Peking begrüßt uns mit 32 Grad und Smogalarm. Über der Stadt hängt eine graue Dunstglocke, in der Wohnung läuft die Klimaanlage. An unserem ersten Tag in China schaffen wir es gerade einmal zum Supermarkt gegenüber. Wir haben zwar bis um 10 Uhr geschlafen, doch die 30-stündige Anreise aus der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator steckt uns noch in den Knochen.
Tags darauf versuchen wir als Erstes, uns zu registrieren. Laut den chinesischen Einwanderungsbehörden muss sich jeder Ausländer spätestens 24 Stunden nach seiner Ankunft im Land bei einer Polizeistation anmelden. In den meisten Fällen übernimmt das Hotel, in dem man übernachtet, die lästige Pflicht, doch wir übernachten bei Alex‘ Freund Marian und müssen uns selbst um die Registrierung kümmern.
Auf der Suche nach einem Copyshop fahren wir zum ersten Mal mit der U-Bahn durch Peking. Nach den vergangenen vier Wochen in der einsamen Mongolei sind wir ein bisschen überfordert von den Menschenmassen Chinas. Mit rund 1,4 Milliarden Einwohnern ist China das bevölkerungsreichste Land der Erde. An der Gepäckkontrolle hinter dem Eingang zur U-Bahn drängen sich die Pendler. Vor den gläsernen Schiebetüren an den Gleisen wachen Angestellte in Uniform darüber, dass jede und jeder ordnungsgemäß einsteigt. Wohl auch wegen solcher Jobs, die nicht zwingend notwendig sind, liegt die offizielle Arbeitslosenquote Chinas bei nur vier Prozent. In der Bahn stehen die Fahrgäste sodann eng beieinander. Wie in Deutschland starren die meisten auf ihr Smartphone.
Zurück an der Erdoberfläche folgen wir etwa einen Kilometer lang den Anweisungen unserer Offline-Karte. Doch der Copyshop, zu dem sie uns führt, existiert nicht. Wir haben Glück: An der Rezeption einer kleinen Firma dürfen wir unsere Papiere für die Registrierung ausdrucken. Die jungen Angestellten wollen nicht einmal Geld dafür haben.
An der Polizeistation erwartet uns die nächste Herausforderung: Wie die meisten Chinesen sprechen auch die Polizisten dort kein Englisch. Außerdem haben sie keine Ahnung, was wir von ihnen wollen. Nicht einmal dann, als wir ihnen das Formular für die Registrierung zeigen.
Sie schicken uns zu einem kleinen Büro neben der Polizeistation, „gemeinnützige Arbeit“ steht darüber. Die beiden jungen Damen, die hier arbeiten, wissen allerdings auch nicht weiter. Dafür rufen sie jemanden an, der Englisch spricht. Die Frau am Telefon erklärt uns, dass uns die Besitzer unseres Wohnkomplexes anmelden sollen. Als wir ihr sagen, dass das nicht möglich ist, weil wir nur eine Woche in der Wohnung eines Freundes verbringen, rät sie uns dazu, einfach eine Nacht im Hotel zu schlafen. Frustriert verlassen wir die Polizeistation. Wir beschließen, das Risiko einzugehen, uns in Peking nicht zu registrieren. In ein paar Tagen, wenn wir weiterziehen, werden wir sowieso in einem Hotel übernachten.
Um wenigstens den Nachmittag sinnvoll zu nutzen, fahren wir weiter zum Neuen Sommerpalast, 15 Kilometer nordwestlich vom Zentrum Pekings. Während der Fahrt spricht uns der Vater der 12-jährigen Elena aus Guilin an: „Darf sie fünf Minuten lang Englisch mit euch reden?“ Selbstverständlich darf sie. Wir sind die einzigen Ausländer in der Bahn, und auch sonst treffen wir in Peking überraschend selten auf Menschen, die nicht aus Asien stammen. Dafür kommen immer wieder Chinesen auf uns zu, die Englisch sprechen oder Fotos mit uns aufnehmen möchten.
Am U-Bahn-Ausgang verabschieden wir uns von Elena und ihrer Familie. Bis zum Neuen Sommerpalast sind es nur wenige hundert Meter. Der Park gilt als einer der am besten erhaltenen chinesischen Gärten, seit 1998 gehört die Anlage zum UNESCO-Weltkulturerbe. Durch das Nordtor spazieren wir über den Hügel der Langlebigkeit zum Kunming-See. Wir setzen uns auf die Steine am Ufer, hören eine Weile den Zirpen zu. Auf dem Weg zum Ausgang passieren wir Lotosfelder, Pavillons und Pagoden.
Tags darauf erkunde ich allein den Kunstbezirk 798. Alex muss arbeiten. Zu Fuß gehe ich zu dem von Marians Wohnung nur zwei Kilometer entfernten ehemaligen Fabrikgelände. In den Bauhaus-Stil-Gebäuden lassen sich seit 1995 immer mehr Künstler nieder. Ich lasse mich durch die Gassen treiben, schaue mir Cafés, Läden und Galerien an und besuche eine Ausstellung über Xu Bing im Ullens Center for Contemporary Art.
