Der Parkplatz ist komplett belegt. Jeeps und Kamerastative reihen sich aneinander. Die Autofahrer, die jetzt erst ankommen, fahren schnell nach hinten durch, um noch einen Blick auf Australiens berühmtesten Berg bei Sonnenuntergang zu erhaschen. Im Licht der untergehenden Sonne wechselt der Uluru seine Farbe. Das blasse Karminrot des späten Nachmittags nimmt ein durchdringendes, sattes Erdbraun an – nur, um Minuten später blutorange aufzuleuchten.
348 Meter erhebt sich der Uluru, den die britischen Kolonialisten nach dem achten Premierminister Südaustraliens Henry Ayers „Ayers Rock“ nannten, über die Dünen. Ein gewaltiger Inselberg mitten im Nirgendwo. Obwohl wir bei Weitem nicht die Einzigen sind im Uluru-Kata-Tjuta-Nationalpark an diesem Abend, erliegen auch wir der Magie des Farbenspiels des roten Riesen. Wenige Minuten später, in der Dämmerung, hebt sich der Uluru kakaobraun von einem altrosa getönten Himmel ab.
Es wird bereits dunkel, als wir ins Auto steigen und zum Campingplatz zurückfahren. Erst einen Tag zuvor sind wir im Touristendorf Yulara angekommen – dem einzigen Ort in der Nähe des Uluru, in dem Besucher übernachten können.
In Alice Springs, der Stadt im Zentrum Australiens, haben wir die vorhergehenden Tage verbracht. Nach einem kostenlosen Pfannkuchen-Frühstück verlassen wir den teuren Holiday Park, in dem wir übernachtet haben, und ziehen auf einen günstigeren Campingplatz ein paar hundert Meter weiter.
Alice Springs überrascht uns. Wegen der Warnungen des Auswärtigen Amts hatte ich mir die drittgrößte Stadt des Northern Territory – etwa 29.000 Menschen leben in Alice – als übles Pflaster vorgestellt. Mit gefährlichen Ecken, die man meiden sollte. Tatsächlich sehen wir viel Armut. Auf dem Weg zum Supermarkt greift ein Mann vor uns in den Mülleimer und nimmt eine fast ausgerauchte Zigarette heraus. Obwohl es kalt ist, trägt er keine Schuhe, nur zerlumpte Kleidung. Sein Anblick versetzt mir einen Stich.
Er ist nicht der Einzige in Alice Springs, der wenig Glück im Leben hatte. Auf den Straßen, in Parks und an Hausmauern gelehnt sitzen Obdachlose, die meisten von ihnen australische Ureinwohner. Dennoch erscheint uns das „Herz Australiens“, wie Alice oft genannt wird, freundlich. Eine nette Kleinstadt in der Wüste. Vielleicht ist die Wintersonne schuld daran, die so hell scheint, dass wir trotz der Kälte Sonnenbrillen tragen.
Wir besuchen den Anzac Hill, einen Hügel mit Blick über die Stadt, der mit einem Obelisk, einer australischen Flagge und einer des Northern Territory an den Einsatz des Australian and New Zealand Army Corps (ANZAC) im ersten Weltkrieg erinnert. Auf dem Friedhof schauen wir uns die weißen Grabsteine der Soldaten und die letzte Ruhestätte Albert Namatjiras an. Der Aquarell-Künstler vom Stamm der Arrernte ist der wohl bekannteste australische Maler indigener Herkunft. Seine erste Ausstellung hatte der 1902 geborene Namatjira mit 36 Jahren in Melbourne. 1953 zeichnete ihn Königin Elisabeth II. mit einer Medaille aus, ein Jahr später traf sie ihn in Australiens Hauptstadt Canberra.
Namatjira malte vor allem die Natur, die ihn umgab: rote Berge, Spiegelseen, Eukalyptusbäume mit weißen Stämmen. Einige seiner Bilder sind im Museum Zentralaustraliens ausgestellt, das wir nach unserem Ausflug auf den Friedhof besuchen.
Außerdem nehmen wir an einer Führung durch die School of the Air teil, die erste Fernschule Australiens. Seit 1951 werden Kinder, die im Outback leben, von Lehrerinnen und Lehrern in Alice Sprice unterrichtet. Die Idee dazu hatte Adelaide Miethke, eine ehemalige Lehrerin aus Südaustralien mit deutschen Vorfahren. Sie wollte es Kindern im Landesinneren ermöglichen, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen.
Anfangs wurden die Unterrichtsstunden über das Radio abgehalten. Die Schülerinnen und Schüler der School of the Air teilten sich eine Funkverbindung mit den Flying Doctors, einer Gruppe von Ärzten, die bis heute mit dem Flugzeug zu ihren Patienten ins Outback reisen. Bei einem Notfall fiel der Unterricht einfach aus. Heute wird er übers Internet abgehalten. Ungefähr drei Fächer haben die Kinder täglich, den Rest der Zeit lernen sie mit ihren Eltern, einem Tutor oder einer Tutorin am Schreibtisch.
Die meisten Schüler wohnen hunderte Kilometer von der nächsten regulären Schule entfernt auf Schaf- und Rinderfarmen. Heutzutage besuchen aber auch viele Kinder mit psychischen Problemen oder Mobbing-Erfahrung eine School of the Air. 16 dieser Fernschulen verteilen sich auf dem Kontinent. Eine von ihnen haben wir bereits in Katherine besucht.
