Angst? Die kennt Ogi nicht. Ohne lange darüber nachzudenken, manövriert er seinen silbernen Hyundai Verna durch Bäche, deren Wasser bis zum Türrahmen reicht. Er umfährt Schlaglöcher und beschleunigt vor Anstiegen, die so steil sind, dass wir dahinter nur die Wolken sehen. Ogi schafft jede Strecke. Er fährt erst rückwärts, wenn sein Auto aufsetzt. Doch dieser schiefen, alten Holzbrücke mitten im Nirgendwo, der vertraut er nicht. Wir sollen aussteigen, gibt er uns zu verstehen, „it’s dangerous.“
Drei Tage lang sind wir mit Ogi in der Zentralmongolei unterwegs. Wir besuchen die Sanddüne Elsen Tasarkhai, den Wasserfall Ulaan Tsutgalan und das Bergkloster Tuvkhen. Wir schlafen in Jurten, waten barfuß durch einen Bach, kochen auf dem Gaskocher und unterhalten uns mit Nomaden. Die meiste Zeit aber verbringen wir im Auto. Ogi fährt über Erdpisten, auf denen man in Deutschland höchstens reiten würde und auf denen kein Schild den Weg weist. Mit 70, 80 Stundenkilometer rattern wir über die rotbraune Erde, im Radio wechseln sich mongolische Folklore und 80er-Jahre-Musik ab: „Voyage Voyage“, „La Isla Bonita“, „Cheri Cheri Lady“.
Unsere Tour beginnt an einem Nachmittag in Kharkhorin, rund 320 Kilometer westlich der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator. Gaya, in deren Guesthouse wir uns für ein paar Tage einquartiert haben, hat die Route erstellt, Ogi und uns zusammengebracht. Der Himmel ist grau, als wir unsere kleinen Rucksäcke auf die Rücksitze seines Autos legen. Die großen bleiben in einem Schrank in Gayas Büro, bis wir zurück sind.
Ogi startet den Motor. Er hat schwarze Haare, braune Augen und ein freundliches Gesicht. Er trägt ein grünes Militär-T-Shirt und eine blaue Trainingshose. Sein Auto ist mit grünem Kunstfell ausgepolstert, auf dem Rücksitz liegt ein Teppich. Ogi spricht kein Englisch, wir kennen nur eine Handvoll mongolische Wörter, aber irgendwie klappt es mit der Verständigung auch so. Als Erstes fahren wir ins Zentrum Kharkhorins, zu einem kleinen Laden. Dort kaufen wir Wasser, Nudeln, Kohl, Kartoffeln, Karotten, Äpfel, Kekse, Brot und eingelegtes Gemüse. Während der Tour müssen wir uns selbst versorgen. Ein Campingkocher, Plastikgeschirr und ein paar Lappen sind bereits im Kofferraum. Es kann losgehen.
Ogi biegt auf die Hauptstraße ab. Bis zur Sanddüne Elsen Tasarkhai ist es nicht weit, nur eine Stunde fahren wir auf einer asphaltierten Straße. Die rund 80 Kilometer lange und fünf Kilometer breite Dünenlandschaft mit ihrem goldenen Sand und den geduckten Bäumen wird auch „Mini-Gobi“ genannt. An ihren Ausläufern nahe der Hauptstraße passieren wir Touristen, Jeeps, russische Kleintransporter und Kamele. Ogi lässt uns ein Stück weiter hinten aussteigen, wo wir alleine sind. Er selbst fährt weiter, zu den Jurten der Nomadenfamilie, bei der wir die Nacht verbringen werden.
Bevor wir die erste Düne erklimmen, setzen wir uns ins Gras, essen Brot und eingelegtes Gemüse. Kaum haben wir aufgegessen, fängt es an zu regnen. Wir steigen trotzdem die Sandhügel hinauf. Kurz darauf sehen wir Ogi wieder: Er ist zurückgefahren, um uns abzuholen. Wir vergewissern ihm, dass der Regen uns nichts ausmacht, dass wir gerne zu Fuß gehen. Wir haben noch nicht genug von der Stille und der Weite. Außerdem freuen wir uns auf den Spaziergang.
An Kühen, Schafen und Pferden vorbei wandern wir etwa eine Stunde später zu unserem Nachtlager. Neben dem Rundzelt von Anjou, ihrem Mann Sandeijou und der kleinen Tochter Andrhou (deren Namen wahrscheinlich ganz anders geschrieben werden) dürfen wir zu zweit in einer Jurte schlafen. Ogi bekommt ein eigenes Ger. Er hilft den dreien beim Zusammenkehren von Ziegendreck, als wir ankommen. Noch bevor wir uns vorstellen können, stürmt ein großer, schwarzer Hund mit hellbraunen Flecken über den Augen auf uns zu. Chutr ist erst zufrieden, wenn man ihn streichelt. Sobald ich damit aufhöre, zwickt er mich in die Oberschenkel, einmal sogar in den Po.
