Meine Mutter hat sich kein bisschen verändert. 17 Monate haben wir uns nicht gesehen. Jetzt halten wir uns im Flughafen von Auckland in den Armen. Hinter dem Trennband, das den Wartebereich vom Durchgang zu dem Raum mit den Gepäckbändern abgrenzt. Dort, wo man eigentlich nicht stehen darf. Egal. In dem Moment, als die Schiebetür aufgeht und meine Mama mit ihrem Koffer herauskommt, muss ich einfach zu ihr rennen, sie umarmen.
Meine Schwester Petra filmt die Szene mit dem Smartphone, sie steht mit ihrem Koffer neben Alex. Fast drei Wochen lang werden wir zu viert durch Neuseeland reisen, die schönsten Orte der Nord- und der Südinsel erkunden. Von Christchurch werden die beiden zurück nach Deutschland fliegen.
Aber jetzt geht es erst einmal mit dem Gepäck aus der Wartehalle. Alex und ich haben unser Auto Diggitwo auf dem Parkplatz neben dem Flughafen geparkt. Zu Fuß sind es dorthin nur wenige Minuten. Petra, Mama und ich reden aufgeregt durcheinander, Alex schiebt Mamas Koffer und versucht, mit dem Gewusel und der Lautstärke klarzukommen.
Am Kofferraum spiele ich Tetris mit dem Gepäck: zwei Koffer, zwei große Rucksäcke, vier kleine Rücksäcke, eine Plastikbox voll Lebensmittel. Am Ende bleibt ein Viereck frei, durch das ich den Rückspiegel nutzen kann.
Die Fahrt zu unserer Ferienwohnung in Aucklands angesagtem Viertel Ponsonby wird zur ersten Belastungsprobe. Petra und Alex sitzen auf dem Rücksitz. Beide schauen auf ihr Handy, auf die App, die uns zu unserem vorübergehenden Zuhause lotsen soll. Mama, links neben mir, schaut auf die Schilder. „Da lang!“, ruft sie. „Da steht Auckland!“ „Mama“, tönt es von hinten, „wir müssen jetzt erst einmal auf der Straße bleiben.“ Es dauert ein paar Tage, bis wir uns aufeinander einstellen.
Die Ferienwohnung ist nett. Zweckmäßig, aber sauber und mit allem Nötigen ausgerüstet. Mama und Petra beziehen das Schlafzimmer, ich koche Kaffee. Der darf in unserer Familie nicht fehlen. Gilmore-Girls-Style, nur mit Milch für Petra und mich. Mama trinkt schwarz, Alex Schwarztee.
Mama ist müde. Der Jetlag und ein falsches Essen während des Zwischenaufenthalts in Singapur zeigen ihre Wirkung. Wir schaffen noch einen kurzen Spaziergang durch Ponsonby, vorbei an weißen Kolonialhäusern, Restaurants und Kunstgalerien. Zuhause schläft sie auf dem Sofa ein.
Petra, Alex und ich daddeln und unterhalten uns neben ihr auf dem Wohnzimmerboden. Ab und zu schaue ich zu ihr, beobachte sie beim Schlafen. Meine Mama – Marina, 59 Jahre alt – ist klein. Sie hat kurze, schwarze Haare und braune Augen. Im Schlaf sieht sie entspannt und friedlich aus. Nichts deutet darauf hin, wie energisch sie tagsüber ist.
Tags darauf verlassen wir die Wohnung nach einem späten Frühstück. Zu Fuß spazieren wir zum Fischmarkt an der Promenade. Obwohl alle noch satt sind, bestellen wir Fish’n’Chips und Pommes. Anschließend schlendern wir durch den Hafen und die Innenstadt Aucklands, gucken die Auslagen der Souvenirläden an und essen Eis. Die stetige Kalorienzufuhr verhindert, dass eine hangry wird.
Mit dem Fahrstuhl fahren wir zur Aussichtsplattform des Sky Towers, mit 328 Metern das höchste Gebäude Aucklands. Von der 51. Etage haben wir einen hervorragenden Blick auf den Jachthafen, die Hochhäuser der Innenstadt und die grünen Vulkankegel zwischen den Häusern. Popmusik plärrt aus den Lautsprechern. Mama tanzt lachend über den Glasboden nahe den Fenstern, unter ihr geht es 186 Meter in die Tiefe.
Abends kochen wir und packen, am folgenden Tag geht die Reise bereits weiter. Unsere Route ist eng getaktet, länger als zwei Nächte bleiben wir an keinem Ort. Auf dem Weg nach Rotorua halten wir am Fuß des Mount Eden (Māori: Maungawhau), einem von insgesamt 53 ruhenden Vulkanen Aucklands. In seinem 196 Meter hohen Gipfel befindet sich ein 50 Meter tiefer, grasbewachsener Krater. Sein letzter Ausbruch ist 28.000 Jahre her.