Dort schauen wir der Lehrerin Monica Henry beim Englischunterricht zu. Sie sitzt allein in einem Raum an ihrem Laptop, ihre Schülerinnen und Schüler sind über einen Chat zugeschaltet. An ihrem Schreibtisch sind zwei Kameras angebracht. Eine ist auf ihren Laptop, die andere auf ihr Gesicht gerichtet. So kann die Lehrerin bequem zwischen den Perspektiven wechseln, ohne die Kameras zu bewegen. Auf die grüne Wand hinter ihr kann Henry zudem Bilder und Tabellen projizieren. „Das Unterrichtsmaterial bekommen die Kinder oft per Post zugeschickt“, erklärt Madi Budarick, die uns durch das Schulgebäude führt. „Früher hat das mehrere Wochen gedauert, heute geht es zum Glück schneller.“
Am Tag darauf fahren wir zum Uluru. Auf den rund 450 Kilometern dorthin gibt es nicht viel zu sehen bis auf die scheinbar unendlichen Weiten des Outbacks. Rote Erde, kniehohe Büsche, die bis zum Horizont wachsen und wahrscheinlich noch viel weiter. Das Outback, das unbesiedelte Gebiet Australiens, nimmt fast Dreiviertel des Kontinents ein. Es umfasst aber nicht nur wüstenähnliche Zonen: Im Bundesstaat Queensland etwa gelten vor allem unzugängliche Regenwälder als Outback.
Auch auf unserer Strecke ändert sich die Aussicht ständig und fast unmerklich. Von flachen Ebenen fahren wir auf strichgeraden Straßen vorbei an Hügeln und Bergen – der Uluru ist nicht die einzige Erhebung im Outback. Auf dem Weg zum Uluru-Kata-Tjuta-Nationalpark verwechseln ihn viele Reisende mit dem Mount Conner. Der circa 700 Millionen Jahre alte Tafelberg liegt allerdings noch gut 100 Kilometer östlich des Uluru.
Weil es in ein paar Monaten nicht mehr möglich sein wird, den für das Anangu-Volk heiligen Berg zu besteigen, befinden sich bei unserer Ankunft besonders viele Touristen in Yulara. Der Campingplatz neben dem Nationalpark ist so gut wie voll. Das Einchecken dauert. Vor der Rezeption hat sich eine lange Schlange gebildet, die vier Mädchen vor mir essen Chips, um sich die Zeit zu vertreiben. Als ich endlich an der Reihe bin, ändert die Rezeptionistin als Erstes unsere Buchung: Weil Alex und ich kein Zelt haben, sondern in unserem Auto übernachten, müssen wir auf einen Bereich hinter dem Campingplatz ausweichen, auf dem Wohnmobile und Campervans eng nebeneinander stehen. Was soll’s. Wir halten sowieso zuerst vor einer der Campingküchen und kochen Nudeln.
Die Nacht ist kalt, der Morgen kälter. Es kostet mich Überwindung, aus dem Schlafsack herauszukriechen. Die Dusche ist die bisher frostigste der Reise. Weil wir so spät aufgestanden sind, ist das warme Wasser weg. Verbraucht von den Frühaufstehern. An meinem Geburtstag. Dafür essen wir Red Velvet Cake zum Frühstück, bevor wir in den Nationalpark fahren.
Auf dem Valley-of-the-Winds-Walk wandern wir durch die Kata Tjuta oder Olgas, eine Gruppe von 36 Bergen, die so runde Kuppen haben, als hätte sie ein Kind gezeichnet. Für den 7,4 Kilometer langen Rundweg brauchen wir nur zweieinhalb statt der angegebenen vier Stunden . Unterwegs legen wir eine Mittagspause ein, vespern auf dem Boden sitzend mit Blick auf die roten Bergkegel.
Ich ziehe meinen Pulli aus, die Wetterverhältnisse ändern sich ständig. Während es in der Sonne, in den windstillen Bereichen, so warm ist, dass wir nur einen Pulli brauchen, ziehe ich im Schatten nicht nur meine Windjacke, sondern auch eine Wollmütze an.
Bis zum Sonnenuntergang ist noch Zeit. Deshalb starten wir zur zweiten Wanderung am Fuß der Kata Tjuta. Etwas mehr als einen Kilometer führt der Weg in die Walpa-Schlucht hinein. Früher gab es einmal zwölf Wanderwege in der Gegend. Doch seit immer mehr Menschen den Uluru besuchen, halten die Anangu ihre Rituale vor allem an den Kata Tjuta ab. Schon seit 10.000 Jahren leben die australischen Ureinwohner in der Region. Das Eigentum an dem Land wurde ihnen von der Regierung aber erst 1985 übertragen.
Wir steigen ins Auto, bis zur „Uluru Car Sunset Viewing Area“ sind es fast 50 Kilometer. Obwohl wir unterwegs noch einmal halten, um die Kata Tjuta und den Uluru aus der Ferne zu fotografieren, erwischen wir auf dem Parkplatz noch einen Platz ganz vorne. Wir müssen nicht lange warten, bis die Show beginnt. Im Licht der untergehenden Sonne wechselt der Uluru seine Farbe. Das blasse Karminrot des späten Nachmittags nimmt ein durchdringendes, sattes Erdbraun an.