„Wie schreibt man das?“ Alex schaut von seinem Smartphone zu mir. Wir sitzen im Auto, sind auf dem Weg von Nelson, wo wir zwei Wochen lang auf Kater Freddy aufgepasst haben, nach Ngakuta Bay, einem Dorf im Norden der neuseeländischen Südinsel. Unterwegs wollen wir in Havelock zu Mittag essen. „H-A-V-E-L-O-C-K“, buchstabiere ich. Dunkle Kiefernwälder rauschen an uns vorbei. Monokulturen, angelegt von Förstern, wegen ihres Holzes. „Ah“, sagt Alex. „Hab es! Ich dachte die ganze Zeit, der Ort würde Have-a-look heißen.“ Ich lache. Have-a-look bedeutet „Guck mal!“
Kurz darauf kommen wir an. Wir parken vor einem winzigen Fast-Food-Laden an der Hauptstraße und essen vor der Tür. Alex ist unzufrieden mit seinem Burger. Die Bulette, meint er, schmecke nach Schwein, nicht nach Rind. Ich packe mein Stieleis aus, da kann man wenig falsch machen.
Über die Berge fahren wir nach Ngakuta Bay. Die Straße windet sich durch Farnwälder, ab und zu sehen wir das Meer von oben. Gegen 17 Uhr erreichen wir unsere Unterkunft für die Nacht. Am Folgetag werden wir mit der Fähre von der Hafenstadt Picton in die Hauptstadt Wellington übersetzen.
Unser Gastgeber Paul begrüßt uns draußen, unter einer Palme, die fast den gesamten Innenhof einnimmt. „Als meine Frau und ich das Grundstück gekauft haben, stand hier nur ein Birnbaum“, sagt er. Das ist allerdings schon 40 Jahre her. Pauls Haare und sein Bart sind mittlerweile grau geworden, seine drei Kinder erwachsen. Weil das Ferienhaus, das der ehemalige Landschaftsgärtner selbst gebaut hat, den größten Teil des Jahres leer stand, haben Paul und seine Frau Jill es 2019 zu einem Airbnb umgewandelt. Sie selbst wohnen gut 350 Kilometer südlich, in Christchurch.
Alex und ich laden unsere Rucksäcke in unserem Zimmer ab, das einst Pauls Tochter Kim gehörte. Es ist klein, aber gemütlich, hat freundliche, hellblaue Wände. Am Tisch unter der Palme unterhalten wir uns mit unserem Gastgeber, bis er von seiner Nachbarin und ihren drei wadenhohen Hunden zum Gassigehen abgeholt wird. Die fünf treffe ich wenig später an der Promenade wieder. Dort ist jetzt am Abend zwar keine Sonne mehr – die Berge, die die Bucht vom Inland abgrenzen, werfen lange Schatten. Ich genieße es dennoch, am Wasser entlangzugehen, dem Plätschern der Wellen zuzuhören. Außer mir und ein paar Einheimischen ist niemand am Strand, in Ngakuta Bay leben nur um die 60 Menschen.
Dafür umso mehr Possums. Die Kletterbeutler, die auf Deutsch Fuchskusu heißen, gelten als Plage in Neuseeland. 1847 wurden die Tiere mit dem dichten, grauen Fell für den Pelzhandel aus Australien eingeführt. Doch anders als in ihrer Heimat hatten sie in Neuseeland keine natürlichen Fressfeinde, konnten sich millionenfach vermehren. 1946 erklärte die Regierung Possums zu Schädlingen, da sie eine Gefahr für einheimische Wälder und Tierarten darstellen. Jedes Jahr gibt Neuseeland 80 Millionen Neuseeland-Dollar (rund 45 Millionen Euro) für ihre Bekämpfung aus.
Paul hat auf seinem Grundstück gleich mehrere Possumfallen aufgestellt. Gelbe Plastikboxen mit einem Loch vorne; innen liegt der Köder. In der Küche schmiert Paul Erdnussbutter auf Nektarinenschnitze. „Guten Appetit“, kommentiere ich. „Oh, die sind nicht für mich!“, antwortet er. „Die lege ich gleich in die Possumfallen draußen.“ Als er merkt, dass mir die Tiere leid tun, bietet er an, die Fallen erst am Tag darauf zu präparieren. „Ist schon gut“, sage ich. „Ändert ja nichts daran, dass die Possums früher oder später sterben.“ Trotzdem bin ich erleichtert, als er mir am folgenden Morgen mitteilt, dass in dieser Nacht kein Possum in die Falle gegangen ist.
