Die Bäume haben Sturmfrisur. Selbst an sonnigen Tagen bläst der Wind meist so kräftig über die Küste im Südosten Neuseelands, dass sich auch noch die Grasbüschel zum Boden neigen. Dem Seelöwen im Meer unterhalb des Leuchtturms am Waipapa Point macht das nichts aus. Nur mit dem Kopf taucht er ab und zu aus den Wellen auf. Sein Fell glänzt dunkelgrau und glatt im Wasser.
Der Waipapa Point gilt als Eingangstor der Catlins – der Region zwischen Invercargill im Westen und Balclutha im Osten, die von den meisten Neuseeland-Touristen übersehen wird. Für diejenigen, die mit straffem Zeitplan anreisen, liegt sie zu abgelegen. Backpacker meiden die raue Landschaft häufig: Das Wetter ist eher mäßig, 200 Regentage pro Jahr sind nicht ungewöhnlich.
Wer sich dennoch in Neuseelands wilden Süden traut, wird nicht enttäuscht. Die Catlins – benannt nach dem Walfänger Edward Cattlin und fast so groß wie Teneriffa – bestehen aus Wanderwegen, Regenwäldern und Wasserfällen im Landesinneren, zerklüfteten Felsen, windzerzausten Bäumen und einsamen Stränden an der Küste. Insgesamt leben nur etwa 1200 Menschen in der Gegend.
Auf dem Weg von Te Anau nach Progress Valley halten Alex und ich am Waipapa Point, dem Slope Point und der Curio-Bucht, die für die versteinerten Reste eines 170 Millionen Jahre alten Walds bekannt ist. Der Slope Point ist der südlichste Punkt der Südinsel Neuseelands. Auch hier krümmen sich die Bäume nach hinten, als wären sie Tänzerinnen, die während einer Rückbeuge versteinert wurden.
Wir folgen den anderen Touristen über eine Rinderweide. Der Slope Point befindet sich auf privatem Gelände. „Betreten auf eigene Gefahr“ steht unter anderem auf einem rot-weißen Schild am Gatter neben dem Parkplatz. „Das Wetter hier ist unberechenbar & starke (hohe) Winde sind normal.“ Tatsächlich pfeift der Wind uns um die Ohren, obwohl die Sonne scheint.
Es ist nicht weit bis zum Slope Point, einem unscheinbaren Fleck Erde mit einem gelben Schild, von dem es näher zum Südpol als zum Äquator ist. Ich erinnere mich daran, dass ich 2006, nach dem Abi, schon einmal hier war. An diesem Ort, so weit entfernt von Deutschland. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie ich den Slope Point damals wahrgenommen habe. Wie es mir ging, als ich – neben meiner Freundin Sabine, mit der ich unterwegs war – vor dem gelben Schild posiert habe. Dass ich die abgelegenen Catlins noch einmal besuchen würde, hätte ich nicht gedacht.
Am Nachmittag erreichen wir das Progress Valley. In dem Tal zehn Minuten hinter der Curio-Bucht betreiben Jaclyn Hunt und ihr Mann Warren Calder eine Bed-and-Breakfast-Pension mit gerade einmal drei Zimmern. Ein kleines Idyll zwischen Eukalyptuswald und Weidehügeln. Im Garten blühen die Rhododendren und die Löwenmäulchen. Alex und ich übernachten in einem ausrangierten Wohnwagen neben dem Hühner-Gehege. Vor dem Caravan liegen zwei Lämmer.
„Lämmchen eins und Lämmchen zwei“, stellt Jaclyn, 35, die zwei vor und lacht. „Wir sind sehr schlecht darin, Namen zu vergeben.“ Mit ihrem zweijährigen Sohn Beau auf dem Arm führt sie uns durch den Garten, zeigt uns die rotbraunen Hühner, den Grill und das Badezimmer. Barfuß läuft sie über das Gras, ihre langen, schwarzen Dreadlocks hat sie zu einem Dutt gebunden.
Wir holen die Rucksäcke aus dem Auto und richten uns in unserem vorübergehenden Zuhause ein. Dann gehen wir in die Küche, um zu kochen. Linsencurry. „Habt ihr Delfine in der Curio-Bucht gesehen?“, fragt Jaclyn, während wir Zwiebeln, Knoblauch und Ingwer schneiden. „Dort schwimmen normalerweise immer welche.“ Mit etwas Glück könne man abends außerdem die seltenen Gelbaugenpinguine beobachten, sagt ihr Mann Warren, 48, kurze braune Haare und verschmitztes Lächeln. Die Tiere gelten als gefährdet. Sie brüten nur im Südosten Neuseelands.
