Dunkle Zeiten

Auf dem Fußboden sind Blutspuren zu sehen. Die Fenster sind vergittert, ein rostiges Bettgestell steht auf den Fließen. Langsam gehe ich durch die Räume des Gebäudes A im Tuol-Sleng-Genozid-Museum in Phnom Penh, Kambodscha. In dem ehemaligen Gefängnis S-21 wurden von April 1976 bis Januar 1979 zwischen 12.000 und 20.000 Menschen gefoltert und getötet: vermeintliche Staatsfeinde, Studenten, Intellektuelle, Regierungskritiker, Mönche und Ausländer. Nur elf Insassen, vier Kinder und sieben Erwachsene, überlebten die Gräueltaten der Roten Khmer.

Am 17. April 1975 marschierten die kommunistischen Guerillakrieger in Phnom Penh ein und stürzten die Militärregierung. Unter dem Vorwand, die Amerikaner hätten vor, Bomben über der Hauptstadt abzuwerfen, vertrieben die Schergen Pol Pots die Stadtbevölkerung aufs Land, wo sie bis zu 14 Stunden täglich Äcker bestellen musste. Das Ziel der Roten Khmer war es, einen autarken Bauernstaat zu errichten, eine Gesellschaft ohne Geld, Privatbesitz, Handel, Schulen und Religion.

In den folgenden vier Jahren starb jeder vierte Kambodschaner an Erschöpfung, Unterernährung oder in Folge einer Krankheit. Mindestens 200.000 Menschen wurden ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Landesweit existierten rund 200 Gefängnisse wie das in der 113. Straße Phnom Penhs.

S-21 war vor der Machtübernahme der Roten Khmer ein Gymnasium. Die Gefängnisleitung ließ die Klassenzimmer in winzige Zellen und Folterkammern unterteilen. An den Außengängen wurde ein Geflecht aus Stacheldraht angebracht, um die Häftlinge davon abzuhalten, Selbstmord zu begehen. Es hängt zum Teil noch heute.

 

S-21 war eines von 196 Internierungszentren der Roten Khmer. Es wurde von Kaing Guek Eav, alias Duch, geleitet.
Zwischen 12.000 und 20.000 Männer, Frauen und Kinder wurden in dem Gefängnis gefoltert und getötet.

Als ich aus dem Gebäude A in den Innenhof hinaustrete, habe ich einen Kloß im Hals. Zwischen Palmen und Mangobäumen setze ich mich auf eine Bank und höre der Stimme des Audioführers zu, den ich mir für den Rundgang durch das Museum ausgeliehen habe. Nur wenige Meter von meinen Füßen entfernt scheint die Sonne auf die Gräber der letzten 14 Gefangenen Tuol Slengs. Sie wurden hingerichtet, als die Befreiung des Gefängnisses durch vietnamesische Streitkräfte kurz bevorstand.

In den zehn Räumen von Gebäude A waren besonders wichtige Gefangene untergebracht, lässt mich der Audioführer wissen. Die Häftlinge wurden mit Fußeisen am Bett gefangen gehalten. Viele wussten nicht, weshalb sie eingesperrt worden waren. Einige wurden dreimal am Tag gefoltert. Mit Schlägen und Elektroschocks wollten die Roten Khmer den Gefangenen Geständnisse abringen. Dabei zu schreien, war verboten.

„Wie viele von euch haben sich der CIA angeschlossen? Wer hat euch angeworben?“ Immer wieder stellten ihm die Gefängniswärter diese Fragen, sagt Chum Mey. Er ist einer der wenigen, die Tuol Sleng überlebten. Seine Geschichte teilt er in dem Dokumentarfilm „Hinter den Wänden von S-21“.

Zwölf Tage und Nächte wurde Mey misshandelt. Er dachte, die Wärter würden ihn zu Tode prügeln. Obwohl er noch nie zuvor vom Auslandsgeheimdienst der USA gehört hatte, gab er zu, in die CIA eingetreten zu sein und nannte die Namen angeblicher weiterer Mitglieder. „Die Roten Khmer wollten Antworten“, sagt Mey. „Ich habe ihnen Antworten gegeben. Hätte ich das nicht getan, wäre ich umgebracht worden.“ Jede Nacht exekutierten die Gefängniswärter Häftlinge auf den Killing Fields Choeung Ek, 17 Kilometer südlich von Phnom Penh, und verscharrten sie in Massengräbern.