Alex und ich verabschieden uns nach dem Frühstück von Paul und fahren ins knapp zwölf Kilometer östlich gelegene Picton. Die Zeit bis zur Abfahrt unserer Fähre nutzen wir für eine Wanderung. Am Victoria-Erholungsgebiet stelle ich fest, dass ich nicht gut recherchiert habe: Zur Spitze der Landzunge schaffen wir es zeitlich nicht. Wir gehen los, obwohl es heiß ist. Bevor wir im Schiff festsitzen, möchte ich mich wenigstens ein bisschen bewegen.
Wir folgen einem Mountainbikeweg. Abermals keine gute Entscheidung. Der Pfad verengt sich bald, das Gestrüpp kratzt an unseren Beinen. Ich gehe vorweg, klettere über Baumwurzeln, schiebe Gräser zur Seite. Plötzlich geht es steil hinunter. An einem Seil hangle ich mich den erdigen Hang hinab. Der Weg endet in einem schmalen Sandstrand, auf dem ein umgefallener Baumstamm liegt. Wir setzen uns, kneifen die Augen zusammen in der Sonne. „Sollen wir schwimmen?“, frage ich. Doch Alex ist nicht von der Wasserqualität überzeugt und allein traue ich mich nicht.
Der Rückweg zum Parkplatz ist anstrengend. Am Auto wechselt Alex sein schweißnasses T-Shirt. Ich schaue einer Fähre nach, die den Meeresarm vor Picton mit Kurs auf Wellington verlässt. In der Innenstadt kaufen wir Brötchen beim Bäcker und setzen uns an die Promenade, bis es an der Zeit ist einzuschiffen. Um 14.05 Uhr legen wir ab. Die Fahrt durch die bis zu 92 Kilometer breite Cookstraße, welche die neuseeländische Südinsel von der Nordinsel trennt, dauert dreieinhalb Stunden.
Unterwegs schlägt das Wetter um. Kaum lassen wir die Südinsel hinter uns, verschwindet die Sonne hinter dichtem Nebel. In Wellington regnet es. Wir fahren direkt nach Karori, einem Stadtteil westlich des Zentrums, eingepfercht zwischen den Bergketten. Wegen seiner vielen Hügel wird Wellington oft mit San Francisco verglichen. Die City selbst liegt im Talkessel, am Port Nicholson. Für neuseeländische Verhältnisse ist die Hauptstadt dicht besiedelt, aufgrund ihrer Geographie leben durchschnittlich mehr als 731 Einwohner auf einem Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Berlin sind es über 4000.
Die Strecke von der Innenstadt nach Karori ist kurvig und eng. Die Häuser kleben an den Hügeln. Im Feierabendverkehr sind viele Radfahrer unterwegs, die Hauptstädter*innen legen Wert auf Umweltschutz. In unserem neuen Heim zeigt uns Ken, der uns eineinhalb Wochen in seinem Haus aufnimmt, nicht nur unser Zimmer, sondern auch, wie er recycelt. Seine Auffahrt ist so steil, dass wir Diggitwo lieber unten an der Straße parken, die Rucksäcke zu seinem Haus schleppen. Außer Atem klingeln wir zuerst beim Nachbarn, der schlecht gelaunt auf das Haus rechts von seinem deutet. Es passiert wohl nicht zum ersten Mal, dass Kens Gäste an der falschen Tür läuten.
Ken ist Anfang 60, sieht aber eher aus wie 50. Er ist sportlich und schlank, ein Mitglied des lokalen Wandervereins, unter anderem. Außer ihm wohnen der Monteur Steve und drei Informatikstudenten im Haus. Naoaki und Tomo kommen aus Japan, Bill ist Laote. Wir lernen die drei in der Auffahrt kennen. Zweimal müssen Alex und ich gehen, um unsere Rucksäcke und Lebensmittel aus dem Auto in Kens Haus zu bringen. Wir tragen die Sachen in unser Zimmer, im ersten Stock des Hauses, und legen uns erst einmal aufs Bett, entspannen. Wir sind auf der Nordinsel Neuseelands angekommen.