseelands. Gleich mehrere Vulkanstrände locken mit der perfekten Welle. Der wohl berühmteste, Manu Bay, war 1966 in dem Surferfilm The Endless Summer zu sehen.
Obwohl das Surfen angeblich schon vor der Ankunft der Europäer in Neuseeland zur Māori-Kultur gehörte, verbreitete sich der Sport erst in den 1960er-Jahren. Zunächst benutzten Rettungsschwimmer bis zu fünf Meter lange Longboards als Hilfsmittel, um schneller durch die Brandung paddeln zu können. Zwei US-amerikanische Rettungsschwimmer führten 1958 die kürzeren und wendigeren Malibu-Boards ein. Heute ist Surfen längst wieder ein Teil der Kultur von Aotearoa, dem Land der langen, weißen Wolke.
Am Ngarunui Beach liegt eine Reihe Surfbretter mit den Finnen nach oben auf dem dunklen Sand, tragen Kinder und erwachsene SurferInnen ihre Boards in schwarzen Neoprenanzügen zum Meer. Die Wassertemperatur steigt kaum einmal über 22 Grad Celsius. Ein paar hundert Meter neben uns übt ein Surflehrer mit seinem Schüler das Aufstemmen und Stehen auf dem Strand. Auf dem Trockenen sehen ihre Bewegungen seltsam ungelenk aus. Ich muss grinsen, obwohl ich weiß, dass ich mich selbst nie trauen würde, auf einem Surfbrett zu stehen. Große Wellen sind mir unheimlich.
Bevor wir zu unserem Airbnb in Hamilton zurückfahren, essen wir ein Eis in der beschaulichen, von einer palmengesäumten Hauptstraße dominierten Innenstadt. Mit den Waffeln in der Hand spazieren wir an Cafés, Surfshops und Kunstgalerien vorbei zum Meer.
Danach sehen wir uns den Brautschleierwasserfall, rund 19 Kilometer südlich des Städtchens, an. 55 Meter stürzt sein Wasser aus dem Farnwald in ein kreisrundes Becken. „Top shelf!“, urteilt Alex. Die kurvige Rückfahrt über den Highway 23 gefällt ihm weniger.
Von unserem Airbnb in Hamilton halten wir beide nicht viel. Auf den Bildern im Internet sah es so aus, als würden wir mit einer Familie zusammen wohnen. In Wirklichkeit sind wir während der drei Tage in Hamilton fast immer alleine in der Wohnung – abgesehen von den Ameisen, Fliegen und Kakerlaken, denen wir im Bad und in der Küche begegnen.
Wir fühlen uns unwohl in unserem vorübergehenden Heim. Die Küchenzeile ist schmutzig, der Badezimmerboden voller Haare. „Immerhin ist die Bettwäsche frisch gewaschen“, sage ich zu Alex. Mit den Laptops auf dem Schoß arbeiten wir auf unserem Bett. Über uns hängen Spinnweben.
Trotzdem ist das Schlafzimmer noch die bessere Alternative im Vergleich zum Wohnzimmer. Das braune Ledersofa dort ist klebrig, die rechte Lehne mit Edding vollgekritzelt. Ich frage mich, wie die HandwerkerInnen von XZW die Einzelteile der Couch wohl verwerten würden. Für mich sieht das Sofa eher nach Xtreme Waste als Xtreme Zero Waste aus. Doch das ist wahrscheinlich ein Impuls der Wegwerfgesellschaft, in der ich aufgewachsen bin. Richard Thorpe würde bestimmt sagen: Das Sofa steht einfach nur am falschen Ort.