Mit einer Pipette füttert die Tierpflegerin den Koala. „Manche der Tiere sind so schwach, dass sie sich nicht selbst ernähren können, wenn sie zu uns kommen“, erklärt Paul. Er ist einer von rund 150 Freiwilligen, die sich im Koala-Krankenhaus in Port Macquarie um die Tiere kümmern und sie den Besuchern zeigen. Jeden Tag um 15 Uhr findet eine Führung statt.
Das Koala-Krankenhaus an der Küste des australischen Bundesstaats New South Wales wurde 1973 gegründet. Zwischen 200 und 250 Tiere werden jährlich aufgenommen – wenn nicht gerade ein Buschbrand in der Gegend wütet. Dann sind es deutlich mehr.
Die meisten Koalas bleiben nur für kurze Zeit. Das Ziel sei es, sie so schnell wie möglich wieder auszuwildern, sagt Paul. „Jeder Koala hat sein Revier“, erklärt er. „Deshalb ist es wichtig, dass wir die Tiere genau dorthin zurückbringen, wo sie gefunden wurden.“ Damit sich die Helfer leichter merken können, wo das war, bekommen alle Koalas Namen, die aus mindestens zwei Wörtern besteht: dem Ort, an dem sie gefunden wurden, und dem Namen ihres Finders. Oder ihrer Finderin.
Das Koala-Weibchen „Emerald Downs Mary“ etwa wurde von einer Frau namens Mary auf dem Golfplatz Emerald Downs gefunden. Wohl durch einen Unfall hat sie ihr Augenlicht verloren. In der Wildnis kann sie nicht mehr überleben. „Emerald Downs Mary“ ist eines der wenigen Tiere, die dauerhaft in den Gehegen des Koala-Krankenhauses leben. „Am liebsten sitzt sie ganz oben auf diesem Eukalyptusbaum“, sagt Paul und zeigt nach oben, auf einen kleinen, grauen Plüschball, der sich an den Stamm klammert.
Alex und ich besuchen das Koala-Krankenhaus auf dem Weg von Sydney nach Brisbane. Genauer gesagt nach Redland Bay, einer Ortschaft etwas südlich von Brisbane. Dort werden wir vier Wochen auf einen Hund und zwei Katzen aufpassen.
Die Strecke ist fast 1000 Kilometer lang, das sind vier Campingnächte. Die letzten in unserem Auto, unserem dunkelblauen Holden Commodore, den wir nach der Hündin Diggity aus dem Film Tracks benannt haben. Wir sind ein bisschen wehmütig und ein bisschen frustriert: Unsere Kissen haben wir in Mathieus Wohnung in Sydney vergessen.
Die Erkenntnis kommt gut 70 Kilometer zu spät, da haben wir unser Ziel für die Nacht, die Blue Mountains, schon erreicht. Das Gebirge, dessen Ausläufer rund 60 Kilometer westlich von Sydney beginnen, ist das Naherholungsgebiet der Metropol-Bewohner und eine beliebte Wandergegend.
Die Fahrt über den Highway war anstrengend, die Straßen um Sydney sind verstopft wie verkalkte Arterien. Anfangs kommen wir nur langsam voran. Kaum biegen wir ab, wird der Verkehr weniger. Die Strecke ist zwar kurviger, dafür aber nicht so stark befahren.
Wir besichtigen den Wentworth-Wasserfall, den Flenchers-Aussichtspunkt und die Drei Schwestern, die bekannteste Gesteinsformation der Blue Mountains. Die drei Felsknubbel lassen die Bergpartie, aus der sie aufragen, wie einen schlafenden Dinosaurier aussehen. Ihre Namen – Meehni (922 Meter), Wimlah (918 Meter) und Gunnedoo (906 Meter) – haben die Sandsteinsäulen einer Legende der ansässigen Aborigines zu verdanken.
Wir übernachten nicht weit von den Drei Schwestern auf einem kostenlosen Campingplatz im Wald. Die Lichtung, auf der sich ein paar Holzbänke, eine Feuerstelle und Komposttoiletten verteilen, befindet sich im Tal. Auf einer Serpentinenstraße fahren wir immer tiefer. Hier unten wird es viel schneller dunkler als auf der Bergkuppe. Wir sind froh, dass wir noch genügend Licht zum Kochen haben.
Neben uns übernachten noch andere auf dem Campingplatz. Rechts von Diggity, circa 15 Meter entfernt, schläft ein älterer Mann in seinem Auto. Neben der Toilette hat ein junges Paar seinen Van geparkt, nahe der Straße campt eine Gruppe, die Lagerfeuer angezündet und zwei Hunde dabei hat. Auf den australischen Campingplätzen ist man so gut wie nie allein.
Die Nacht ist kalt. Wir wachen beide mehrmals auf, weil wir frieren. Am frühen Morgen ist es schattig, die Sonne dringt nicht durch die Baumkronen. Als wir den Campingplatz um halb acht verlassen, frösteln wir, beim Sprechen produzieren wir im Auto kleine Nebelwolken. Am Govetts Leap Lookout frühstücken wir auf einer Bank in der Sonne, danach wandern wir zum Evans Lookout.
