Ein bisschen mulmig ist mir zumute, im Wassertaxi auf dem Weg zur Bark Bay. Sarah, die Fahrerin, fährt so schnell, als ob wir verfolgt werden würden. Das Boot hüpft über die Wellen, Gischt spritzt auf beiden Seiten. „Speedy Gonsarah!“, rufe ich meiner Schwester Petra zu. Sie lacht und klammert sich fester an die Sitzbank. Unsere Mutter, Marina, sitzt zwei Reihen weiter vorn, hinter Sarah und ihrem Kollegen. Sie trägt, wie wir, Mütze und Sonnenbrille, um sich vor dem Fahrtwind zu schützen.
Endlich wird Sarah langsamer. Sie hält das Boot neben einem runden Felsen, der aussieht, als hätte ein Riese ihn in der Mitte zerschlagen. „Das ist der Split Apple Rock“, sagt Sarah. „Ein Granitstein aus der Kreidezeit.“ Wie genau er auseinandergebrochen ist, könne niemand sagen, berichtet sie. Nach einer Legende der Māori, Neuseelands Ureinwohner, sollen zwei Götter ihn zerhauen haben.
Sarah wendet und gibt Gas. Das Boot rumpelt über die Wellen. Es dauert noch eine halbe Stunde, bis wir die Bark Bay erreichen. Auf dem Weg halten wir vor einer Insel, auf deren Felsen graue Seehunde in der Sonne dösen, und an der Anchorage Bay, wo die meisten unserer Mitfahrer aussteigen. Sie gehen zu Fuß zurück nach Marahau, dem Ausgangspunkt der Fahrt.
Mama, Petra und ich wandern von der Bark Bay zur Anchorage Bay. Zwölf Kilometer folgen wir dem Abel-Tasman-Küstenweg, einem der neun Great Walks, der bekanntesten mehrtägigen Wanderstrecken in Neuseeland. Alex verbringt den Tag in unserer Ferienwohnung am Rand von Upper Moutere, einem Ort im Norden der neuseeländischen Südinsel. Wassertaxis sind nicht sein Ding – während Sarah mit Höchstgeschwindigkeit übers Meer brettert, muss ich an ihn denken.
Ich bin froh, als wir aussteigen dürfen. Die Bark Bay ist zauberschön. Sie ist Teil des Abel-Tasman-Nationalparks. Ein Stück Paradies, mit goldenem Strand und türkisblauem Wasser, eingerahmt von grünen Farnbäumen. Abel Janszoon Tasman, nach dem der Nationalpark benannt wurde, war ein niederländischer Seefahrer. Am 13. Dezember 1642 erreichte er als erster Europäer Neuseeland.
Auf einer Bank am Strand packen wir Brote aus. Nach dem Vesper geht es los. Dreieinhalb Stunden haben wir Zeit, um die Anchorage Bay zu erreichen. Um 16 Uhr wird Sarah uns dort abholen. Der Wanderweg führt unter Bäumen und über dem Meer entlang. Die Sonne scheint, hin und wieder verdunkelt von vorüberziehenden Wolken. Es geht leicht bergauf, die Grillen zirpen. Wir halten oft an, um Buchten, Hängebrücken oder Vögel zu fotografieren: Kākās, Kalifornische Schopfwachteln und Wekas, die neugierig zu uns kommen, auf Essen hoffen.
Es ist der Tag vor Petras 29. Geburtstag. Der Tag, den wir in Alice-im-Wunderland-Manier zu ihrem Nichtgeburtstag erklärt haben, weil der folgende ein Fahrtag ist. „Viel Glück zum Nichtgeburtstag!“, rufe ich mindestens einmal pro Stunde. „Für mich?“, sagt Petra dann. „Für dich!“, antworte ich. Wie sehr ich meine kleine Schwester vermisst habe, seit wir uns in Bangkok voneinander verabschiedet haben!
Petra ist quasi die dunkelhaarige Version von mir. Mit schulterlangen braunen Haaren, braunen Augen und Sommersprossen, die ich wahnsinnig schön finde und sie so mittelgut. Wir haben denselben Humor und dieselbe Kleidergröße, das gleiche Lachen und die gleiche Stimme am Telefon. Wir sind beide Journalistinnen, fotografieren und reisen gerne, lieben Katzen und Süßigkeiten. Seit sie in Auckland angekommen ist, ist mir wieder einmal bewusst geworden, dass ich mich nur zusammen mit ihr komplett fühle.
Mal redend, mal schweigend wandern wir durch die unwirklich hübsche Postkartenlandschaft. An der Torrent Bay, der Bucht vor der Anchorage Bay, ziehen wir die Schuhe aus. Es ist Ebbe, aber an einer Stelle müssen wir einen etwa vier Meter breiten Bach durchqueren. Die Muscheln pieksen an den Füßen, das Wasser prickelt eisig kalt.
Wenige Minuten vor 16 Uhr erreichen wir unser Ziel. Das Wassertaxi schaukelt bereits auf den Wellen, fast alle Plätze sind belegt. Auf dem Rückweg fährt Sarah etwas vorsichtiger – vielleicht wegen der beiden Kleinkinder, die hinter uns auf der Bank sitzen.
Auf der Rückfahrt nach Upper Moutere kaufen wir einen Geburtstagskuchen. Von Marahau sind es nur knapp 30 Minuten bis zu unserer Ferienwohnung. Alex sitzt auf dem Balkon, als wir ankommen. Er hat den Tag allein genossen, mit seinen Eltern telefoniert und gelesen.
