Grau, nichts als grau. Von oben gleicht die Altstadt Pingyaos einem Ziegelmeer. Die zweistöckigen Gebäude aus der Ming-Zeit stehen in leicht unregelmäßigen Reihen nebeneinander, die Dächer sehen aus wie aufgeklappte Buchdeckel. Alex und ich spazieren auf der sechs Kilometer langen Stadtmauer entlang, der Eintritt hat ein kleines Vermögen gekostet.
In China kosten fast alle Sehenswürdigkeiten Eintritt, und das nicht zu wenig. Am Ticketschalter versuchen wir deshalb, mit unserer Kreditkarte zu bezahlen. Doch das ist anscheinend nicht möglich – obwohl auf dem Tresen ein Kartenlesegerät liegt. Alex deutet auf das schwarze Maschinchen und sagt scherzhaft: „And what is this? Just decoration? Okay.“ Die zwei Angestellten ignorieren ihn. Wir müssen die 300 Yuán (rund 39 Euro) bar bezahlen.
Immerhin ist der Eintritt zu den meisten Attraktionen der Stadt im Preis enthalten. Wir besuchen den Wen-Miao-Tempel, der als ältester Konfuzius-Tempel der Welt gilt. Seine Ursprünge gehen auf die Zhengua-Ära (627 bis 649) zurück. Der Weg ins Tempelinnere ist von zwölf Steinstatuen gesäumt. Sie stellen die chinesischen Tierkreiszeichen dar. Am Ende der Reihe treffen wir auf ein mageres, rotgetigertes Katzenbaby, von dem wir uns kaum trennen können. Schnurrend streicht es um unsere Beine und versucht, unsere Finger zu fangen. Wir nennen den Kleinen spontan „Elderly“, weil er uns über eine Stufe folgt, die als „the elderly channel“ ausgewiesen ist.
Zwei Tage vorher kommen wir pünktlich auf die Minute in Pingyao-Gucheng an. Der Bahnhof wurde erst 2014 gebaut, mit dem Hochgeschwindigkeitszug brauchen wir aus Peking nur vier Stunden in die Provinz Shaanxi. Es ist 19.41 Uhr, die Sonne längst untergegangen, als wir aus dem G-Zug steigen.
Mit dem Taxi fahren wir in die 8,5 Kilometer entfernte Altstadt. Vor dem Südtor lässt uns der Fahrer aussteigen: Autos sind in den engen Gassen nicht erlaubt. Staunend gehen wir zu unserem Gasthaus. Pingyao sieht aus wie eine hundertfach überspitzte Version des Klischeebilds, das sich nostalgisch-romantisierende Europäer von China machen: Vor den Häusern bieten Steinmetze, Antiquitäten-Händler und Straßenköche ihre Ware feil, vor den Fenstern hängen rot leuchtende Laternen, die sanft im Wind schaukeln.
Der Charme des alten Chinas, in Pingyao ist er noch immer spürbar. Dass dem so ist, verdankt das mittelalterliche Städtchen einem sonderbaren Umstand: Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Pingyao eines der wichtigsten Finanzzentren des Landes. 1823 wurde hier die erste Privatbank Chinas gegründet. Infolge der Xinhai-Revolution 1911 verlor der Finanzsektor jedoch an Bedeutung. Im Zuge der Industrialisierung verlagerten sich zudem die Handelswege, Küstenstädte wie Hongkong und Shanghai drängten Pingyao in die Vergessenheit.
Die Wiederentdeckung der 42.000-Einwohner-Stadt erfolgte spätestens 1997, mit der Ernennung zum UNESCO-Weltkulturerbe. Seither besuchen jedes Jahr rund 1,5 Millionen Touristen Pingyao, die meisten von ihnen aus dem Inland. Auch bei unserer Ankunft sind die Straßen voller Menschen. Wir schlängeln uns durch die Menge und durch verschiedene Gerüche. Fleischspieße, gedämpfte Maiskolben, süße Törtchen: Die Straßenstände stehen oft sehr dicht nebeneinander.
Wir essen an diesem Abend in unserem Gasthaus, das wie viele der alten Herrschaftshäuser aufgebaut ist: Hinter der breiten Fensterfront, die zur Straße zeigt, befindet sich ein Restaurant, in dem typische Speisen der Region angeboten werden. Die Gästezimmer liegen im hinteren Teil des Gebäudes, klassisch um einen mit roten Laternen geschmückten Innenhof gruppiert. Die Farbe Rot symbolisiert in China Glück und Freude.
Nachdem wir in Peking, bei Alex‘ Freund Marian, fast jeden Abend selbst gekocht haben, wagen wir uns zum ersten Mal an die chinesische Küche. Auf der Speisekarte sind, zum Glück für uns, Fotos von fast allen Gerichten abgebildet. Die englischen Übersetzungen bringen uns zum Lachen: Neben „Rotten cabbage“ kann man auch „Picking up eggs“ oder „Characteristics of grilled fish“ bestellen.
Ich google den Satz „Ist das ohne Fleisch?“ in vereinfachtem Chinesisch und mache einen Screenshot davon. Als die Kellnerin kommt, deute ich erst auf die Speisen, die wir bestellen wollen, dann auf mein Handy. Es funktioniert. Eine Viertelstunde später bringt sie uns Reis mit Ei, frittierte Gemüsebällchen mit Kohl und einen Teller voll Auberginen und Okraschoten, die in Öl schwimmen. Alles schmeckt unglaublich lecker.
Mit vollen Bäuchen lassen wir den Abend in unserem Zimmer ausklingen. Der Raum wirkt, als hätte der Innenarchitekt ein China-Restaurant überfallen: Über dem Bett hängt eine zylinderförmige Lampe mit chinesischen Schriftzeichen und roten Quasten, die Fenster und die Tür zum Innenhof sind mit Holzverzierungen ausgekleidet. Sogar das Waschbecken im Badezimmer zieren filigrane Zweige und gelbe Blüten.
Wir schlafen wunderbar in dem von der Straße abgeschotteten, dunklen Zimmer. Erst am späten Morgen frühstücken wir, danach erkunden wir die umliegenden Straßen und die Neustadt, die sich an die Altstadt anschließt. Der moderne Teil Pingyaos sieht kurioserweise aus wie jede andere chinesische Kleinstadt, mit kleinen Läden, Werkstätten und McDonald’s-Filialen. Auf den Straßen fahren Autos, Lastwagen und E-Roller. Von der rund zwölf Meter hohen Stadtmauer können wir auf beide Teile der Stadt blicken: auf die Zukunft Chinas und auf seine Vergangenheit.
Wenn ich nochmals auf die Welt kommen sollte muss ich auch dieses bezaubernde Städtchen aufsuchen . Toll bebildert und dokumentiert.
Seit 1979 war ich drei mal in China. Immer wieder stellte ich dramatische Veränderungen fest. Es geht also doch mit dem Bewahren alter Kulturstätten.
Vielen Dank, lieber Paul! Einen Besuch in Pingyao können wir auf jeden Fall empfehlen! Ein vergleichbares Ambiente haben wir in China nicht noch mal erlebt. Wir haben uns tatsächlich in der Zeit zurückgesetzt gefühlt.