Der 1955 im Südwesten Chinas geborene Konzeptkünstler fasziniert mich. Trotz der strengen Zensur der Kommunistischen Partei hat er in seinem Werk schon früh Kritik an der Gesellschaft und an dem ihn umgebenden System geübt. Für seine jüngste Arbeit, den 81-minütigen Spielfilm Dragonfly Eyes (2017), montierte Xu Bing im Internet frei zugängliche Aufnahmen von Überwachungskameras zu einer fiktiven Geschichte.
Das Thema Überwachung spielt in China eine zunehmend wichtige Rolle: Schon heute sind etwa 176 Millionen Kameras installiert, die den öffentlichen Raum erfassen und teils sogar Gesichter erkennen können – eine Technik, die in Europa noch umstritten ist. Bis 2020 sollen 450 Millionen weitere Kameras dazukommen. Darüber hinaus soll ein Sozialkredit-System eingeführt werden, mit dem der Staat – auch mithilfe der Überwachungskameras – Daten über jeden chinesischen Bürger sammeln und auswerten kann. Auf Grundlage der Daten will die Regierung künftig jeden einzelnen belohnen oder bestrafen: Überquert jemand bei Rot die Straße, kann es sein, dass ihm dafür der Kauf eines Zugtickets verwehrt wird.
Einer der am besten überwachten Orte Chinas ist wohl der Tian’anmen-Platz. Der „Platz am Tor des Himmlischen Friedens“ im Zentrum Pekings ist in Deutschland vor allem wegen des Massakers am 4. Juni 1989 bekannt, bei dem das chinesische Militär zwischen 300 und 3000 Menschen, die für ein demokratisches China demonstrierten, tötete. Während der Proteste besetzten Studierende mehr als drei Wochen lang den Platz.
Wir brechen früh auf, um den Platz und die dahinter liegende Verbotene Stadt zu besuchen, wo bis 1911 die Kaiser der Ming- und Qing-Dynastien residierten. Pro Tag werden nur 80.000 Besucher eingelassen und für diesen Tag wurden bereits 70.000 Online-Tickets verkauft. Da wir weder die Bezahl-App Alipay noch WeChat Wallet haben, mit denen man in China sogar am Ananasstand auf der Straße bezahlen kann, müssen wir ganz oldschool Schlange stehen, um unsere Eintrittskarten zu kaufen. Immerhin müssen wir nicht lange warten: Vor uns stehen nur zwei weitere Ausländer in der Reihe.
Überhaupt müssen wir in China selten lange warten – trotz oder vielleicht gerade wegen der vielen Menschen. Die Infrastruktur ist hoch entwickelt, die Einlasssysteme sind so konzipiert, dass die Wartenden fast immer in Bewegung sind.
Zusammen mit Hunderten weiterer Besucher betreten wir die Verbotene Stadt. Neben dem Porträt eines milde lächelnden Mao Zedong durchschreiten wir das Tor des Himmlischen Friedens. Die Verbotene Stadt, das merken wir schnell, gleicht einer russischen Matrjoschka: Hinter jedem Palast befindet sich ein weiterer, der fast genau wie der ihm vorhergehende aussieht, mit purpurnen Säulenwänden und einem ockerfarbenen Ziegeldach. Wir verbringen Stunden damit, in der gleißenden Sonne zwischen den 890 Palästen umherzulaufen und zu fotografieren. Allein die bebaute Fläche der Verbotenen Stadt ist so groß wie 21 Fußballfelder.
Abends erwartet uns Marian in seiner Wohnung. Er ist von seiner Geschäftsreise in die USA zurückgekehrt. Wir essen miteinander, bis um 1 Uhr sitzen wir im Wohnzimmer und reden. Für Alex und Marian, die zusammen in Pforzheim studiert haben, ist es das erste Treffen seit vier Jahren.
Wir berichten von unserer Reise. Marian, der 2014 nach China gezogen ist und seit Sommer 2017 in Peking wohnt, erzählt uns vom Leben im Reich der Mitte: von den Ausflügen in die Heimatorte seiner Arbeitskollegen, von den kleineren und größeren kulturellen Unterschieden. Dass er als Mieter zum Beispiel das warme und das kalte Wasser sowie das Abwasser separat bezahlen muss, was ihm bei seinem Einzug in die Wohnung aber niemand gesagt hat. „Das habe ich erst gemerkt, als mir plötzlich das Wasser abgestellt wurde und ich mit der Vermieterin telefoniert habe.“
Der Staat, sagt Marian, habe außerdem einen viel größeren Einfluss auf das Leben der Bürger als in Deutschland. „Im Kino zum Beispiel werden vor jedem Film Lehrvideos abgespielt, die den Zuschauern zeigen, wie sie sich benehmen sollen: Dass sie während des Films ruhig sitzen bleiben und nicht telefonieren oder laut dazwischenrufen sollen.“ Das Erbe des ewig lächelnden Mao Zedong, der mit unsäglicher Gewalt den Gehorsam eines ganzen Volks erzwingen wollte, es ist bis heute spürbar.
Wunderschön geschrieben und beschrieben
Eine ganz andere fremde spannende Welt…viel Freude und tolle Begegnungen auf eurer Reise
LG
Annette
Vielen Dank, liebe Annette! China ist tatsächlich wie eine ganz andere Welt – mit vielen wunderschönen Landschaften, interessanten Museen und tollen Menschen. Es hat viel Spaß gemacht, durch das Land zu reisen 🙂