Als wir den Gipfel erreichen, fängt es an zu nieseln. Auf dem Rückweg zum Parkplatz ist der Regen so stark, dass ich hinunterrenne. Ein Glück, dass ich den Autoschlüssel habe. In Diggitwo warte ich auf meine Mitreisenden. Der Regen prasselt aufs Autodach, mein Atem lässt die Fenster beschlagen.
Etwa 230 Kilometer sind es von Ponsonby nach Rotorua, wenig mehr mit unseren Zwischenzielen. In Hamilton, knapp 130 Kilometer südlich von Auckland, besuchen wir die Hamilton Gardens, eine Parkanlage mit Themengärten. Die 54 Hektar große Gartenlandschaft umfasst unter anderem einen japanischen Steingarten, einen italienischen Renaissance-Garten, einen indischen Char-Bagh-Garten und einen Gemüsegarten, in dem Lauch, Salat, Kohl und Bohnen wachsen.
45 Kilometer entfernt befindet sich Hobbingen, die Heimat von Frodo, Samweis, Merry und Pippin. Um 15.30 Uhr nehmen wir an einer Tour durch den Herr-der-Ringe-Drehort teil. Unsere Führerin Katie ist ein Tolkien-Nerd; die Einzige außer mir in der Gruppe, die neben der HdR-Trilogie auch Der Hobbit und Das Silmarillion gelesen hat.
Durchschnittlich 3000 Besucher und Besucherinnen besichtigen das neuseeländische Auenland pro Tag, sagt Katie, „deshalb möchte ich Sie darum bitten, auf den Wegen zu bleiben.“ Wir folgen ihr auf dem Pfad, der sich entlang der bunt angestrichenen Eingänge der Hobbit-Behausungen windet. Die Sonne scheint, den Regen haben wir in Auckland hinter uns gelassen. Ich fühle mich wirklich wie im Auenland: Aus den Kaminen der Höhlen steigt Rauch, an den Wäscheleinen hängt Kleidung.
Eigentlich, sagt Katie, sollte Hobbingen gar nicht mehr existieren. „Nachdem die Dreharbeiten zur HdR-Trilogie im März 2000 abgeschlossen waren, sollten alle 37 Höhlen abgerissen werden.“ Darauf hatten sich Regisseur Peter Jackson und die Familie Alexander, der das Gelände gehört, geeinigt. Planierraupen waren angerückt und hatten schon 20 Hobbit-Wohnungen dem Erdboden gleichgemacht. Dann kam der Regen. Ein heftiger, wochenlanger Regen, der die Böden aufweichte und die Weidelandschaft, auf der einst über 13.500 Schafe grasten, in einen schlammigen Morast verwandelte. Die Abrissarbeiten wurden eingestellt, 17 Hobbit-Behausungen blieben bestehen.
Heute ist Hobbingen, auf englisch Hobbiton, die einzige erhaltene Kulisse aus Der Herr der Ringe und das größte begehbare Filmset der Welt. Für die nachfolgende Filmreihe Der Hobbit wurde das fiktive Dorf 2011 wiederaufgebaut – aber nicht aus Styropor und Fiberglas wie 1999, sondern aus echtem Holz und Stein. Nur die Hobbits fehlen.
Dafür bekommen die Besucher im Green Dragon, der Gaststätte des Mini-Dorfs, ein alkoholfreies Ingwerbier oder einen Kaffee. Mama holt sich beides. „Das war kein Problem, das haben die mir gleich gegeben“, sagt sie. Auf Schwäbisch. Petra, Alex und ich lachen. Typisch Mama.
Am frühen Abend erreichen wir unser vorübergehendes Heim in Rotorua. Eine Ferienwohnung am Rand der Stadt, in der auch Alex und ich ein eigenes Schlafzimmer haben. Ich koche Nudeln und wärme den Rest Auflauf vom Vortag auf. Nach dem Essen spielen wir Skip-Bo und Taki, eine Art israelisches Uno. Kartenspiele gehören von nun an zu unserer gemeinsamen Abendroutine, genauso wie das Anschauen aller neu geknipsten Fotos und das Erzählen unserer drei Tages-Highlights. „Schick‘ mir die Bilder!“, ruft Mama Petra zu. Sie kann es kaum abwarten, unsere gemeinsamen Erlebnisse in ihren WhatsApp-Status hochzuladen.