Sie kommt aus Mariupol. Sie hat Panzer durch die Stadt fahren sehen, hat miterlebt, wie geschossen wurde, wie Menschen in ihren Häusern verbrannten. Ihre drei Töchter und die vier Enkel – zwei Jungen und zwei Mädchen – habe ihr Mann nach Kiew, in Sicherheit, gebracht, als die Russen nach Mariupol gekommen seien, sagt Ludmila. „Ich selbst bin zu alt, um meine Heimat zu verlassen.“
Als wir in Omsk in den Zug steigen, sitzt Ludmila schon in unserem Abteil. Sie ist braun gebrannt, stark geschminkt, trägt weiße Hotpants und ein rosa Strick-Top mit tiefem Ausschnitt. Sie ist auf dem Weg zu ihrem Bruder in Nowosibirsk, den sie seit 23 Jahren nicht gesehen hat. Die beiden haben den Kontakt verloren, als er der Ukraine 1995 den Rücken kehrte. Vor wenigen Wochen erst hat seine Frau Ludmila in einem sozialen Netzwerk im Internet gefunden und sie nach Russland eingeladen.
Am Bahnsteig von Nowosibirsk schaut Ludmila sich jedoch erst einmal vergeblich nach ihrem Bruder um. Sie hat ihm die falsche Ankunftszeit genannt. Die Züge in Russland richten sich nach der Moskauer Zeit, die Ortszeit spielt an Bord der Transsibirischen Eisenbahn keine Rolle. Ein Anruf und 20 Minuten später schließen sich die beiden endlich in die Arme. Ein kurzer, blonder Schopf schmiegt sich an schwarze, lange Haare. Ludmila winkt uns zum Abschied zu. Wir fahren noch zwölf Stunden weiter.
Fünfmal sind wir in den Zügen der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs. Fünfmal lernen wir, zumindest oberflächlich, neue Mitfahrer kennen, die, so wie wir, gen Osten reisen. Auf dem Weg von Moskau nach Irkutsk verweilen wir je ein paar Tage in Jekaterinburg, Omsk und Krasnojarsk. Anschließend fahren wir auf dem transmongolischen Streckenabschnitt in die Hauptstadt der Mongolei, nach Ulan Bator. 101 Stunden und 22 Minuten verbringen wir insgesamt auf Schienen: fast fünf volle Tage. Innerhalb eines Monats legen wir mehr als 6000 Kilometer zurück, durchqueren fünf Zeitzonen.
Ursprünglich gebaut, um schnellere Truppenbewegungen zu ermöglichen und neue Handelsrouten zu erschließen, ist die 9288,2 Kilometer lange Eisenbahnstrecke heute die Hauptverkehrsachse Russlands. 1891 verkündete Zar Alexander III den Baubeginn der Trasse, 25 Jahre später wurde der letzte Streckenabschnitt bei Chabarowsk vervollständigt.
Unsere transsibirische Reise beginnt am 5. Juli am Kasaner Bahnhof in Moskau. Bevor wir zum Gleis dürfen, müssen wir unsere Rucksäcke auf ein Fließband legen; das Gepäck wird wie am Flughafen durchleuchtet. Vor der Tür unseres Waggons nimmt eine Zugbegleiterin unsere Fahrkarten entgegen und kontrolliert die Reisepässe. Trotz ihrer strengen Uniform sieht sie nicht älter aus als 16.
Die schweren Rucksäcke zerren an den Schultern, als wir in den Zug einsteigen. Wir haben uns eingedeckt mit Wasser, Brot, Äpfeln, Pfirsichen, Keksen, Schokoriegeln und Piroschki – mit Kraut oder Kartoffeln gefüllte Teigtaschen, die an Fahrttagen von nun an unser Grundnahrungsmittel bilden. Wir wissen zwar, dass es einen Speisewagen gibt, dass der Zug seine Fahrt immer wieder für 20, 30, 40 Minuten unterbricht, dass man auf den Bahngleisen, in kleinen Kiosken, Instant-Nudelsuppen, Wasser und Eiscreme für wenig Geld bekommt. Und dass alte Frauen dort Erdbeeren, selbst zubereitete Mahlzeiten und getrockneten Fisch verkaufen. Aber uns ist es lieber, unabhängig zu sein und von Anfang genug Essen dabei zu haben.
Unsere Mitreisenden an diesem Tag sehen das offenbar ähnlich. Michail liegt auf der Pritsche links oben, als wir das Abteil betreten, und wischt über das Display seines Handys. Abends wird er kleine Salami-Würste und Wodka aus seinem Rucksack holen und mit einem ehemaligen Armee-Genossen, der zufällig im selben Zug fährt, auf die alte Zeit anstoßen. Auf der Liege unter ihm haben sich der kleine Igor und seine Babuschka ausgebreitet. Spielzeug und Lebensmittel liegen zwischen ihnen und auf dem Tischchen vor dem Fenster. Es gibt Frikadellen und Fruchtsaft aus dem Tetrapak.
Wir verstauen als Erstes die großen Rucksäcke unter der Sitzfläche auf der rechten Seite. Dann stellen wir uns unseren Mitfahrern vor. Etwas irritiert nennen auch sie uns ihre Namen. In Russland scheint es nicht üblich zu sein, sich mit den Leuten zu unterhalten, mit denen man die Nacht im Zug verbringt. Zumindest nicht in der zweiten Klasse. In der dritten Klasse, wo bis zu 54 Menschen im offenen Schlafwagen ohne Klimaanlage nächtigen, sollen vor allem die Russen den Kontakt zu Ausländern suchen, wie wir später von anderen Reisenden erfahren, die mit ihren Sitznachbarn Essen getauscht und stundenlang das Kartenspiel Durak gespielt haben.