Die umgebaute Scheune, in der wir übernachten, gehört Mascha und ihrem Mann. Die beiden sind mit ihren Kindern und der Oma vom Bodensee nach Neuseeland gezogen. Nach zwei Jahren in Wellington, Neuseelands Hauptstadt, haben sie sich für ein Leben auf dem Land entschieden. Über die Schafweiden, die ihnen gehören, sind Alex, Petra und ich schon am Abend zuvor gegangen. An unserem ersten Tag auf Neuseelands Südinsel.
Mit der Fähre sind wir am vorherigen Morgen von der Nordinsel übergesetzt. Drei Stunden dauert die Überfahrt nach Picton. Draußen, auf dem Oberdeck, fotografieren Petra und ich zuerst die Häuser auf den Hügeln Wellingtons, später die zerklüftete Küste der Südinsel. Obwohl es stark windet, verbringen wir die meiste Zeit oben auf dem Schiff. Durch die Fenster werden die Fotos nicht so gut. Mama geht lieber an der Seite raus, dort ist es windgeschützter. Alex bleibt hauptsächlich im Innenraum, schließt Freundschaft mit einer deutschen Reisegruppe. Über kurvige Straßen, vorbei an Kiefernwäldern und nach einem Stopp in Nelson, erreichen wir spätnachmittags Upper Moutere.
Petras Nicht-Nichtgeburtstag beginnt mit einem Pfannkuchenfrühstück, Kuchen und Geschenken. Um 10 Uhr brechen wir auf. An der Westküste der Südinsel entlang fahren wir gen Süden. Auf dem Weg ins 340 Kilometer entfernte Greymouth halten wir an der Buller Gorge, einer Schlucht, über die eine 110 Meter lange Hängebrücke führt. Die längste Neuseelands.
Um uns noch ein bisschen die Beine zu vertreten, folgen wir einem Rundweg durch den Wald. Der erdige Pfad wird immer rutschiger, bis er eigentlich nur noch aus Matsch besteht. Wir hüpfen über Schlammpfützen und Wurzeln, der Spaziergang ist weniger entspannend als gedacht. Und länger. Gute 20 Minuten folgen wir dem farngesäumten Pfad durch den Wald. Als er vor einem einzelnen, hohen Kahikatea-Baum endet, vor dem ein Schild steht, muss Mama lachen. Sie kugelt sich, bis ihr die Tränen kommen, zeigt auf den Baum und prustet: „Dafür sind wir den ganzen Weg gelaufen?!“
Beim nächsten Stopp, dem Cape Foulwind, ist der Himmel bereits dunkelgrau. Wir halten nur kurz, knipsen ein paar Fotos und fahren weiter zur knapp fünf Kilometer entfernten Tauranga-Bucht. Dort lebt eine Seehundkolonie. Auf der Aussichtsplattform erkennt Alex Jason Isaacs, einen britischen Schauspieler, der in der Harry-Potter-Filmreihe den Lucius Malfoy gespielt hat. Iscaacs trägt eine dunkelblaue Daunenjacke, Hoodie und Jogginghose. Niemals hätte ich ihn für einen Star gehalten.
Eine Stunde später halten wir auf dem Parkplatz der Pancake Rocks. Die dunkelgrauen Felsen im Meer vor Neuseelands Westküste sehen tatsächlich wie eng gestapelte Pfannkuchen aus. Es nieselt, als wir aus dem Auto steigen. Kaum erreichen wir die Felsen, wird der Regen stärker. Die Tropfen prasseln auf unsere Regenjacken. Mama und Alex gehen immer schneller, Petra und ich lassen uns trotz Wind und Regen Zeit zu fotografieren. Wir wollen alle Stationen dieser Reise festhalten.
Gegen 17.30 Uhr erreichen wir Greymouth, eine 6000-Einwohner-Stadt am Meer. Wir übernachten in der Einliegerwohnung von Perry, der uns in Sandalen an der Tür begrüßt. Es ist eiskalt in unserer Unterkunft. „Ich verstehe nicht, wieso die Gastgeber ihre Wohnungen nie vorheizen“, sage ich. „Das wäre so viel gemütlicher.“ Wir schalten die Klimaanlage ein, duschen, brechen auf zu Petras Nicht-Nichtgeburtstags-Dinner.
Es gibt Pizza, die Auswahl ist nicht groß in Greymouth. Die meisten Restaurants sind abends schon geschlossen. Das Café, für das wir uns entschieden haben, hat immerhin ganz gute Bewertungen auf Tripadvisor und ein paar vegetarische Optionen. Unsere Erwartungen sinken sofort beim Eintreten. Die meisten Tische sind zwar belegt, aber die Einrichtung könnte auch aus einem schwäbischen 80er-Jahre-Lokal stammen. Die Pizza, die wir bestellen, trieft vor Fett. Ich nehme einen Bissen, schaue Petra an und lache: „Zum Glück haben wir deinen Nichtgeburtstag gestern schon gefeiert.“
Hallo ihr Lieben,
ich habe volles Kopfkino von eurer Fahrt mit dem Wassertaxi. Ihr müsst sehr stabile Mägen haben. Da wäre ich NIEMALS mitgefahren. 😀 Aber die Fahrt hat sich gelohnt und ihr habt ganz wunderbare Aufnahmen gemacht. Herzlichen Glückwunsch noch nachträglich an Petra.
Liebe Grüße,
Ingrid & Gerhard
Vielen Dank, ihr beiden! Ja, wenn wir gewusst hätten, was da auf uns zukommt, hätten wir es uns vielleicht auch nochmal überlegt mit der Fahrt… ;P Aber ja, es hat sich sehr gelohnt 🙂
Viele liebe Grüße!!