Vor dem Abendessen spazieren wir zu einer Felsgruppe nahe der Jurten. Chutr begleitet uns, möchte während des Spaziergangs zum Glück aber nicht gestreichelt werden. Beim Zähneputzen in der Dunkelheit wechseln Alex und ich uns ab beim Streicheln. So haben wir beide kurz unsere Ruhe.
Das Wasser, mit dem wir die Zahnbürsten säubern, schöpfen wir mit einer grünen Plastikkelle aus einem großen Wassertank. Obwohl vor den meisten Jurten inzwischen Solarpaneele, Jeeps und Satellitenschüsseln stehen, ist das Nomadenleben auch heute noch sehr einfach. Die Toilette zum Beispiel ist häufig ein Bretterverschlag mit einem Loch im Boden. Manchmal mit einer Tür, andere Male nur mit einer schönen Aussicht. Dass sich mehrere Menschen ein Zelt teilen, ist die Regel, nicht die Ausnahme. Was Privatsphäre ist, wird in der Mongolei anders definiert als in Deutschland.
Nach einer ruhigen Nacht und einer Tasse heißer Milch mit etwas Wasser verabschieden wir uns am nächsten Morgen gegen halb neun von Anjou, Sandeijou und Andrhou. Die Fahrt zum Wasserfall Ulaan Tsutgalan dauert ungefähr fünf Stunden. Kurz vor Kharkhorin biegen wir ab, verlassen die asphaltierte Straße. Durch Bäche, auf Erdpfaden und Wiesen voll spitzer Steine fährt Ogi durch den Khangai-Nuruu-Nationalpark, durch das mongolische Hinterland. Die Wege, auf denen wir uns bewegen, sind nicht einmal in unserer Offline-Karte eingezeichnet.
Spätestens jetzt wird uns klar, warum geführte Touren für Mongolei-Besucher quasi die einzige Möglichkeit sind, mehr vom Land zu sehen als Ulan Bator, Kharkhorin und den Gorchi-Tereldsch-Nationalpark, zu dem aus der Hauptstadt ein Bus fährt. Die Infrastruktur ist dürftig, bis vor einigen Jahren gab es nicht einmal regelmäßige Busverbindungen zwischen den meisten Städten und Dörfern. Das hat sich geändert, doch um wirklich etwas von der Mongolei zu sehen, muss man die Hauptstraßen verlassen. Dies kann allerdings nur wer, sich zutraut, selbst mit dem Auto oder dem Motorrad über unbeschilderte Erdwege zu fahren, im Zelt oder unter den Sternen zu übernachten. Alle anderen sind auf das Können und Wissen der mongolischen Fahrer und Fremdenführer angewiesen.
Nach dreieinhalb Monaten unterwegs fällt es uns ein bisschen schwer, die Verantwortung abzugeben. Gleichzeitig genießen wir es, uns einmal keine Gedanken darüber machen zu müssen, wie wir den nächsten Tag gestalten, wo wir übernachten werden. Ogi bestimmt, wo es hingeht. Und wann wir dorthin aufbrechen.
Stunde um Stunde rumpeln wir über die Steppe. Wir fahren vorbei an Yaks und Kühen, an Plastikmüll und an einem russischen Kleintransporter, der in einem knietiefen Bach feststeckt. Alex und ich wundern uns mindestens genauso sehr wie die umherstehenden Touristen, dass Ogi es mit seinem kleinen Hyundai problemlos auf die gegenüberliegende Seite schafft.
Unser Fahrer bremst nur ab, wenn Ziegen, Schafe, Pferde, Kühe oder Yaks unseren Weg kreuzen. Dann rollt er langsam durch die Herde und hupt, wenn ein Tier zu nahe kommt. Grashüpfer springen laut surrend an den Autofenstern vorbei, ab und zu überholen uns Motorradfahrer, deren Kleidung und Haar im Fahrtwind flattert.
Gegen 14 Uhr kommen wir an. Ogi parkt neben ein paar Jurten. Er kommt nicht mit zum Wasserfall, will lieber in Ruhe zu Mittag essen. Zu zweit spazieren wir die letzten paar hundert Meter über die mit Edelweiß bestandenen Wiesen. Ob sich die fünfstündige Anfahrt gelohnt hat? Der Wasserfall Ulaan Tsutgalan soll vor 20.000 Jahren infolge von Erdbeben und vulkanischen Erdbeben entstanden sein. Aus dem Fluss Orkhon stürzen zu dieser Jahreszeit sogar zwei Wasserfälle in die Tiefe. Rund 25 Meter fallen die Wassermassen in ein natürliches Bassin. Ein schöner Anblick, den wir uns jedoch mit vielen anderen Touristen teilen. Ein Geheimtipp ist der Ulaan Tsutgalan trotz der beschwerlichen Anfahrt nicht.
