Von der Ein-Kind-Politik hält Frank nichts. Wie die meisten Chinesen seiner Generation hat der 30-jährige Ingenieur keine Geschwister. Und jetzt, wo seine Eltern älter werden, merkt er immer öfter, wie die Verantwortung auf seinen Schultern lastet. „Ich frage mich, wie lange ich die beiden alleine unterstützen kann“, sagt er.
Wir sitzen am Frühstückstisch in Franks Wohnung in Suzhou, einer 10-Millionen-Stadt nahe Shanghai. Frank isst ein dunkelbraunes Gelee, Alex und ich essen Obst mit Haferflocken. Während er spricht, rülpst Frank zweimal ungeniert. Ich bin ein bisschen peinlich berührt, weiß nicht, wo ich hinschauen soll. An den offenen Umgang der Chinesen mit Körpergeräuschen habe ich mich nach knapp zwei Wochen im Land noch nicht so ganz gewöhnt.
„Meine Mutter bekommt vom Staat pro Monat nur 2000 Yuán Rente (rund 260 Euro), bei meinem Vater ist es etwas mehr“, sagt Frank. „Das reicht gerade einmal, um Lebensmittel einzukaufen.“ Für die Miete und alle weiteren Kosten, die anfallen, überweist Frank seinen Eltern jeden Monat Geld.
Bis vor Kurzem war das für ihn gut möglich. Doch vor ein paar Wochen bekam seine Mutter starke Knieschmerzen und musste operiert werden. Von den 100.000 Yuán Operationskosten (rund 13.100 Euro) erstattete das Krankenhaus trotz ihrer Mitgliedschaft in der staatlichen Krankenversicherung nur 1000 Yuán. Den Rest musste Frank bezahlen. „Hätte ich einen Bruder oder eine Schwester, hätten wir uns die Kosten zumindest teilen können.“
Die Ein-Kind-Politik galt in China von 1980 bis 2016. Sie sollte Hungersnöte verhindern und den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes ermöglichen. Tatsächlich verursachte die Regelung soziale Spannungen und sorgte für eine Überalterung der Stadtbevölkerung (auf dem Land wurde die Politik häufig nicht konsequent umgesetzt).
Zudem kamen in den vergangenen Jahrzehnten unverhältnismäßig mehr Jungen als Mädchen zur Welt: Da Söhnen in der chinesischen Gesellschaft ein höherer Stellenwert zugeschrieben wird als Töchtern, wurden zahlreiche weibliche Föten noch vor der Geburt abgetrieben. Viele Mädchen wurden als Babys in Waisenhäuser abgegeben. Aus diesem Grund soll es einer Studie des chinesischen Statistikamts zufolge schon 2020 in China 34 Millionen mehr Männer als Frauen geben.
In Shanghai, das wir nach einer halben Stunde Zugfahrt aus Suzhou erreichen, manifestiert sich das Problem in Form von Regenschirmen. Auf dem zentralen People’s Square sind hunderte von ihnen aufgespannt. Auf jedem ist ein Steckbrief befestigt: ein Zettel, auf dem neben dem Namen, dem Alter und dem Beruf auch die Größe, das Gewicht und das Einkommen eines unverheirateten Mannes angegeben ist. Darunter seine Handynummer, manchmal auch ein Foto. Der Shanghaier Heiratsmarkt, der Markt der aufgespannten Regenschirme, ist der verzweifelte Versuch chinesischer Eltern und Großeltern, eine Frau für ihren Sohn beziehungsweise Enkel zu finden.
Nur ein Stück hinter dem Heiratsmarkt, im Park, treffen sich andere Großmütter und -väter, um im Schatten der Bäume Karten oder Mahjongg zu spielen. Während Alex sich direkt auf den Weg zur 2,6 Kilometer langen Flusspromenade The Bund macht, hinter der Shanghais beeindruckende Skyline aufragt, besuche ich das Museum of Contemporary Art (MOCA).
