Rotkraut. Alex, Petra und ich können kaum glauben, was im Regal vor uns steht. Ein Glas Rotkraut aus Deutschland. Wir sind in einem winzigen Lebensmittelgeschäft in Cha-am, etwa 170 Kilometer südwestlich von Bangkok. Es ist ein kleines Weihnachtswunder.
Rotkraut essen meine Schwester und ich jedes Jahr an Heiligabend. Dass wir diese Tradition in Thailand weiterführen würden, haben wir aber nicht erwartet. In den Laden sind wir eigentlich nur gegangen, um uns kurz abzukühlen. Fast alle Geschäfte in Thailand sind klimatisiert und uns ist es unglaublich heiß, nachdem wir mit dem Fahrrad sieben Kilometer unter der glühenden Mittagssonne an einer zweispurigen Schnellstraße entlanggefahren sind.
Es ist der 22. Dezember. Für die Feiertage haben Alex, Petra und ich uns eine kleine Wohnung am Strand gemietet, mit einem Balkon und riesigem Pool, aber leider ohne Supermarkt in der Nähe. In der Stadt wollen wir uns mit Lebensmitteln und Getränken für die kommenden Tage eindecken.
„Das nehmen wir mit!“, verkünde ich und gehe mit dem Rotkraut zur Kasse. Ich staune: Dort liegen durchsichtige Tütchen voller Zimtsterne, Spitzbuben und Vanillekipferl. Das Lebensmittelgeschäft gehört einem Deutschen. Er spricht Deutsch mit dem Kunden vor uns in der Schlange. Was für ein Zufall!
Ich starre sehnsüchtig auf die Plätzchen. Sie kosten umgerechnet 6,90 Euro – eigentlich zu viel für uns. Da wir noch mehr als ein Jahr unterwegs sein möchten, müssen wir aufs Budget achten. „Sollen wir trotzdem…?“, fragt Alex. „Weihnachten ist nur einmal im Jahr!“, sagt Petra bestimmt und legt eine Kekstüte neben das Rotkraut vor die Kasse.
Aufgekratzt und glücklich fahren wir weiter zum Supermarkt. Dort kaufen wir so viel Milch, Obst, Brot, Süßes und Gemüse, dass unsere Rucksäcke schwer an den Schultern zerren, als wir nach Hause radeln. Bis zu unserer Abreise sind wir versorgt.
Nur die Flasche Weißwein für den 24. haben wir nicht bekommen. Zwischen 14 und 17 Uhr darf in Thailand kein Alkohol verkauft werden. Als wir mit Zahlen an der Reihe sind, ist es 14.04 Uhr. Die Dame an der Kasse lässt sich von meinem inständigen „But it’s for Christmas!“ nicht erweichen.
Auf dem Rückweg fühlen sich die sieben Kilometer noch etwas länger an, der Asphalt noch etwas heißer. Es tut wahnsinnig gut, nach dem Auspacken der Einkäufe und einer kurzen Dusche in den Pool zu steigen. Das Wasser ist angenehm kühl.
In Cha-am gönnen Alex, Petra und ich uns eine Pause vom Reisen, vom Unterwegssein. Wir lesen viel, liegen am und im Pool, spielen Taki, spazieren am Strand entlang. Abends schauen wir Weihnachtsfilme, um trotz tropischer Temperaturen in Weihnachtsstimmung zu kommen.
Heiligabend unterscheidet sich zunächst nicht von den vorhergehenden Tagen. Wir frühstücken auf dem Balkon, spielen Karten und schwimmen im Pool, waschen sogar noch etwas Wäsche. Alex klemmt sich unglücklich die Finger ein, als er versucht, seine Sonnenliege zu verstellen. Ich bringe ihm zwei Gläser kaltes Wasser zum Kühlen und das Mittagessen ans Bett. Nach ein paar Stunden lassen seine Schmerzen zum Glück nach.
Am frühen Abend schmücken wir das Wohnzimmer und den Esstisch. Unserer Vermieter hat uns liebenswürdigerweise einen mit roten Kugeln und vergoldeten Tannenzapfen behängten, künstlichen Weihnachtsbaum aufgestellt, der etwa 20 Zentimeter misst. Noch mehr freuen Alex und ich uns aber über Petras Überraschung: Sie hat unsere Freunde und Familien gebeten, uns zu schreiben – die Weihnachtskarten füllen den gesamten Couchtisch. Nach dem Essen nehmen wir uns Zeit zum Lesen, müssen schmunzeln, laut lachen. Und fast weinen.
Dank Klimaanlage, Rotkraut, Plätzchen und Frank Sinatras Weihnachtsalbum wird uns in einem thailändischen Wohnkomplex, 350 Meter vom Pazifischen Ozean entfernt, tatsächlich besinnlich zumute. Vielleicht ist aber auch das thailändische Bier schuld daran, das wir im Kiosk um die Ecke gekauft und mit Limonade gemischt haben. „Weihnachtsradler, wer kennt’s nicht?“, sagt Petra und nimmt noch einen Schluck.
Nach der Bescherung und der obligatorischen Runde Taki telefonieren wir kurz mit unseren Eltern. Danach gucken wir Aladdin – den Trickfilm von 1992, nicht die Neuverfilmung mit Will Smith. Denn auch das ist eine Meltra-Tradition: Nach der Bescherung schauen Petra und ich einen Disney-Film an. Dass wir dabei wie immer Plätzchen essen würden, haben wir aber nicht erwartet.