Der Weg führt unter Eukalyptusbäumen an der Bergkante entlang: baumbestandene Bergkuppen bis zum Horizont. Links geht es hunderte Meter steil herunter. „Da hinten schimmert es echt ein bisschen blau, oder?“, frage ich begeistert. „Ist das nicht immer so bei Bergen?“, sagt Alex trocken. Touché. Angeblich sollen das Eukalyptusöl, das über den Bäumen verdunstet, und die Rayleigh-Streuung (was das ist, erfahrt ihr hier) die Blue Mountains besonders blau erscheinen lassen.
An diesem Abend übernachten wir auf einem Rasenplatz neben einer Hunderennbahn in Gosford, einer Stadt knapp 80 Kilometer nördlich von Sydney. Rennen finden an diesem Mittwoch keine statt, stattdessen gehen wir ins Kino und schauen Spider-Man: Far From Home an (wie passend). Die Nacht ist deutlich wärmer als die vorherige. Gosford liegt nur zehn Meter über dem Meeresspiegel. Wir können wieder ohne Mützen schlafen, dafür schrillen nachts in der Nähe die Alarmglocken.
Nach einer warmen Dusche und dem Frühstück geht es am folgenden Tag weiter. Auf dem Pacific Highway fahren wir nach Norden. In der Küstenstadt Newcastle vespern wir am Meer, danach spazieren wir zu „Nobbys Leuchtturm“. Der weiße, viereckige Leuchtturm thront am Ende einer Landzunge auf einem Hügel über den Dünen.
Es ist stürmisch, die Sandkörner, die der Wind uns ins Gesicht peitscht, fühlen sich an wie Nadelstiche. Alex fährt auf dem Skateboard den Betonpier entlang, bis die Böen zu stark werden.
Von Newcastle sind es nur noch 100 Kilometer nach Bulahdelah, dem Ort, an dem wir übernachten. Der lokale Golfclub erlaubt es Campern auf der Durchreise, eine Nacht kostenfrei zu bleiben. Als wir gegen 15 Uhr ankommen, grast eine Gruppe Kängurus auf einem der Rasenplätze. Mit unseren Kameras nähern wir uns ihnen vorsichtig. Wir zählen 33 Kängurus, Jungtiere nicht eingerechnet. Wir setzen uns ins Gras, gucken den Tieren beim Fressen zu, fotografieren. Haben Glücksgefühle.
Am nächsten Morgen sind die Kängurus verschwunden. Wir frühstücken im offenen Kofferraum, andere Sitzgelegenheiten hat der Golfplatz nicht. Auf dem Weg nach Port Macquarie, zum Koala-Krankenhaus, halten wir kurz an der Green Cathedral, einer Kirche unter freiem Himmel im Booti-Booti-Nationalpark. Die Holzbänke stehen nur wenige Meter vom Ufer des Wallis-Sees entfernt unter Palmen. Der Wind rauscht durch die Palmblätter, bauscht die Wellen auf, wir fahren weiter.
Die letzte Nacht unter Sternen verbringen wir neben einem Football-Feld am Rand von Bellingen. Eine Familie aus Bayern (Mutter, Vater, Sohn) schläft neben uns im Campervan. Für die Strecke von Sydney nach Brisbane haben sie vier Wochen statt – wie wir – vier Tage eingeplant, erzählen sie beim Abendessen. Aber mit einigen Abstechern ins Landesinnere.
Als wir aufwachen, sind sie schon losgefahren. Wir brechen erst gegen halb zehn auf. Vor uns liegen noch 411 Kilometer auf dem Pacific Highway. Unterwegs halten wir am Pat-Morton-Aussichtspunkt, wo wir Wale beobachten, und in Byron Bay, einem Hipster-Ort, der bei Surfern und Backpackern beliebt ist. Zwischen den vielen Smoothie-Bars, veganen Cupcake-Läden und braungebrannten 20-Jährigen, die gefühlt alle Batik-Shirts tragen und über die Straße gehen, ohne vorher nach links oder rechts zu schauen, kommen wir uns aber ziemlich fehl am Platz vor.
Besser gefällt uns merkwürdigerweise Gold Coast, eine Stadt im Süden des Bundesstaats Queensland, die mit ihren hässlichen Hochhäusern und bunten Leuchtreklamen an die Touristenhochburg Benidorm in Spanien erinnert. Gold Coast ist unser letzer Stopp vor Redland Bay. Eine Stadt wie ein freundliches Mallorca: ohne Ballermann, dafür mit dutzenden Tattoo-Studios und Souvenirläden, in denen schräge Sonnenbrillen und T-Shirts mit „Gold Coast“-Aufdruck verkauft werden.
Obwohl wir beide nicht die Typen für einen Hotel-Pauschalurlaub sind, mögen wir die trashig-entspannte Stimmung und die Touristen, die unprätentiös und ungewollt-aufdringlich in Schlappen und pinken Leopardprint-Tops shoppen oder am Strand liegen. Vielleicht, weil der Druck weg ist, schön aussehen oder besonders hip wirken zu müssen. Vielleicht aber auch nur, weil die Sonne die Betonbunker von Gold Coast zur Golden Hour in ein warmes, orangerotes Licht taucht.
Die letzten 65 Kilometer nach Redland Bay fahren wir in der Dämmerung. Seit unserer Abfahrt aus Perth im Westen Australiens, seit dem Beginn der N-förmigen Strecke, auf der wir das Land durchquert haben, sind mehr oder weniger 10.000 Kilometer auf Diggitys Tacho dazugekommen. Unsere fast viermonatige Campingtour durch den roten Kontinent, sie geht zu Ende.
So schön geschrieben <3