Eine Fehlentscheidung: Die kleine Ausstellung scheint konzeptlos zusammengewürfelt. Nach nur 25 Minuten verlasse ich das Museum wieder und lasse ich mich von unserer Offline-Karte zum Yu-Garten führen. Er gilt als eine der schönsten Gartenanlagen Chinas. Unterwegs passiere ich ein Wohngebiet mit ein-Zimmer-großen Garküchen und langen Leinen frischer Wäsche, die im Wind flattern. In diesem Viertel wirkt die Metropole Shanghai, die mit rund 23 Millionen Einwohnern eine der größten Städte der Welt ist, beinahe dörflich.
Ein paar Kilometer weiter, in der Nanjing Road, sind Tausende Menschen unterwegs. Rechts und links der Fußgängerzone blinken Leuchtreklamen. Starbucks- und McDonalds-Filialen reihen sich neben Kleidungsgeschäfte wie Gucci und Lancôme. Am Ende der Fußgängerzone überquere ich mit Dutzenden anderer Passanten die Straße. Fast alle haben dasselbe Ziel wie ich: The Bund.
Die Uferpromenade ist für ihre historischen Kolonialbauten bekannt. Viel beeindruckender finde ich jedoch den Blick auf die gegenüberliegende Seite des Huangpu-Flusses, auf die futuristischen Hochhäuser des Stadtteils Pudong, die im Abendlicht blassrosa glänzen. Es dauert eine Weile, bis ich ein Foto von der Skyline machen kann. Ganz vorne, am Geländer, wird selten ein Platz frei.
Tags darauf erkunden wir Suzhou. Wir schauen uns den „Garten des bescheidenen Beamten“ an, der zusammen mit acht weiteren klassischen Gärten der Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Danach spazieren wir am Kanal entlang durch die Pingjiang Road, die mit rund 800 Jahren als eine der ältesten Straßen Suzhous gilt.
Heute säumen kleine Läden, Cafés und Restaurants die Straße. Wir kaufen uns eine Waffel, setzen uns auf eine der steinernen Bänke am Wasser und schauen den Gondeln nach, die langsam an uns vorbeiziehen. Wegen der vielen Kanäle, die Suzhou durchlaufen, wird die Stadt auch „Venedig des Ostens“ genannt.
Hier, in der Altstadt, ist es für uns kaum vorstellbar, dass Suzhou zu den sogenannten Boom-Städten Chinas gehört. Aufgrund ihrer guten Transportverbindungen und ihrer Stellung als Sonderwirtschaftszone hat sich die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Zentrum der Hightech-Industrie entwickelt. Apple, Samsung und Logitech produzieren in Suzhou. In neueren Stadtvierteln wie dem New District oder dem Industrial Park werden ständig neue Wolkenkratzer und Wohnblöcke gebaut.
Trotzdem seien die Wohnungen sehr teuer, sagt Frank, der eigentlich Chén Háo heißt. 20.000 Yuán, rund 2600 Euro, koste der Quadratmeter, wenn man eine Wohnung kaufe. „Wenn man nicht verheiratet ist, ist es schwierig, sich eine eigene Wohnung zu leisten“, sagt Frank. Ein Zimmer seiner Drei-Zimmer-Wohnung vermietet er deshalb über Airbnb. Solange, bis er eine Freundin gefunden hat, die bei ihm einzieht. Vielleicht sollte Frank sie auch einmal ausprobieren, die Shanghaier Regenschirm-Romantik.
Liebe Melanie, lieber Alex
Euern Bericht zu Shanghai habe ich heute mit dem Wissen helesen, dass ich ab 31. Mai auf euren Spuren wandeln werde.
Liebe Grüße Ursula
Wie schön! Ganz viel Spaß dir, genieße die Abendstimmung am Fluss und das leckere Essen 🙂
Viele liebe Grüße, Melanie & Alex