Gegen 16 Uhr fahren wir weiter. Zweieinhalb Stunden rumpeln wir noch einmal über steinige Trampelpfade, Hügel und Weiden. Kurz bevor die Sonne untergeht, kommen wir in unserem Jurtenlager an. In der Dämmerung kochen wir Nudeln, Kartoffeln und Karotten. Ogi will nichts von unserem vegetarischen Essen. Er isst lieber mit der Nomadenfamilie, bei der wir übernachten. Die meisten Mongolen ernähren sich vor allem von Fleisch, Brot und Milchprodukten. Obst und Gemüse stehen nur selten auf dem Speiseplan, da sie auf den kargen Böden schwerlich wachsen. Weniger als ein Prozent des Landes wird deshalb für den Ackerbau genutzt. Die Nomaden konzentrieren sich lieber auf die einträglichere Viehzucht.
In der herannahenden Dunkelheit treiben ein paar Jungen auf Pferden die Kühe und Yaks in die Nähe ihrer Zelte. Nachdem sie ihren Ponys die Sättel abgenommen haben, setzen sie sich zu uns. Auf dem Smartphone zeige ich ihnen, wo wir herkommen. „Ah, Europe!“, sagt einer der Jungen, als ich auf die Karte deute. Deutschland kennen sie nicht.
In der Nacht werden wir von einem lauten Schnauben geweckt. Eine Herde Yaks grast direkt neben unserer Jurte. Einige der Tiere schnuppern an der Zeltwand, saugen unseren Geruch ein. Wie versteinert liegen wir in unseren Betten, bis die Herde weiterzieht.
Am Morgen darauf reiten wir zum Kloster Tuvkhen. Alex sitzt zum ersten Mal auf einem Pferd. Unser Führer Aftengered, einer der Jungen vom Vorabend, zieht Alex‘ Pony Hafzn an einer langen Leine den Berg hinauf. Ungefähr eine Stunde dauert der Aufstieg durch den Wald, über Erdhaufen und Baumwurzeln. Es riecht nach nasser Erde und nach Nadelbäumen. Während ich mich darüber freue, seit Langem einmal wieder auf dem Pferderücken zu sitzen, sieht Alex eher unglücklich aus, als Hafzn plötzlich lostrabt und ihn durchschüttelt.
Oben angekommen, bindet Aftengered die drei Pferde fest. Er selbst legt sich auf seinen Regenmantel ins Gras, versucht zu schlafen. Zu zweit steigen wir die Steinstufen zum Kloster hinauf. Auf 1617 Metern Höhe erwartet uns ein beeindruckender 360-Grad-Blick auf die Nadelwälder und den Nebel. „Fast wie im Schwarzwald“, sagt Alex.
Hinter den bunten Klostergebäuden führt der Weg nach oben. Der Owoo, ein kultischer Steinhaufen mit bunten Gebetsfahnen, befindet sich auf dem Gipfel. Über die Felsen hangeln wir uns an einem Seil hinauf. Die kurze Kletterpartie ist gefährlicher als erwartet. Als ich auf etwa zwei Metern Höhe an der Bergwand stehe, muss ich gegen die aufsteigende Panik kämpfen. Alex reicht mir die Hand. Ein halber Meter noch, dann bin ich oben.
Nur, um vor dem letzten Wegstück zum Owoo zwei Holzschilder zu sehen: Frauen und Alkohol verboten. „Na danke“, denke ich. „In dem Fall hätte ich auch unten bleiben können.“ Alex ist empörter als ich über die diskriminierenden Regeln der buddhistischen Mönche. „Du kommst auf jeden Fall mit rüber“, sagt er. Bevor wir eine Entscheidung treffen, kommt uns eine mongolische Familie entgegen. Ich frage die Mutter, ob Frauen tatsächlich nicht zum Owoo gehen dürfen. „No. Women can never go there. Never.“ Damit ist das Thema für mich erledigt.
Alex geht allein zum Owoo. Er knipst ein paar Fotos von dem Steinhaufen und der Aussicht. Anschließend klettern wir auf der gegenüberliegenden Seite nach unten. Aftengered bindet die Pferde los, als er uns sieht. Auf demselben Weg, den wir hinaufgekommen sind, reiten wir den Berg hinab. Ogi erwartet uns bereits. In seinem Auto fahren wir zurück zu dem Jurtenlager, in dem wir übernachtet haben. Ogi isst mit der Familie zu Mittag, es gibt Nudelsuppe mit jeder Menge Hammelfleisch. Wir essen Brot mit eingelegtem Gemüse.
Gegen Mittag verabschieden wir uns von unseren Gastgebern. Ogi schickt uns zu Fuß den Hügel hinauf, den wir überwinden müssen, um zurück nach Kharkhorin zu kommen. Als er den steilen Berg hinauffährt, ist sein Gesicht so angespannt wie das eines Formel-1-Fahrers in der Endrunde. Wir fühlen uns ein bisschen schlecht wegen der Strapazen, die wir Ogi und seinem Auto zumuten. Bis wir erfahren, dass er am nächsten Tag alleine zurück in das Tal fahren wird, das wir gerade verlassen haben. Er hat von Aftengered den Auftrag bekommen, ihm ein Handy und Zigaretten zu besorgen. Dieser Ogi.