Nach seinem Geständnis hörten die Wärter auf, Mey zu foltern. Er überlebte die Haft, weil er als Mechaniker Fähigkeiten hatte, die gebraucht wurden. Tagsüber arbeitete Mey für seine Peiniger, er reparierte Nähmaschinen. Nachts schlief er mit 30 oder 40 weiteren Insassen an eine Eisenstange gefesselt in einer Reihe auf dem Boden.

 

Tuol Sleng war einst ein Gymnasium. Die ehemaligen Klassenzimmer wurden in winzige Zellen und Folterkammern unterteilt.
Der Stacheldraht an den Außengängen sollte verzweifelte Insassen davon abhalten, Selbstmord zu begehen.

Sein Schicksal begleitet Mey bis heute. „Manchmal träume ich davon, wie ich geschlagen werde“, sagt er. „Manchmal schreie ich so lange, bis meine Frau mich aufweckt.“ Mittlerweile ist Mey 88 oder 89. Trotz seines fortgeschrittenen Alters besucht er noch oft das Tuol-Sleng-Genozid-Museum. An einem Stand im Innenhof verkauft er das Buch, in dem er seine Erlebnisse verarbeitete.

Auch bei meinem Rundgang sitzt der alte Mann an seinem Stand. Chum Mey wirkt schmächtig in seinem Hemd, seine weißen Haare kontrastieren mit der dunklen Haut der Schläfen. Ich überlege kurz, ob ich zu ihm gehen, ihm Fragen zu seiner Zeit in S-21 stellen soll. „Das müsste ich doch eigentlich als Journalistin“, denke ich.

Doch Mey ist umringt von neugierigen Touristen. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, weiß ich in diesem Moment gar nicht, was ich ihn fragen sollte. Wie ich ihm in die Augen sehen sollte, nachdem ich von meinem Audioführer erfahren habe, was ihm in den beigen Gemäuern von S-21 widerfahren ist. Dass seine Frau und Kinder den Terror der Roten Khmer nicht überlebt haben.

Ich bleibe noch eine Weile auf der Bank sitzen, bevor ich das Museum verlasse. Ich muss mich kurz sammeln, die vielen Eindrücke und Informationen einordnen. Welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, kann ich selbst mit 31 Jahren manchmal noch nicht fassen.

Von einem Tuk-Tuk-Fahrer lasse ich mich in die Innenstadt zurückfahren. Alex und ich wohnen in einer Unterkunft nahe des Königspalasts, drei Kilometer nordöstlich des ehemaligen Gefängnisses. 39 Jahre nach dem Niedergang des Demokratischen Kampucheas, des Staatswesens der Roten Khmer, erinnert in Phnom Penh nur noch wenig an diese entbehrungsreiche Zeit.

Roller, Tuk-Tuks, Autos und Busse fahren auf den Straßen – wobei der Verkehr deutlich entspannter ist als im Nachbarland Vietnam. Vor den Pagoden sitzen Mönche in orangefarbenen Kutten. In den Gassen um den Königspalast verkaufen Straßenhändler frittierte Käfer, Würmer und Grillen, süßes Popcorn und Fisch-Curry. Bezahlt wird in der Landeswährung Riel oder mit US-Dollar.

Geblieben ist die Armut. Kambodscha ist zwar zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt geworden. Doch nach Angaben des Auswärtigen Amts leben immer noch geschätzte 13 Prozent der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze.

In der Innenstadt Phnom Penhs leben ganze Familien auf der Straße. Nahe unserer Unterkunft sehen wir Kinder, die in Müllcontainern nach Essen suchen, Babys, die in Tücher gewickelt auf Pappkartons schlafen. Ihr Anblick lässt mich nicht mehr los. Abends im Bett frage ich mich, was wir eigentlich bezwecken wollen mit unserer Reise. Und hadere lange damit, wie ungleich die Ressourcen auf der Welt verteilt sind.

 

Vor dem Königspalast in Phnom Penh. Seit 1993 ist Kambodscha eine parlamentarische Wahlmonarchie.
Das Land hat eine Bevölkerung von rund 16 Millionen Menschen. Etwa 1,5 Millionen leben in Phnom Penh.
Das Unabhängigkeitsdenkmal wurde 1958 erbaut, um die Unabhängigkeit Kambodschas von Frankreich im Jahr 1953 zu feiern.

Unser viertägiger Aufenthalt in der kambodschanischen Hauptstadt überschneidet sich mit dem Wasserfestival Bon Om Touk, das alljährlich mit Bootsrennen, Konzerten, Lichtinstallationen und Feuerwerk gefeiert wird. Das Wasserfestival markiert das Ende der Regenzeit in Kambodscha und den Zeitpunkt, an dem sich die Fließrichtung des Flusses Tonle Sap ändert. Seine Ursprünge sollen bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen.