Um Punkt 13.18 Uhr setzt sich der Zug schnaufend in Bewegung. Kurz darauf kommt die junge Zugbegleiterin und verteilt Plastikbeutel, in denen Bettbezüge und ein kleines Handtuch sind. 26 Stunden und 40 Minuten bis Jekaterinburg. Alex holt den iPod aus seinem Rucksack, sieht zu, wie wir langsam an der Großstadt hinter den gardinenbehangenen Fenstern vorbeiziehen. Der Zug fährt nie schneller als 70 Stundenkilometer.
Als wir das letzte Haus Moskaus hinter uns gelassen haben, sind da nur noch Birken- und Nadelwälder, Nadel- und Birkenwälder. Monotonie, selten unterbrochen von Sümpfen, Blumenwiesen und kleinen Holzhäusern – Datschen mit eingezäunten Gärten, in denen Zucchini, Kopfsalat und Tomaten wachsen. Erst während unserer vierten Bahnreise, der von Krasnojarsk nach Irkutsk, ändert sich die Landschaft allmählich, wird hügeliger, reizvoller. Die letzte unserer fünf Fahrten, vom Baikalsee nach Ulan Bator, ist für uns landschaftlich am schönsten.
Die Tage im Zug gleichen einander. Einmal täglich erscheinen zwei Zugbegleiter im Abteil, saugen Staub oder fegen mit einem kurzen Besen den Teppich auf dem Fußboden. Während Alex stundenlang Musik hört, lese ich, höre Podcasts und Hörbücher, schreibe Tagebuch, ordne Fotos, schaue Serien oder spiele Mariocart auf der Nintendo Switch.
Ab und zu vertreten wir uns im Flur die Beine. Vor dem Reiseplan, auf dem alle Zwischenhalte mit den genauen Ankunfts- und Abfahrtszeiten eingetragen sind, steht fast immer jemand. Wann ist Zeit für die nächste Zigarette? Wie lange kann man am Gleis entlang spazieren, bis der Zug – ohne dass dies eine Lautsprecheransage oder ein lautes Pfeifen ankündigt – weiterfährt? Auch vor dem Samowar, dem großen, beigefarbenen Wasserkocher vorne im Waggon, bildet sich häufig eine Schlange.
Unser Sitznachbar Michail trinkt Schwarztee im Zweistundentakt. Ich unterhalte mich kurz mit ihm, erfahre neben seinem Herkunftsort das Ziel seiner Reise. Für ein längeres Gespräch reichen meine Russischkenntnisse leider nicht. Michails Englischkenntnisse sind quasi nicht vorhanden. Überhaupt sprechen nur wenige der Russen, die wir treffen, Englisch. Die Sprachbarriere überwindet Alex mit den russischen Sätzen und Wörtern seiner Kindheit. Ich kann den Unterhaltungen dank der Übungen meiner Lern-App und zwei VHS-Kursen einigermaßen folgen, hin und wieder sogar eine Frage stellen.
Um kurz vor Mitternacht putzen wir in einem der beiden engen Toilettenräume die Zähne. Das gleichmäßige Tack-tack, Tack-tack, Tack-tack der Bahnräder im Ohr, fallen wir auf unseren Pritschen in einen unruhigen Schlaf. Wir müssen uns erst daran gewöhnen, in einem ratternd-ruckelnden Waggon zu ruhen. Um 2.07 Uhr werden wir aufgeweckt von neuen Passagieren. Im Abteil neben uns verstauen sie lärmend ihr Gepäck, eine halbe Stunde lang reden sie noch lauthals miteinander. Von einer Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn, der längsten Eisenbahnstrecke der Welt, träume ich zwar schon seit gut zehn Jahren. In dieser ersten Nacht im Zug sehne ich mich aber nur nach echten Träumen.
Morgens werden wir vom Frikadellen-Duft geweckt. Die Babuschka auf der Liege links unten frühstückt. Es ist kurz nach 7 Uhr, bis Jekaterinburg sind es noch fast elf Stunden. Vor dem Fenster rauschen Birken- und Nadelwälder vorbei, Nadel- und Birkenwälder. Wir vertreiben uns die Fahrt mit iPod, Podcasts-Hörbücher-Tagebuch-Fotos-Serien-Nintendo-Switch. 20 Minuten vor der Ankunft in Jekaterinburg erscheint die Zugbegleiterin, gibt uns unsere Fahrkarten zurück und nimmt die Bettlaken mit. 1769 Kilometer haben wir geschafft, mehr als 4000 liegen noch vor uns.
Habe die Reise von Moskau über Ulan Bataar – Beijing nach Lhasa im Jahre 2007 gemacht und bin dankbar über die lebendige Schreibweise. So manches ist mir dabei wieder eingefallen.
Macht weiter so. Danke
Wie schön, lieber Paul – deine Reise nach Lhasa war sicher ein beeindruckendes Erlebnis! So weit haben wir es dieses Mal leider nicht geschafft. Vielleicht irgendwann einmal, nach Corona, wer weiß…? Vielen Dank auch für dein „weiter so“! Darüber freuen wir uns sehr 🙂