Auch Seelöwen und Albatrosse begegne man manchmal am Strand, sagt Jaclyn. Die Tiere sind aber nicht der einzige Grund, weshalb sie und Warren in den äußersten Süden Neuseelands gezogen sind. „Die Catlins sind wild, schön und erschwinglich“, schwärmt Jaclyn. „Es hat etwas Besonderes, so nah am Rand der Welt zu leben.“ An stürmischen Tagen schaut sie gern auf den Ozean und stellt sich vor, dass die nächste Landmasse die Antarktis ist.
Jedes Mal, wenn die Zeit es zulässt, fährt die Familie ans Meer. Beau und sein vierjähriger Bruder Quintin lieben es, im Sand zu spielen. „Alle Strände der Region sind schön“, sagt Jaclyn. „Wandern ist mit den beiden aber noch zu anstrengend“, erklärt Warren. Auf einer Karte der Region zeigt er uns die schönsten Wanderwege. Davon gibt es viele – zwischen 20 Minuten und zwei Tagen Länge.
Ich wäre am liebsten schon am folgenden Tag losgewandert. Aber der Regen, der an diesem Abend auf unseren Caravan prasselt und für eine gemütliche Stimmung sorgt, hört so schnell nicht wieder auf. Am Tag darauf regnet es fast durchgängig. Die Lämmer, die uns morgens mit ihrem Blöken geweckt haben, liegen eng aneinander gekuschelt unter dem Caravan. Wir nutzen die Zwangspause, um zu arbeiten, zu lesen und The Crown zu schauen.
Am Morgen unserer Abreise bedecken graue Wolken den Himmel, doch der Regen hat aufgehört. Wir verabschieden uns von Jaclyn, Warren, Beau, Quintin und Warrens Vater Jimmy, der für ein paar Tage zu Besuch war. Auf dem Weg in die 170 Kilometer entfernte Stadt Dunedin (sprich: Da-nih-din) haben Alex und ich uns ein paar kurze Wanderungen vorgenommen.
Die erste von ihnen führt zu den McLean Falls, rund 25 Kilometer östlich von Progress Valley. Der Weg zu dem 22 Meter hohen Wasserfall schlängelt sich vorbei an drei Meter hohen Baumfarnen und Bäumen, von denen das Moos hängt wie langes Haar. Am späten Vormittag schweben die Nebelwolken noch tief über dem Regenwald. Die Vögel zwitschern, es riecht nach frischer Erde.
Der Weg ist breit angelegt und gut beschildert. Wie fast alle in Neuseeland. Die meisten Kiwis, so nennen sich die Einheimischen oft selbst, gehen gerne wandern und spazieren. Tramping nennen sie das. Viele Wanderwege gehen auf Verbindungen der Māori, Neuseelands Ureinwohner, zurück.
Auch der Purakaunui-Wasserfall, weitere 25 Kilometer östlich, ist über einen befestigten Weg gut erreichbar. Vom Parkplatz sind es nur zehn Minuten. Der dreistufige Purakaunui gilt als einer der meistfotografierten Wasserfälle Neuseelands. 1976 wurde ihm sogar eine Briefmarke gewidmet.
Auf der hölzernen Aussichtsplattform fotografiert Ulla Urbanke, 63, den Wasserfall aus mehreren Perspektiven. „Und?“, fragt ihr Mann Rolf-Peter. Die Belichtung muss stimmen. Das Paar aus der Nähe von Villingen-Schwenningen hat gleich mehrere Kameras dabei. Vier Wochen verbringen die beiden in Neuseeland. Von Auckland, der größten Stadt des Landes, sind sie in den Süden gereist. Die Catlins, erzählt uns Rolf-Peter, 66, „lagen auf dem Weg“ zwischen dem Fjord Milford Sound und der Stadt Dunedin. Die raue Landschaft erinnert den Rentner an Schottland. Schwäbisch-charmant sagt er: „Das kann sich sehen lassen.“
Vom Purakaunui-Wasserfall fahren die Urbankes weiter zum Nugget Point, ihrem letzten Stopp vor Dunedin. Dort treffen wir die beiden wieder. Der Nugget Point verdankt seinen Namen einer Reihe erodierter Felsnadeln, die vor ihm aus dem Meer ragen. Der Geruch von Meerwasser liegt in der Luft, von Salzwasser und Algen. Auf der Aussichtsplattform fotografieren wir, Ulla und Rolf-Peter den Leuchtturm, der 1869/70 auf dem Kap erbaut wurde, 76 Meter über dem Meeresspiegel. Unter ihm peitscht der Wind die Wellen über die „Nuggets“. Braune Seebären liegen auf ihnen und dösen. Möwen fliegen kreischend über unsere Köpfe. Ulla steckt ihre Kamera ein. Sie hat genug Bilder geknipst für heute. Auf dem Weg zum Parkplatz sagt sie: „Das war jetzt auch nochmal ein Highlight.“