Am frühen Nachmittag spazieren Alex und ich an der Flusspromenade entlang. Eine Weile schauen wir dabei zu, wie die langen Drachenboote am Zusammenfluss des Mekongs und des Tonle Saps übers Wasser gleiten. Auf der kleinen Mauer am Flussufer ist so gut wie jeder Platz belegt. Die Zuschauer schützen sich mit Strohhüten und bunten Regenschirmen vor der Sonne, einige haben etwas zu Essen mitgebracht.

 

Das Wasserfestival Bon Om Touk wird jedes Jahr in Kambodscha gefeiert.
Vor dem Königspalast finden vor großem Publikum Paraden statt. Drei Tage lang befindet sich das Land im Ausnahmezustand.
Auf dem Zusammenfluss des Mekongs und des Tonle Saps werden Drachenbootrennen abgehalten.
Abends sind die Stämme der Palmen an der Flusspromenade beleuchtet.
Eine Lichtinstallation am Fluss. Die Ursprünge des Wasserfestivals sollen bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen.

Allzu lange halten wir uns aber nicht an der Flusspromenade auf. Wir sind auf dem Weg zum Wat Phnom, einem Tempel auf einer künstlichen Erhebung im Herzen der Stadt. Der Legende nach soll die Witwe Daun Chi Penh den 27 Meter hohen Hügel aufschütten und den Tempel errichten lassen, nachdem sie fünf Buddha-Statuen am Ufer des Mekong gefunden hatte. Phnom Penh heißt wörtlich übersetzt denn auch „der Hügel Penhs“.

Wir passieren das alte Postamt, ein imposantes ockerfarbenes Gebäude aus der Kolonialzeit. Ein paar Minuten später erreichen wir den Tempel. Vor dem Eingang, am Fuß der Treppe, die auf den Hügel führt, kaufen wir ein Büschel Mini-Bananen. Sie wollen wir den Geistern opfern – im Gegenzug für eine Überfahrt im Containerschiff von Neuseeland nach Panama.

Diese haben die Agenturen, die Frachtschiffreisen vermitteln, derzeit nicht im Angebot. Wir haben bereits Agenturen aus Deutschland, Österreich, Großbritannien und Neuseeland kontaktiert. Da alle dieselben Schiffspassagen anbieten, bringt uns das allerdings nicht weiter. Die Geister müssen helfen.

Während ich ein bisschen abergläubisch bin – es kann ja nicht schaden, ein paar Bananen in einen Tempel zu legen (im Lonely Planet habe ich gelesen, die würden die Geister besonders mögen) – glaubt Alex nicht an die Zauberkraft der Früchte. „Kann ich eine davon essen?“, fragt er, nachdem ich der Bananen-Verkäuferin einen Dollar überreicht habe. „Die sehen lecker aus.“ Ich muss lachen. „Lieber nicht! Ich glaube nicht, dass die Geister das so gut finden würden.“

 

Mit einem Büschel Bananen bitten Alex und ich die Geister des Wat Phnom um Hilfe.

Bevor wir an den Naga, den Wächterschlangen, vorbei zur Pagode hinaufsteigen, ziehe ich meine Strickjacke an. Unbedeckte Schultern sind in buddhistischen Tempeln nicht gern gesehen. Schwitzend gehe ich die Treppe nach oben. Es sind 32 Grad, am Himmel schwebt kaum eine Wolke.

Im Inneren des Tempels riecht es stark nach Räucherstäbchen. Auf dem Gabentisch vor der Buddha-Statue stehen bereits mehrere Schalen mit Bananen. Unsicher schaue ich mich um. Wir haben keine Schale mitgebracht. Ein Mönch bedeutet mir, die Bananen einfach auf einem anderen Büschel abzulegen. Ich nicke ihm dankbar zu, lege die Früchte ab. Dann knien Alex und ich uns einen Augenblick lang nieder. Mit geschlossenen Augen bitte ich die Geister um die Erfüllung unseres Wunsches.

Zwei Wochen später habe ich die Bananen schon fast wieder vergessen. Erst als ich mein E-Mail-Fach öffne, muss ich plötzlich an sie denken: Eine der Containerschiff-Agenturen hat sich gemeldet. Sie haben nun eine Reise von Neuseeland nach Kolumbien im Angebot.

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