„Das war’s“, sagt der Junge. „Ich mache nie wieder Sport. Nie! Wieder!“ Verschwitzt steht er neben seinen MitschülerInnen. Er wirkt nicht wie jemand, der jeden Morgen joggen geht. Vor der Playstation kann ich ihn mir besser vorstellen. Ich muss grinsen, obwohl auch ich mich nach einem Sofa sehne. Alex sitzt neben mir auf dem Boden und hat die Augen geschlossen. Seine Energiereserven sind verbraucht nach achteinhalb Stunden wandern.
Das Tongariro Alpine Crossing ist die beliebteste Tageswanderung in Neuseeland – und vielleicht auch die anstrengendste. 19,4 Kilometer führt die Strecke vom Parkplatz im Mangatepopo-Tal an Peter Jacksons Schicksalsberg vorbei und wieder den Hang hinunter. Neben dem Weg: türkisgrüne Seen und erkaltete Lavafelder. Die Landschaft ist so abwechslungsreich, dass man die Kamera nie aus der Hand legen möchte.
Um das Shuttle zu erwischen, dass uns um 8 Uhr in den Tongariro-Nationalpark fährt, müssen wir früh aufstehen. Wir übernachten in Ohakune, einem Skiort rund 35 Kilometer südlich des National Park Village, aus dem der Bus abfährt. Um 6 Uhr klingelt der Wecker. Es ist noch dunkel, aber wir sind schon lange wach. Die Nacht in unserem „Mountain Peek Chalet“ (der wohlklingende Name steht für eine kleine, nach oben hin spitz zulaufende und sehr schlecht isolierte, also zugige Hütte) war eisig kalt. Im Traum bin ich zurück auf dem Containerschiff. Ich stehe draußen auf dem Deck und friere. Es fällt mir trotzdem nicht leicht, aufzustehen.
Punkt 7 Uhr sitzen wir im Auto. Wir lassen Ohakune schnell hinter uns, der Ort hat nur etwas mehr als 1000 Einwohner. Über den Kuhweiden hängen noch Nebelfelder. Die Sonne ist eben aufgegangen, taucht die Wiesen in ein gelbes Licht.
Wir lassen Diggitwo vor der Jugendherberge stehen, bei der wir die Shuttle-Tickets gekauft haben, und stellen uns an die Bushaltestelle gegenüber, wo bereits einige Wanderer warten. Weil kaum Plätze übrig sind, müssen Alex und ich getrennt sitzen, aber die Fahrt dauert nicht lange. Über eine enge Straße rumpelt der Bus zum Nationalpark. Der Parkplatz ist voll, als wir ankommen. Ich zähle drei große Reisebusse. Das zweite Zeichen dafür, dass wir auf dem Berg nicht allein sein werden.
Tatsächlich bewegen wir uns die meiste Zeit in einer Kolonne vorwärts. Immer wieder bleiben wir stehen, um Gruppen vorbeizulassen. Freunde, Touristen, mehrere Schulklassen. Als ich das Tongariro Alpine Crossing 2006 zum ersten Mal gemacht habe, waren dort längst nicht so viele Menschen.
Damals hieß die Wanderung aber auch noch schlicht „Tongariro Crossing“. Das Wort „Alpine“ hat die Naturschutzbehörde erst ein Jahr später eingefügt, um zu verdeutlichen, dass die Strecke nicht einfach nur ein langer Spaziergang ist. Zu viele AusflüglerInnen waren unvorbereitet, ohne Wasser oder eine Jacke, zu der acht- bis neunstündige Wanderung aufgebrochen. Und das, obwohl es in bis zu 1886 Metern Höhe empfindlich kalt werden kann, Neuseeland für Wetterumschwünge bekannt ist.
Jedes Jahr müssen die Rettungskräfte 30 bis 40 unterkühlte oder verletzte Wandernde in Sicherheit bringen. Laut einer 2017 veröffentlichten Studie des Mountain Safety Council werden 14 Prozent der landesweiten Such- und Bergungsaktionen allein im Tongariro-Nationalpark durchgeführt. Rund 140.000 Menschen pro Jahr unternehmen das Tongariro Alpine Crossing. Der vorerst letzte Todesfall ereignete sich im Mai 2020. Eine 37-jährige Engländerin rutschte aus und stürzte.
Kein Wunder, dass an zwei Stellen im Park lebensgroße Plastik-Ranger neben Schildern stehen, die vor dem Weiterwandern warnen. „Das war der leichte Teil“, steht in Großbuchstaben auf dem ersten Schild, „ES WIRD NOCH VIEL HÄRTER!“ Klingt aufmunternd. „Und, gehen wir weiter?“, frage ich Alex. Er lacht nur. Er weiß, dass ich nicht umdrehen möchte.
Eingeklemmt zwischen drei Freundinnen und einer Touristen-Gruppe steigen wir auf Treppenstufen höher. Wir sind in Mordor angekommen. Der Schicksalsberg, in dessen Krater Frodo in Der Herr der Ringe nach monatelangen Strapazen Saurons Ring der Macht warf, ragt neben uns empor. Der 2291 Meter hohe aktive Vulkan heißt eigentlich Mount Ngauruhoe, „heiße Steine werfend“, auf der Māori-Sprache Te Reo. Das zumindest ist eine von vielen Namenstheorien.
Unter einem wolkenlosen Himmel erreichen wir ein rostrotes Plateau. Der Wind fegt über die Ebene. Wir könnten genauso gut auf dem Mars sein. Wären da nicht so viele Menschen. Der nächste Aufstieg, am zweiten Ranger-Schild vorbei, führt zum Red Crater, dem höchsten Punkt der Wanderung.
Dort fragt uns eine chinesische Studentin, ob wir ihre Freundin gesehen haben. Sie habe sie vor einer Stunde an der Toilette aus den Augen verloren. Wir versprechen, nach ihr Ausschau zu halten, und informieren einen Bergführer. „Geh‘ weiter“, rät er der jungen Frau, nachdem er sich erkundigt hat, wann und wo sie ihre Freundin zuletzt gesehen hat, „wahrscheinlich ist sie schon zum Parkplatz vorgelaufen.“ „Am Berg muss man zusammenbleiben“, sage ich zu Alex. Lange hält er sich nicht an meinen Rat.
Am Geröllhang zu den smaragdgrünen Emerald Lakes staut es sich. „Es ist einfacher zu hüpfen“, sage ich zu zwei Schülerinnen und springe einen halben Meter vor, mit einem Kribbeln im Bauch, weil der Kies unter meinen Füßen nachrutscht. Ihr Lehrer zieht schlitternd einen Jungen hinter sich her. Der guckt abwechselnd ängstlich und unglücklich.
Wo Alex ist, weiß ich nicht. Vor dem Geröllhang hat er sich von mir verabschiedet. Der intensive Schwefelgeruch, der von den hübsch aussehenden, aber übel riechenden Seen aufsteigt, hat ihn zu Höchstleistungen angetrieben. Er wartet hinter einem großen Stein auf mich, das Postkarten-Panorama hat er nach drei Fotos hinter sich gelassen. Still no fear of missing out. „Du hast bestimmt sehr viele Bilder gemacht“, sagt er. Sein Vesperbrot hat er schon aufgegessen.
Nachdem auch ich gegessen habe, gehen wir weiter. Am tintenblauen Blue Lake ist der schönste Teil der Wanderung vorbei. Aber nicht der Hauptteil. Der Abstieg dauert länger, als ich ihn in Erinnerung habe. Alex grummelt, als er sieht, in wie vielen Serpentinen sich der Weg den Berg hinabwindet. Gefühlte Ewigkeiten gehen wir an gelben Grasbüscheln vorbei. Meine Knie fangen an zu ziepen. „Redest du nicht mehr mit mir?“, frage ich Alex nach zehn oder fünfzehn stillen Minuten. „Sorry, ich muss mich aufs Gehen konzentrieren“, sagt er. Uns fehlen noch mehr als fünf Kilometer.
Das letzte Stück führt durch den Wald. Es ist angenehm kühl im Schatten. Ich höre Podcasts, bis ich merke, dass wir uns beeilen müssen, um das Shuttle aus dem Nationalpark zu erwischen. Das letzte fährt um 17.30 Uhr. Wer zu spät kommt, muss 50 Neuseelanddollar (rund 28 Euro) zahlen, um nach dem Feierabend der Fahrer noch abgeholt zu werden. Die Schulkinder vor uns gehen so langsam, dass ich nervös werde. „Komm“, sage ich zu Alex und überhole. Dafür, dass wir so ziemlich am Ende unserer Kräfte sind, gehen wir noch einmal ziemlich schnell.
20 Minuten vor Abfahrt erreichen wir den Parkplatz. Kurz nach uns der Junge, der das Sprichwort „Sport ist Mord“ zu seinem Lebensmotto erklären würde, falls er je Deutsch lernen sollte. Alex bleibt bis zur letztmöglichen Minute vor dem Bus stehen, „zu heiß da drin“, dann rattern wir zurück zum National Park Village. Mit dem Blick eines Menschen, der zu lange zu wenig geschlafen hat, fährt Alex mich und Diggity zurück nach Ohakune. Vor der Hütte sitzt ein Hase, als wir ankommen. Nach dem Duschen essen wir Couscous-Salat, Reis und fertigen Krautsalat auf der Veranda.
Lange bleiben wir nicht mehr wach an diesem Abend. Den Tag darauf verbringen wir in Ohakune. Während Alex sich beim Switch-Spielen erholt, spaziere ich durchs Dorf. Ich kann mir gut vorstellen, dass im Winter Hüttengaudi angesagt ist in der „Ski Shed“ und der „Ohakune Tavern“. Im Park am Ortseingang steht eine elefantengroße Karottenattrappe. Ohakune ist Neuseelands Möhren-Hauptstadt. Das Schild vor der Riesen-Rübe ziert ein schneebedeckter Berg. Darunter steht: „Ohakune – wo die Abenteuer beginnen.“